Monika Schwarz-Friesel, Kognitionswissenschaftlerin, im Gespräch über Antisemtismus im Internet

»Verbale Gewalt ist hochgefährlich«

Interview Von Till Schmidt

Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin an der TU Berlin. Von 2014 bis 2018 war sie Leiterin des DFG-Forschungsprojekts »Antisemitismen im World Wide Web«. Im Juli stellte sie die Langzeitstudie »Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses« vor.

In Ihrer Studie »Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses« ­bezeichnen Sie die Judenfeindschaft als »kulturelle Konstante und kollektiven Gefühlswert im digitalen Zeitalter«. Was meinen Sie damit?
Judenfeindschaft ist ein Jahrhunderte altes kulturhistorisches Phänomen und daher nicht bloß ein sozialpsychologisches Vorurteilssystem. Der uralte Judenhass spielt bei allen modernen Manifestationen des Antisemitismus eine herausragende Rolle – trotz aller Aufklärungsbemühungen nach dem Holocaust. In unserer Studie sind wir den Fragen nachgegangen, wie anti­semitische Inhalte über das Netz verbreitet werden, welche Typen von ­Antisemitismus dabei dominant sind und inwieweit alte judeophobe Stereotype im 21. Jahrhundert modern artikuliert auftreten – insbesondere in der Form des Antiisraelismus.

Das Internet ist heute der primäre Multiplikator und Tradierungsort von Antisemitismus. Als integraler Bestandteil der Netzkultur ist er ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und wird von Rechten, Linken und Personen aus der Mitte der Gesellschaft artikuliert. Die Entwicklung in der virtuellen Welt ­korreliert in der realen Welt mit judenfeindlichen Übergriffen und Attacken, Drohungen und Beleidigungen sowie Furcht und Sorge in den jüdischen ­Gemeinden in Deutschland und Europa. Verbale Gewalt ist hochgefährlich: Sie schlägt oft in physische Gewalt um.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Antisemitische Äußerungen haben in unserem Zehnjahresvergleich signifikant zugenommen. Mit 7,5 Prozent im Jahr 2007 und 30,1 Prozent im Jahr 2017 hat sich der Anteil antisemitischer Äußerungen in den Kommentarspalten von Online-Qualitätsmedien vervierfacht, wenn über Themen wie ­NS-Vergangenheit oder Besuche deutscher Politiker in Israel berichtet ­wurde. Gleichzeitig ist eine semantische und argumentative Radikalisierung festzustellen. Die Tabuisierungsschwelle für die Artikulation auch expliziter und drastischer Antisemitismen ist gesunken. Seit 2009 haben sich NS-Vergleiche, Gewaltphantasien und drastische, dämonisierende und dehumanisierende Pejorativlexeme wie »Pest«, »Unrat« oder »Krebs« verdoppelt. Das Sagbarkeitsfeld für Antisemitismen hat sich im Internet exorbitant vergrößert.

Woran liegt das?
An den spezifischen Kommunikationsstrukturen und -prozessen des Internets. Die Radikalisierung ist aber nicht allein auf die Anonymität im Web ­zurückzuführen, wo User eine große Community finden, die Antisemitismen bestätigen und judenfeindliche Einstellungen reaktiv unterstützen. Zwar sind Filterblasen und Echokammern im Internet mitverantwortlich für die Konsolidierung und Normalisierung von Antisemitismen, doch haben viele Schreiberinnen und Schreiber von Hass-E-Mails an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin, die wir ebenfalls untersucht haben, diese unter Klarnamen und mit Anschrift verschickt. Insgesamt treten Antisemiten in der virtuellen und in der realen Welt wesentlich selbstbewusster auf als vor zehn Jahren – vor allem, weil dem israelbezogenen Judenhass in der Gesellschaft zu wenig entgegengesetzt wird.

