Die Menschenrechtslage in den WM-Austragungsorten ist für die Fifa zweitrangig

Wenn der Ball erst rollt

Staaten, in denen Fußballweltmeisterschaften ausgerichtet werden, unterwerfen sich den dubiosen Regeln der Fifa. Bei den Großereig­nis­sen geht es vor allem um politischen und wirtschaftlichen Profit.

Einwände gegen die Austragung einer Fußballweltmeisterschaft in Russland gibt es zuhauf: Weil da Wladimir Putin regiert, hätte der Weltfußballverband Fifa sein teures Produkt nicht dorthin vergeben dürfen, heißt es. Oder: Weil es ein staatlich gelenktes Dopingsystem gibt, müssten russische Sportler ausgeschlossen werden und dürften auch nicht als Gastgeber agieren. Auch Hinweise auf unhaltbare Arbeitsbedingungen beim Stadionbau, die »Human Rights Watch« dokumentiert (siehe Seite 4) und die nur wenig besser sind als in Katar, wo 2022 der Fifa-Fußballzirkus Halt zu machen gedenkt, sind oft zu hören. Und würden nicht offensichtliche Repressalien, etwa die Verfolgung der politischen Opposition und die Kriminalisierung von Homosexuellen, durch die Austragung eines bunten und beliebten Sportfests legitimiert?

Nun findet die Fußball-WM 2018 in Russland statt, sie wird ein Welt­medien­event werden, das in sämtlichen Ländern dieser Erde Menschen vor die Fernseher lockt, und während die Spiele laufen, wird zwar die Kritik nicht verstummen (auch wenn das oft behauptet wird), aber die Weltöffentlichkeit (inklusive ihres linken und linksliberalen Flügels) wird sich für die Kritik nicht interessieren.

Als vor vier Jahren die WM in Brasilien ausgetragen wurde und soziale Proteste die störungsfreie Austragung gefährdeten, blieb die Fifa in Person ihres damaligen Präsidenten Sepp Blatter gelassen: »Wenn der Ball rollt, wird das aufhören.« Blatter hatte insofern recht, als sich nicht nur im fußballverrückten Europa, sondern überall auf der Welt kaum noch jemand für die Proteste, etwa in den von Abriss und Vertreibung bedrohten Favelas, interessierte. Dass die Proteste weitergingen, wusste nur, wer es wissen wollte.

Die WM 2014 verschaffte der Fifa einen Realerlös von 1,6 Milliarden Euro. Der Reinerlös betrug 3,3 Milliarden, aber die Kosten der Fifa, etwa die Auszahlung an Verbände, die Ausschüttung von Prämien und die Überweisung von Peanutbeträgen an soziale Projekte, müssen abgezogen werden. Der übliche Begriff »vor Steuer« hingegen fällt im Zusammenhang mit der Fifa und ihren Einnahmen nie. Zum einen wird der Fußballverband in der Schweiz, wo sie ihren Sitz hat, als steuerbefreite Non-profit-Organisation geführt. Zum anderen hat sie für sich und ihre Sponsoren in den Austragungsländern Steuerfreiheit und andere Privilegien durchgesetzt.

Dass die Fifa diese Vorteile für sich »ausgehandelt« habe, wäre eine zu euphemistische Umschreibung: Die Fifa ist, politökonomisch betrachtet, Monopolist. Sie diktiert potentiellen Ausrichterländern ihre Bedingungen. Bislang ist es noch niemandem gelungen, dieses Monopol aufzubrechen und eine dauerhafte Konkurrenz zum Fußballturnier der Nationen zu etablieren. Der einzig ernstzunehmende Konkurrent für den Weltfußballverband ist das Internationale Olympische Komitee.

Fifa gegen IOC heißt es, denn Fußball-WM und Olympische Sommerspiele sind seit mehr als einem Jahrhundert die alles dominierenden Weltsportereignisse, die inzwischen vor allem um Fernseheinnahmen konkurrieren. Entsprechend gehen sich beide nicht nur im Zweijahresabstand aus dem Weg. Beide haben auch einen – freilich gefährdeten – Burgfrieden geschlossen. Das IOC bietet zwar Fußballturniere an, akzeptiert aber beim Fußball als einziger Sportart, dass nicht die weltbesten Athleten teilnehmen, sondern etwa für Europa nur U-21-Mannschaften oder für Lateinamerika U-20-Teams. Das, was Nationalmannschaften (was man durchaus ideologiekritisch betrachten sollte) vorgeben zu sein, eine Auswahl der besten Sportler eines Staats, sind die Olympiateams der fußballerisch stärksten Kontinente definitiv nicht.

Solange es noch die Sowjetunion und ihr »sozialistisches Lager« gab, bezog sich der Burgfrieden zwischen IOC und Fifa darauf, dass bei den Olympischen Spielen auch im Fußball nur Amateure antreten durften. So lesen sich dann auch die Siegerlisten (1988 UdSSR, 1980 CSSR, 1976 DDR, 1972 Polen, 1964 und ’68 Ungarn), und so gering war auch das westliche Interesse am olympischen Fußballsport.

Mag eine ernstzunehmende Bedrohung für das milliardenschwere Produkt Fußball-WM, mit dem die Fifa fernab jeder politischen oder gesellschaftlichen Kontrolle Geld und Macht scheffelt, derzeit nicht existieren – tendenziell ist sie schon zu erwarten, denn dafür sind die Profiterwartungen, die der Fußballmarkt bietet, viel zu groß.

