Eine Kritik am Aufschwung postsäkularer Theorien

Der Kollaps der Postmoderne

Warum Rationalität und Irrationalität in ihrem dialektischen Verhältnis verstanden werden müssen und wieso die »postsäkulare Theorie« dies tunlichst vermeidet.

Seit ungefähr zehn Jahren reüssiert ein postmoderner Extremismus, der die poststrukturalistische Theoriebildung über ihre eigenen Grenzen hinaustreibt und so mit poststrukturalistischen Mitteln der Theorie die letzten kritischen Residuen austreibt, die Konzeptionen von Jacques Der­rida über Jacques Lacan und Michel Foucault bis hin zur frühen queer theory einer Eve Kosofsky Sedgwick eigneten.

Der post-postmoderne Extremismus tritt mit der Autorität einer Avantgarde auf. Dabei sind derzeit drei größere Strömungen auszu­machen: Der Posthumanismus changiert zwischen dem Angriff auf den Humanismus und der Behauptung eines Endes der Menschheit, wie sie jetzt ist; der Neomaterialismus (der mit dem Marx’schen Materialismus nichts zu tun hat) changiert zwischen der Verneinung eines epistemologischen Sonderstatus des Menschen und der Behauptung, Dinge könnten handeln; postsäkulare Theorien schließlich changieren zwischen der Verneinung einer strukturellen und qualitativen Differenz zwischen wissenschaftlicher Theorie und religiöser Tradition und der Affirmation der Irrationalität. In allen drei extremis­tischen Strömungen hat das Changieren Methode: Begründet ist es durch die mit Vorsatz erzeugte epistemologische Haltlosigkeit; durch sie zielt man auf die Immunisierung der Theo­rie gegen Kritik an ihr.

Deutlicher noch als in der Technik­affirmation des Posthumanismus und im Fetischismus des Dings beim Neomaterialismus tritt bei den postsäkularen Theorien zutage, dass der Kollaps der Postmoderne einen wirkmächtigen Neoarchaismus freisetzt. Selbstredend ist das Erste, was Theoretiker des Postsäkularismus tun, darauf hinzuweisen, dass es den einen postsäkularen Theorieansatz nicht gebe. Eine solche Vorsichtsmaßnahme zeugt, wie Sama Maani in Hinblick auf »islamophobiekritische« Diskurse dargelegt hat, von der Verweigerung der Anstrengung des Begriffs. Diese Verweigerung der Begriffsarbeit schlägt sich in Grundlagentexte postsäkularer Theorie wie Rosi Braidottis Beitrag »In Spite of the Times: The Postsecular Turn in Feminism« von 2008 unmittelbar nieder. Braidotti, eine der maßgeblichen Protagonistinnen postsäkularer Theorie, verweigert die Klärung, ob »postsäkular« eine aktuelle soziopolitische Situation sei oder ob die Theorien »postsäkular« seien, die sich mit der aktuellen Situation beschäftigen. Diese Frage lässt sich mit begriffsloser Theorie auch gar nicht mehr klären, ihre Adepten scheint solche Unterscheidung eh nicht zu kümmern.

Denn im Kern der Epistemologie des post-poststrukturalistischen Extremismus steht eine gewichtige Setzung, die sich bis in die Gründungstexte des Poststrukturalismus zurückverfolgen lässt: Der Unterschied zwischen der Theorie und ihrem Gegenstand wird nicht nur der Tendenz nach abgetragen (Poststrukturalismus), sondern nun vielmehr als aufgehoben erklärt. Ein Beispiel: Wenn Braidotti das Schlagwort von einer »Rückkehr der Religion« aufgreift, biegt sie es umgehend in eine »Rückkehr Gottes« um, und zwar in der Welt als auch in der Theorie.

