Die Geschichte des Kibbuz Lohamei HaGeta’ot und das dort ansässige Widerstandsmuseum

Das Haus der Ghettokämpfer

Lohamei HaGeta’ot ist ein 1949 von Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstandes aufgebauter Kibbuz in Nordisrael, zu dessen Gründern auch der stellvertretende Kommandant der Jüdischen Kampforganisation, Yitzhak Zuckerman, gehört. Im Kibbuz wurde 1949 das »Haus der Ghettokämpfer« eingerichtet, ein Museum, das sich mit dem Leben von Juden in Osteuropa vor, während und nach dem Holocaust beschäftigt und den jüdischen Widerstand würdigt.

Am sechsten Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto gründete eine Gruppe jüdischer Widerstandskämpfer und Partisanen den Kibbuz Lohamei HaGeta’ot im westlichen Galiläa. Der zu den Gründern zählende ehemalige Widerstandskämpfer Yitzhak Zuckerman erklärte beim ersten Spatenstich: »Wir sind hierher gekommen, um mit Leben erfüllte Häuser zu bauen.« Yitzhak Zuckerman gehörte der Pionierbewegung Dror an, die nach dem deutschen Überfall auf Polen in Warschau einen Kibbuz aufbaute und den Anordnungen der Deutschen trotzte. Die Pioniere von Dror betrieben eine Untergrundpresse, organisierten verbotene Semi­nare und gründeten in der Illegalität ein Gymnasium. Neben Wissen wurden auch jüdische Ideale und Traditionen vermittelt. Die Kurse fanden in den Privatwohnungen der Schüler und Lehrer unter schwierigen Bedingungen statt. Lernen bedeutete Widerstand, auf dem Lehrplan stand daher auch die Geschichte der Arbeiterbewegung und die ­Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung in Erez Israel.

Zu den Lehrern gehörte auch der bedeutende jüdische Dichter Yitzhak Katzenelson. In seinen Bibelstunden vermittelte er auch die Bedeutung der nationalen Unabhängigkeit. Den ­Unterricht bei Katzenelson beschreibt die Überlebende Havka Folman in ihrem Buch » Sie leben immer noch mit mir« als eine »unvergessliche ­Erfahrung«. Katzenelson führte durch die Sabbat-Zeremonie, trug Ge­dichte und Lieder vor. Als besonders beeindruckend beschreibt Folman in ihrer Biographie die Abende, an denen Katzenelson neue Gedichte vorstellte.

Eine der Schülerinnen von Katzenelson war Zivia Lubetkin, die später zu den Anführerinnen des Aufstands im Warschauer Ghetto gehörte. Die 1914 geborene Zivia Lubetkin, die nach den Worten der Historikerin Bella Guttermann als schüchtern und starrsinnig galt, war 1939 Delegierte beim 21. Zionistenkongress in Genf. Nach der deutschen und sowjetischen Besetzung Polens trat sie den Marsch nach Osten an, auf dem sie zahllose Ortschaften aufsuchte, um die versprengten Mitglieder der Bewegung zu treffen. Sie half beim Aufbau der illegalen Pionierbewegung Dror in der sowjetischen Zone und kehrte in deren Auftrag im ­Januar 1940 in das von Deutschen besetzte Warschau zurück. Sie verhandelte mit dem Joint Distribution Committee und dem Judenrat über Zuteilungen für die Dror-Kommune und war für die Außenkommuni­kation verantwortlich. Innerhalb der Bewegung entwickelte sie sich schnell zu einer der entscheidenden Personen.

Der jüdische Widerstand gegen die Nazis wurde für die Kibbuz-Bewegung zu einer wichtigen Motivation für den Kampf um den Staat Israel.

Im März 1942 erreichten Berichte von der Judenvernichtung in Chełmno das Ghetto. Zivia Lubetkin bezeugte dazu 1961 im Prozess ­gegen Adolf Eichmann. »Wir haben unsere kulturellen Aktivitäten ein­gestellt (…) und unsere ganze Arbeit war nun der aktiven Verteidigung gewidmet.«

Zivia Lubetkin war im Juli 1942 Mitgründerin der Jüdischen Kampforganisation (ZOB), die im Januar 1943 unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz den bewaffneten Widerstand gegen die Massendeportationen wagte. Stellvertretender Kommandeur war Zivias späterer Ehemann Yitzhak »Antek« Zuckerman.