»In der virtuellen und in der realen Welt treten Antisemiten selbstbewusster auf als vor zehn Jahren, weil dem israel­bezogenen Judenhass in der Gesellschaft zu wenig entgegen­gesetzt wird.«

Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Mittels eines eigens entwickelten Computerprogramms haben wir aus über 66 000 Websites 265 500 Online-Kommentare in Kommentarspalten von Qualitätsmedien untersucht. Dieses Basiskorpus wurde zusätzlich jedes Jahr manuell ergänzt durch weitere Web-Korpora sowie durch umfangreiche Stichprobenanalysen in allen relevanten sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Youtube und in Ratgeberportalen und Diskussionsforen zu Themen wie Judentum in Deutschland, Nahostkonflikt, Erinnerungskultur oder Solidaritätsaktionen. Dazu kommt das Vergleichskorpus von 20 000 E-Mails an die Israelische Botschaft in Berlin und den Zentralrat von 2002 bis 2018.

Welche Muster haben Sie in ihrer Datenanalyse identifizieren können?
Die Sprachgebrauchsmuster der historischen und zeitgenössischen Judenfeindschaft ähneln sich sowohl in ihrer Semantik als auch in ihrer Form sehr stark. Eine Datensammlung von 800 historischen Texten mit typischen judenfeindlichen Stereotypkodierungen und Argumenten diente uns hier als Vergleichskorpus. »Der ewige Jude« und »Juden sind das Übel der Welt« sind als Basissemantik stets erkennbar – auch wenn sie je nach politischer oder ideologischer Ausrichtung der Verfasser geringfügig, etwa durch ein spezifisches Vokabular, überformt werden. Juden werden als »Fremde«, »Verschwörer«, »Kindermörder«, »Landräuber«, »Zersetzer« imaginiert, und ihnen wird vorgeworfen, sie seien »selbst schuld am Antisemitismus«. Diese bis in die Detailstruktur der Texte hinein feststellbare Äquivalenz belegt den Einfluss der im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Muster, die auch integraler Teil der Netzkultur sind.

Welche Rolle spielt der israelbezogene Antisemitismus in den untersuchten Texten?
Er ist eine besonders dominante Form des Antisemitismus im Internet und findet sich in allen Kommunikationsbereichen – selbst dann, wenn es gar keinen thematischen Bezug zu Israel oder Nahost gibt. Der israelbezogene Antisemitismus weist zugleich alle Merkmale der klassischen Judenfeindschaft auf: also Derealisierung und Diffamierung durch Abgrenzung, Stereotypfixierung und Entwertung. Der kulturelle Gefühlswert des Judenhasses spiegelt sich klar erkennbar in den ­antiisraelischen Antisemitismen. Sie sind daher auch klar abgrenzbar von politisch kritischen Äußerungen. Es gibt keine Grauzone.

 

Auch den muslimischen Antisemitismus haben Sie untersucht. Was haben Sie herausgefunden?
Dass dieser besonders virulent ist. Grundlage ist hier ebenfalls der klassische Antisemitismus. ­Juden werden als »Unmenschen«, »gierige Macht­menschen«, »Mörder«, »Verschwörer« und »Blutkultpraktizierer« imaginiert. Ihnen wird unterstellt, sie erzeugten den Antisemitismus durch ihr Verhalten. Das wird dann kombiniert mit israelbezogenen Stereo­typen wie »Unrechts- und Unterdrückerstaat« oder »Teufels- und Terrorstaat«, NS-Vergleichen, ­dämonisierenden Metaphern oder Vernichtungswünschen. »In shaa Allah kommt irgendwann der Tag, ­indem Israel komplett ausradiert wird. Drecks­land« (Rechtschreibung wie im Original), heißt es etwa in einem Kommentar. Auffällig sind dabei die vielen religiösen Verweise.