Die Gefahr für die Fifa geht von den Clubs aus, speziell von europäischen Spitzenclubs wie Real Madrid, Liverpool FC, Paris Saint-Germain, FC Bayern München, Juventus Turin, FC Barcelona und so weiter. Sehr lang ist die Liste nicht. Früher waren diese Clubs in einer Organisation mit dem Namen »G 14« organisiert – mit dem Vorstandsvorsitzenden der FC Bayern München AG, Karl-Heinz Rummenigge, an der Spitze. Mittlerweile heißt der Interessenverbund der Fußballkonzerne European Club Association, hat Rummenigge zum Ehrenvorsitzenden gemacht und bastelt weiter an einer europäischen Fußballliga, mit der er das Geld verdienen möchte, das bislang die Fifa und der europäische Verband Uefa mit ihren Welt- und Europameisterschaften machen.

 

Die Fifa und ihre Kontinentalverbände versuchen, diese Entwicklung zu unterlaufen. Erfolgreich wurden in beinahe allen Kontinenten Champions Leagues etabliert – mit der Folge, dass der beste Fußball mittlerweile nicht mehr von den national zusammengesetzten Auswahlteams bei WM und EM gespielt wird, sondern in der europäischen Champions League. Und die Fifa versucht – derzeit noch nicht allzu erfolgreich –, eine Club-WM zu installieren.

Die großen Clubs, fast alle in Europa ansässig, sind schon seit einigen Jahren dabei, neue Märkte für sich zu erschließen. China und Indien sind, schon ob ihrer Größe, am attraktivsten. Mit Fernsehrechten, Merchandising und der Vermarktung der Clubsignets ist ein Markt mit Umsätzen im dreistelligen Millionenbereich entstanden.

Sehr ähnlich agiert die Fifa auch, die sich Begriffe wie »FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Russland 2018«, »FIFA Fussball-Weltmeisterschaft«, »World Cup«, »RUSSIA 2018« oder »WM 2018« markenrechtlich hat schützen lassen. Entsprechend ging sie auch juristisch gegen Bäckereien vor, die »Weltmeister-« oder »World-Cup-Brötchen« im Angebot hatten. Auch beim »Public Viewing«, gleich ob sie vor großer Leinwand oder auf dem Trottoir vor einem Kiosk stattfinden, wird kassiert.

Interessant ist auch der Sponsorenschutz, den die Fifa garantiert. »Sie leisten einen wesentlichen finanziellen Beitrag und machen diese privat finanzierte Veranstaltung damit erst möglich«, sagt die Fifa über ihre Finanziers. »Als Gegenleistung ist den Fifa-Rechteinhabern eine Anbindung an den Wettbewerb garantiert, insbesondere über das Recht zur Nutzung der offiziellen Marken (das offizielle Emblem und das offizielle Maskottchen) bei ihren PR- und Werbeaktionen.« Das kann so weit gehen, dass andere Bierwerbung als die für den Fifa-WM-Sponsor Budweiser verhüllt werden muss – auch auf öffentlichen Plätzen.

Dass ein Monopolist wie die Fifa so agiert, irritiert nicht. Sie tut es, weil sie es kann. Die Frage lautet: Warum lassen Nationalstaaten so mit sich umspringen? Warum garantieren Staaten wie Deutschland (2006), Südafrika (2010), Brasilien (2014) und Russland (2018), die sich hinsichtlich politischer Verfasstheit, ökonomischer Stärke und weltpolitischen Standings deutlich unterscheiden, einem dubiosen Akteur wie der Fifa so weitgehende Privilegien?

Der Vorteil, den eine Fußball-WM (Ähnliches gilt für Olympische Spiele) für einen Staat und eine Nationalökonomie bieten, dürfte größer sein, als üblicherweise vermutet wird. Das beginnt beim Imagegewinn, der, wie man spätestens seit dem »Sommermärchen« 2006 weiß, enorm hoch sein kann. Das hat innenpolitische und gesellschaftliche Auswirkungen, was die Modernisierung von Nationalismus angeht: Schwarz-Rot-Gold gilt seither nicht mehr als Erkennungszeichen rechten Denkens, sondern avancierte zum Accessoire hedonistischen Partyvolks. Zudem sind Gentrifizierungsprozesse und gesteuerte Stadtentwicklungsmaßnahmen leichter zu begründen und durchzusetzen, wenn sie einer populären Sache wie dem Fußball zu dienen scheinen. Proteste gegen die Verdrängung aus Stadtvierteln lassen sich beispielsweise mit dem Versprechen schwächen, dass alles einem tollen Event diene. Solche Großereignisse werden auch stets mit der Schaffung von Arbeitsplätzen begründet, und temporäre prekäre Arbeitsverhältnisse, etwa im Dienstleistungsbereich, sind die Folge.

Diese Skizze der politischen Vorteile muss unvollständig bleiben, denn diese sind bei den verschiedenen Staaten auch unterschiedlich: Ist eine Modernisierung des deutschen Nationalismus ein Ergebnis der WM 2006, so sind die Effekte der WM in Südafrika und Brasilien keineswegs so klar zu beschreiben. In Brasilien gehörte die Arbeiterpartei der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff und ihres Vorgänger Luiz Lula da Silva definitiv nicht zu den politischen Profiteuren der WM.

Nun also Russland und Wladimir Putin. Die eingangs erwähnten Einwände gegen eine Sportveranstaltung von diesem gigantischen Ausmaß sind nicht falsch. Die immer wieder zu hörenden Appelle an den Weltverband Fifa, er möge doch in einem sympathischen Sinne auf die politischen Akteure einwirken oder sie bestrafen, haben aber mit der Realität des Weltsports nichts zu tun. Das hieße ja, den Bock zum Trainer zu machen.