Der Verlauf des Januar-Aufstandes hatte den Widerstandskämpfern Mut gemacht. Ihr System der verbundenen Dachböden funktionierte und sie blieben entgegen ihrer Erwartungen am Leben. Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto.

Das Kommando über die Aufständischen hatte Mordechai Anielevicz. Sein Stellvertreter Zuckerman befand sich als Verbindungsmann zum polnischen Widerstand auf der »arischen« Seite des Geländes.

Der jüdische Widerstand gegen die Nazis wurde für die Kibbuz-Bewegung zu einer wichtigen Motivation für den Kampf um den Staat Israel.

1961 trat Zivia Lubetkin im Eichmann-Prozess auf, sie war die einzige Zeugin, die während ihrer Aussage sitzen blieb. Über den Beginn des Aufstands sagte sie aus: »Es war merkwürdig, die etwas mehr als 20 jüdischen Jungen und Mädchen zu ­sehen, die diesem bewaffneten und mächtigen Feind gegenüberstanden und freudig und fröhlich waren. ­Warum waren sie freudig und fröhlich? Wir wussten, dass unser Ende gekommen war. Wir wussten vorher, dass sie uns besiegen würden, aber wir wussten auch, dass sie einen hohen Preis für unser Leben zahlen würden.«

Der Straßenkampf dauerte fünf Tage. Mordechai Anielevicz schrieb in seinem letzten Brief vom 23. April 1943 an Yitzhak Zuckerman: »Was wir durchgemacht haben, lässt sich ­unmöglich mit Worten ausdrücken. Wir sind uns darüber klar, dass das Geschehene unsere kühnsten Träume übertrifft. Die Deutschen waren zweimal genötigt, aus dem Ghetto zu flüchten.« Dann aber begannen die Deutschen das Ghetto abzubrennen. Es gab keine direkten Konfrontationen mehr und die Widerstandskämpfer und verbliebenen Bewohner des Ghettos mussten sich in den stickigen und heißen Bunkern verstecken. Am Tag vor ihrer Entdeckung durch die Deutschen beschloss das ZOB-Kommando, dass sich Lubetkin aufmachen solle, um eine Verbindung durch die Abwasserkanäle zur »arischen« Seite des Geländes zu finden. Als sie zurückkehrte, waren Anielewicz und seine Kameraden tot. Am 10. Mai 1943 führte Zivia Lubetkin die letzten Kämpfer zu den Fluchtwegen in der Kanalisation.

Im August 1944 nahmen die wenigen Überlebenden des Kampfs im Warschauer Ghetto am Warschauer Aufstand der Polen gegen die deutsche Besatzung teil.

 

Nach dem Krieg halfen Yitzhak Zukerman und Zivia Lubetkin im Dror-Zentrum in Lodz dabei, Überlebende ins britische Mandatsgebiet Palästina zu schleusen, bevor sie selbst auswanderten. Im Juni 1946 hielt ­Zivia Lubetkin eine Rede auf der Konferenz der Vereinten Kibbuz-Bewegung in Yagur. Einen ganzen Tag lang stand sie in einem riesigen Zelt und berichtete von »den Tagen der Zerstörung und der Revolte« (wie auch ihr Buch später heißen sollte). Unter den Zuhörern waren Yitzhak Sadeh und viele ehemalige Palmach-Kämpfer. Manche hörten zum ersten Mal vom jüdischen Widerstand gegen die ­Nazis, der für die Kibbuz-Bewegung zu einer wichtigen Motivation für den Kampf um den Staat Israel wurde. Zivia sagte einleitend zu ihren Ausführungen, dass sie während der Zeit, als sie von Zerstörung und Tod umgeben waren, nur mit dem Gedanken an die ferne Heimat und die Arbeiterbewegung in Erez Israel am Leben blieben. Auf Lubetkins Initiative ­bildete sich in Yagur eine Kerngruppe aus überlebenden Widerstandskämpfern und Partisanen, die die Gründung des Kibbuz vorantrieben.