Was halten Sie von der Debatte über muslimischen Antisemitismus?
Die Debatte muss offener und vor allem rationaler geführt werden. Ohne überzogene politische Korrektheit muss der muslimische Antisemitismus unzweideutig kritisiert und bekämpft werden. Den aktuellen Judenhass als von Flüchtlingen »importiert« zu deklarieren, relativiert zum einen den Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft und blendet zum anderen aus, dass wir seit langem ein weltweites Problem mit islamischem Antisemitismus ­haben. Dass nun viele der Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind, aus Ländern stammen, in denen Israelhass Staatsdoktrin ist, intensiviert ­natürlich das Problem. Hier benötigen wir aber noch detaillierte Langzeit­studien. Als empirisch falsch erweist sich durch unsere Studie jedenfalls schon die vielzitierte Aussage, der Nahostkonflikt sei die primäre ­Ursache für muslimischen Antisemitismus. De facto basiert dieser Hass genauso auf den klassischen judeophoben Zerrbildern wie alle anderen ­Varianten der ­Judenfeindschaft.

Ein Schwerpunkt Ihrer Studie liegt auf den emotionalen Dimensionen von Antisemitismus.
Ja, denn Antisemitismus ist untrennbar an Gefühle gekoppelt. Mit einem Mittelwert von 70,3 Prozent ist Hass die in unserer Studie am häufigsten kodierte Emotion. Dabei haben wir zwischen affektivem und rationalem Hass unterschieden. Tendenziell artikulieren rechtsextreme und islamische Antisemitinnen und Antisemiten ihren Hass affektiv. Linke und der »Mitte« zuzuordnende, vor allem gebildete User äußern sich pseudorational – und verbinden das mit Abwehr- und Umdeutungsstrategien.

Woran liegt das?
Am Post-Holocaust-Bewusstsein: Durch das Wissen um Auschwitz ist es für ­humanistisch eingestellte, gebildete Menschen quasi unmöglich, den alten Judenhass bewusst als mit dem Selbstkonzept kompatibel zuzulassen. Aufgrund des Legitimationsdrucks kommt es daher zu Projektions- und Umdeutungsprozessen. So kommentierte etwa ein User im FAZ-Blog: »Ich kann beim besten Willen keine Judenfeindschaft erkennen, fürchte allerdings, dass diese gebetsmühlenhaften Vorwürfe dazu führen könnten.« Diese als Diskurs­ritual habitualisierten Leugnungs- und Abwehrstrategien prägen maßgeblich alle Debatten. Das angebliche Kritiktabu ist dabei ein Phantasma. Denn außerhalb von antisemitischer Argumentation wird etwa die Behauptung, »jede Kritik an Israel wird mit Antisemitismus gleichgesetzt«, gar nicht vorgebracht. In der Antisemitismusforschung unterscheiden wir ja sehr klar und präzise zwischen kritischen Sprechakten und antiisraelischen Hassbekundungen.

Viele Jüdinnen und Juden verlassen Frankreich wegen des dortigen Antisemitismus. Halten Sie eine solche Entwicklung auch in Deutschland für möglich?
Seit zehn Jahren konstatieren wir in der empirischen Antisemitismusforschung die Zunahme und Radikalisierung von Antisemitismen. Trotzdem herrschen in der Gesellschaft Desinteresse, Mangel an Empathie oder Bagatellisierung vor. Von Politikern werden routinemäßig Floskeln wie »Wehret den Anfängen« und »Mit aller Härte entgegentreten« produziert – doch etwas tatsächlich Durchgreifendes wird nicht unternommen. Dabei sind wir längst über die Anfänge hinaus – und haben genügend Forschungsergebnisse, um aktiv zu werden. Doch die Mehrheit der Zivilgesellschaft bleibt still, anstatt endlich ein längst überfälliges und unübersehbares Zeichen gegen Judenhass zu ­setzen. Und die Justiz fällt zum Teil durch Relativierungen und Umdeutungen auf.

Wenn Molotowcocktails auf Synagogen und Schläge auf Kippa­träger als politische Empörung interpretiert werden, setzt das natürlich ­fatale Signale. Bei diesen Tendenzen muss sich niemand wundern, wenn Deutsche jüdischen Glaubens sich ­alleingelassen fühlen und eventuell sogar ans Auswandern denken.