Erst von einem ideologiekritischen Standpunkt aus, der auf Distanz zu seinem Gegenstand geht – nicht ohne auf diesen Umstand zu reflektieren –, wird deutlich, um was es sich bei der Theoriebildung des postmodernen Extremismus im Allgemeinen und derjenigen der postsäkularen ­Theorie im Besonderen handelt: um die ideologische Begleitmusik zu dem, was sowieso schon da ist.
Im Kern der postsäkularen Argumentation steht der Terminus »Handlungsfähigkeit«, der an die Konzepte des Empowerment erinnert.

Deutlicher noch als in der Technikaffirmation des Posthumanismus und im Fetischismus des Dings beim Neomaterialismus tritt bei den postsäkularen Theorien zutage, dass der Kollaps der Postmoderne einen wirkmächtigen Neoarchaismus freisetzt.

Deutschsprachige Vertreter benutzen in der Regel das englische Wort agency: angeblich, weil es im Englischen mehr oder anderes bedeute als das deutsche Wort; tatsächlich, um die Banalität der Aussagen zu verschleiern, die sich mit ihm verbinden.
Die postsäkulare Theorie hat eine bahnbrechende Neuentdeckung ­gemacht. Diese Neuentdeckung macht das zentrale Argument von Braidottis Aufsatz von 2008 aus, spielt in dem Buch »Is Critique Secular?« aus dem darauffolgenden Jahr von Talal Asad, Wendy Brown, Judith Butler und Saba Mahmood durch­gehend eine zentrale Rolle und wird von deutschsprachigen Vertretern als eine wichtige neue Erkenntnis angepriesen: Durch »spirituelle Praktiken«, so die Entdeckung, könne agency entstehen, und zwar auch und besonders für Subalterne. Der Jargon lenkt hier von Offensichtlichem ab: Dass Religion agency verleihen kann, weiß jede Bürgerin Iraks oder Afghanistans, die in Furcht vor der Handlungsfähigkeit der ­Jihadisten lebt. Auch dass sich deklassierte Menschen oft auf religiösem Wege Luft verschaffen, ist eine so bekannte wie banale Tatsache. Man muss gar nicht zu den Geschichten von den Underdogs aus deutschen Vorstädten greifen, die diejenige agency kennenlernen, die in der salafistischen Vergemeinschaftung erzeugt wird, um diese dann in Syrien auszuleben. Jedes mittelalterliche ­Judenpogrom der deutschen Nationalgeschichte illustriert, zu welchem Maß an agency eine Horde aufgehetzter unterprivilegierter Christen ­fähig ist.
Dass die Erkenntnis von der agency und den »spirituellen Praktiken« als Neuentdeckung ausgegeben werden kann, geht auf einen trivialisierten Bezug auf Marx zurück. Das Schlagwort vom »Opium des Volkes« wird aufgegriffen, ohne seinen Kontext zur Kenntnis zu nehmen. In der Folge missversteht etwa Braidotti – ganz im Einklang mit einem großen Teil der sich auf Marx berufenden politischen Linken gestern und heute – die Marx’sche Religionskritik dahingehend, sie behaupte, Religion sei ein einschläferndes Mittel, das die Herrschenden gegen die Beherrschten einsetzten. In Marx’ »Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie« heißt es jedoch: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« Der Satz vom Opium ist eingebettet in eine Argumentation, die Religion nicht als bloße unwahre, kontrafaktische oder lügenhafte Behauptung begreift, sondern in ihr vielmehr »die all­gemeine Theorie dieser Welt«, »ihre Logik in populärer Form« (Marx) ­erkennt. Und diese allgemeine Theorie schließt selbstverständlich den Aspekt des konformistischen Aufbegehrens ein, das seine klassische Form im religiösen Pogrom findet.