Den Poeten Yitzhak Katzenelson hatten die Warschauer Ghettokämpfer Anfang April 1943 auf die »arische« Seite der Stadt geschleust und ihm honduranische Papiere für die geplante Flucht verschafft. Dann wurden er und sein ältester Sohn von den Deutschen aufgegriffen und ins Lager Vittel deportiert, wo sein später nach Palästina geschmuggeltes »Lied vom ermordeten jüdischen Volk« entstand, das zu den bedeutendsten literarischen Zeugnissen des Holocaust gehört. Es beschreibt in 15 Gesängen das Martyrium, die Trauer, den Protest und die Hilflosigkeit der Judenheit. Yitzhak Katzenelson und sein ältester Sohn wurden am 1. Mai 1944 in Auschwitz ermordet.

Zwei Fassungen seines Lieds ­be­finden sich heute im nach ihm benannten »Yitzhak Katzenelson ­Museum des Holocaust und Jüdischen Widerstands« im Kibbuz der Ghettokämpfer. Zu den Ausstellungsstücken gehören der Koffer, in dem das ­Gedicht von Katzenelson aus Vittel herausgeschmuggelt wurde, eine Sammlung mit künstlerischen Zeugnissen des jüdischen Lebens, die ­Miriam Novich in den zwei Jahren nach ihrer Befreiung aus Vittel überall in der Welt gesammelt hat, die Glaszelle, in der Eichmann bei seinem Prozess saß und ein Modell des Vernichtungslagers Treblinka, das von Yaakov Wiernik angefertigt wurde.
Der 1889 geborene Yaakov Wiernik war in Treblinka beim Sonderkommando und dann als Schreiner für den Bau von Wachtürmen und Gaskammern eingesetzt. Ihm gelang bei der Revolte in Treblinka die Flucht.

1995 wurde ein eigenes Kinder-Gedenkmuseum eingerichtet, das ­Tagebücher und Zeugnisse verfolgter jüdischer Kinder versammelt. Über die Geschichte dieses einzigartigen Museums erzählt die Überlebende und Gründerin des Zentrums für humanistische Bildung in Lohamei HaGeta’ot, Raya Kalisman, dass im Warschauer Ghetto ein Junge zu ­Zuckerman kam und ihn bat, ihm einen Geigenlehrer zu suchen. ­Zuckerman traf den Lehrer Jahre später wieder und ließ sich erklären, dass der Junge jeden Tag geübt habe und außerordentlich begabt gewesen sei und dass er deportiert und ermordet wurde. Die Frage, was aus dem Jungen und den vielen anderen hätte werden können, beschäftigte Yitzhak »Antek« Zuckerman so sehr, dass er die Idee zu einem Kinder-­Gedenkmuseum hatte.

Die Demokratieerziehung und der universelle Ansatz in der Erinnerungspädagogik des Museums sind eng mit dem Namen der 1924 ge­borenen Widerstandskämpferin Chavka Folman verbunden, die als Botin für die ZOB arbeitete. Chavka Folman begleitete später viele Gruppen junger Israelis bei deren Besuchen in Gedenkstätten nach Polen. Bei ihrem letzten Besuch in Auschwitz entdeckte sie zufällig ein Erkennungsfoto, von dessen Existenz sie nicht wusste.

Das Museum möchte seinen vorwiegend jungen Besuchen vermitteln, dass Menschen selbst dann noch in der Lage sind, sich für Gerechtigkeit einzusetzen und zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, wenn ihnen die Umstände vermeintlich keine Wahl mehr gelassen haben, erklärt Raya Kalismann.

Sinnbildliches Ausstellungsstück dafür ist im »Haus der Ghettokämpfer« eine Brotwaage oder vielmehr eine Brotkrümel-Waage. Sie wurde im Frauenlager von Auschwitz gefunden. Mit der Waage wurde das ­wenige Brot, das die Gefangenen bekamen, in gleiche Teile geteilt. Der Mensch, so Raya Kalismann, hat immer die Möglichkeit, sich menschlich oder unmenschlich zu verhalten. Während der eine Gaskammern zur Massenvernichtung errichtet, baut der andere eine Waage, um Brotkrümel unter Verhungernden gerecht zu verteilen.