Dass die postsäkulare Theorie ein Mehr an agency unbesehen als ­erstrebenswert empfindet, steht im Zusammenhang mit dem Abschied vom Begriff der Emanzipation, der im Kern bei Foucault angelegt ist, den aber Judith Butler 1990 in »Das Unbehagen der Geschlechter« expliziert und radikalisiert hat. Da die Subjektivität der Unterdrückten (in Butlers Kontext: der Frau) aus der Unterdrückungssituation hervorgehe, stehe eine Befreiung aus der Unterdrückung in Gefahr, eine Subjektkonfiguration zu erzeugen, die auf die Unterdrückungssituation bezogen bleibe. So erscheint Emanzipation theoretisch unmöglich, und folgerichtig hat schon der Großteil der queeren Theorie den Begriff der Emanzipation selbst als »männlich«, »heterosexuell«, »weiß«, »westlich« und nun eben auch »säkular« gebrandmarkt und verabschiedet. Dass der Begriff der Emanzipation vor ­allem (keineswegs ausschließlich) in patriarchalen, heteronormativen, europäischen Verhältnissen ausgebildet wurde und durch diese von vornherein deformiert war, steht außer Frage, ist aber ein Widerspruch, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt. Der Begriff Emanzipation ist durch seine Entstehungsgeschichte keinesfalls obsolet geworden. Es gilt vielmehr, seinen universellen ­Anspruch einzuholen, worauf etwa Hans Mayer in seinem Buch ­»Außenseiter« mit Nachdruck pochte.
Wer keinen Begriff von Emanzi­pation mehr haben will, der hat auch keinen Maßstab der Kritik mehr. Dem entgeht dann auch, dass der Nachweis einer geopolitischen, ­rassistischen, frauen- oder homo­sexuellenfeindlichen diskursiven Codierung der Unterscheidung zwischen Rationalität und Irrationalität keineswegs gegen diese Unterscheidung selbst spricht.
Während wissenschaftlichem Wissen zwar selbstverständlich kein ­unbedingter Wahrheitsgehalt zugesprochen werden kann, gibt es doch einen bedeutenden Unterschied im Modus der Produktion von Wissen unter rationalen und unter religiösen Bedingungen. Rationales Wissen ­entsteht in eristischen Verhandlungen, durch Kritik und Widerlegung; religiöses Wissen sedimentiert sich in der Tradierung. Wo religiöse Kul­turen eristisch werden, sind sie auf dem Weg in die Säkularisierung.
Offensichtlich ohne Kenntnis der Aufklärungskritik der kritischen Theorie spricht die postsäkulare Theorie von einer »binären« Entgegensetzung von Ratio und Irrationalität. Diese Vorstellung einer disjunktiven Unterscheidung lässt sich nur als eine späte Kümmerform der struktura­listischen Erkenntnis lesen, dass Bedeutung in der Differenz erzeugt wird. Wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« ausführen, sind Ratio und Irrationalität dialektisch auf­einander bezogen und schlagen beständig ineinander um. Die Behauptung einer Binarität und die damit einhergehende Denunziation der ­Ratio als »westlich« öffnet der religiösen und »spirituellen« Irrationalität in sämtlichen Spielarten Tür und Tor. In der queeren Szene etwa macht sich das derzeit bemerkbar in Hengameh Yaghoobifarahs Behauptung, »queere Spiritualität« sei ein »radi­kaler Akt«, oder in der zehnteiligen Vorlesung »Queer-feministisches ­Leben & Futurität« im Schwulen Museum Berlin, aber auch in der Annahme, bei dem Denken Kübra Gümüşays oder Lana Sirris handele es sich um »islamischen Feminismus« und nicht um eine Kümmerform von Feminismus trotz Islam.
Wer den Zusammenhang zwischen der Irrationalität der Religion und dem gewalttätigen Exzess des religiösen Furors gegen Frauen, Juden und Homosexuelle nicht erkennen will, der betreibt keine postmoderne Revision der Moderne mehr, sondern wendet sich offensiv gegen die Moderne, was eine Wendung gegen die Emanzipation der Außenseiter impliziert; der befindet sich auf der Seite einer neoarchaischen Antimoderne.