David Graeber, Anthropologe und Anarchist, im Gespräch über Populismus als Folge der Wirtschaftskrise von 2008

»Die Vorstellung von Politik hat sich verändert«

Interview Von Julia Hoffmann

Bekannt wurde David Graeber 2011 mit dem Buch »Schulden: Die ersten 5000 Jahre«. Er beteiligte sich an der US-amerikanischen »Occupy«-Bewegung und lehrt derzeit Anthropologie an der London School of Economics. Graeber fordert einen generellen Schuldenerlass für alle und damit einen »Reset« des gesellschaftlichen Systems. Mit der »Jungle World« sprach er über die Folgen der Finanzkrise, Populismus in den USA und Europa und weshalb er Antisemitismus von links nicht so dramatisch findet.

Am 15. September jährte sich die Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers – eines Großunternehmens mit mehr als 28 000 Angestellten – zum zehnten Mal. Das Weltfinanzsystem drohte damals komplett zusammenzubrechen. Hat diese Finanzkrise das liberale Wirtschaftsmodell in Frage gestellt?
Das hat sie. Es gab in dieser Zeit viele Publikationen, die sich kritisch mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt haben. In vielleicht zwei oder drei Monaten nach der Pleite wurde offen über Alternativen nachgedacht. Doch dann entschied man sich, die strukturellen Probleme nicht anzugehen. Alle Ökonomen, die ich kenne, sagen, man habe die Brüche einfach notdürftig mit Klebeband geflickt, damit das System weiterläuft. Darin allein steckt natürlich schon die Gefahr einer weiteren Krise.

Die Rechnung aber bekamen andere. Diejenigen, die dafür bezahlt haben, waren die Leute, die Lohneinbußen hatten, ihre Häuser verloren oder Kurzarbeit hinnehmen mussten. Es waren nicht die Banker oder Manager, sondern die Arbeiter. Sie sind zudem oft hoch verschuldet. Ohne einen generellen Schuldenerlass wird sich auch das Wirtschaftsmodell nicht ändern.

»Leute wählen rechte Parteien in Europa, weil sie wirklich sehr wütend sind und weil linker Populismus hier nicht erlaubt ist.«

Die mit der Krise begründeten Sparmaßnahmen führten in Europa zu großen Protesten und schließlich auch zur »Occupy«-Bewegung in den USA. Sie haben diese Proteste als Weltrevolutionen bezeichnet. Würden Sie das noch immer so beschreiben?
Durchaus. So etwas wie die »Occupy«-Bewegung ist ein Ereignis, das sich vielleicht in einem Land abspielt, aber weltweite Auswirkungen hat. Es gibt da immer eine gewisse Gleichzeitigkeit. Das war 1968 so und auch 2011. Auch die arabischen Revolten in Tunesien und Ägypten waren ja nicht nur Teil dieser basisdemokratischen Protestwelle – sie gingen der »Occupy«-Bewegung voraus.

Das Resultat war eine einschneidende Veränderung in politischem Handeln. Die Vorstellung davon, wie Politik und demokratische Bewegungen überhaupt funktionieren, hat sich bei den Menschen seitdem grundlegend verändert. Das Modell, einen demokratischen Ort außerhalb des Systems herzustellen, ist nun institutionalisiert. Das machen die Leute jetzt. Die Menschen haben heute eine klarere und viel kritischere Vorstellung davon, was Kapitalismus ist. In den USA gibt es eine ganze Generation junger Menschen, die sich als Sozialisten bezeichnen. Das wäre in den Jahren davor noch nahezu undenkbar gewesen. In den USA organisieren sich viele dieser jungen Leute bei den Democratic Socialists of America (DSA). Das tun sie sowohl basisdemokratisch als auch parteiorientiert, und es bleibt abzuwarten, was daraus wird. Ihre Kandidatinnen und Kandidaten stellen aber jetzt schon eine ernsthafte Herausforderung für das Establishment der Demokratischen Partei dar.

In den vergangen zehn Jahren hat sich auch die Arbeitswelt rasch und tiefgreifend verändert. Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen für Arbeitnehmerinnen und ­Arbeitnehmer?
Automatisierung und Digitalisierung haben gegenteilige Auswirkungen auf Care-Arbeit und auf Produktion. Digitalisierung steigert die Produktivität in den Fabriken enorm. Dabei fallen Arbeitsplätze weg. Als Resultat steigt dort möglicherweise der Verdienst, weil bestimmte Arbeiten eingespart werden. Auf der anderen Seite werden in den Bereichen Bildung und Gesundheit Löhne gesenkt. Die Produktivität erhöht sich nicht und es werden mehr Leute zu schlechten Bedingungen eingestellt. In meinem Buch »Bullshit-Jobs« geht es vor allem um die Vielzahl völlig unnützer Jobs, in denen die Menschen unglücklich sind und krank werden, weil sie nichts Sinnvolles tun. Das sind nicht die Jobs in der Care-Arbeit, sondern in der Regel handelt es sich um gutbezahlte Stellen im mittleren Management.

Wäre es nicht sinnvoller, wenn die Leute sich organisieren würden, ­damit sie etwas an den Verhältnissen ändern können?
Einige Gewerkschaften haben sich für das Thema interessiert, aber ich glaube, es ist zu schwierig. Ich schlage stattdessen ein Grundeinkommen vor. Das ist eine gute Lösung, weil es wenigstens nicht noch mehr Bullshit-Jobs kreiert. Die Leute wollen ja unerkannt bleiben und nicht entlassen werden. Daher glaube ich kaum, dass sie ihren Frust öffentlich machen würden. Die Leute haben auch nicht so viele Möglichkeiten. Sie sind froh, dass sie eine Stelle haben und Geld verdienen. Die meisten fühlen sich aber dennoch schlecht und haben das Gefühl, es nicht richtig begründen zu können.

Hat die Krise auch dem Populismus in den USA zum Sieg verholfen?
Trump machte im Wahlkampf 2016 Stimmung gegen das Finanzsystem. Man kann in dieser Situation in eine sozialdemokratische, keynesianische Richtung gehen oder in die faschistische. Trump hat sich für Letzteres entschieden. Trump hat sein Geld unter anderem mit Immobilien verdient. Das war immer schon eine wichtige Branche. Doch das amerikanische Wirtschaftssystem beruht auf anderen Grundlagen: dem militärischen und dem finanziellen Sektor. Beide hängen zusammen.

Wie meinen Sie das?
US-Staatsanleihen gehörten früher vor allem Angehörigen der US-Armee. Trump hat das kritisiert. Interessanterweise war er gleichzeitig der Friedenskandidat. Wenn man sich seine Reden aus der Zeit des Wahlkampfs anhört, war er derjenige, der immer Worte wie Liebe und Frieden verwendete, und nicht etwa Hillary Clinton. Nun, da er an der Macht ist, hat er Umsetzungsprobleme in einem von Republikanern dominierten Kongress. Die selbsternannten »Erwachsenen im Raum« haben inzwischen ­einiges verhindert, was eigentlich ganz gut gewesen wäre.

Können Sie die Faschisierung in ­Europa ebenso erklären?
Leute wählen rechte Parteien in Europa, weil sie wirklich sehr wütend sind und weil linker Populismus hier nicht erlaubt ist. Die Leute haben offenbar so viel Angst vor wirklicher sozialdemokratischer Politik, dass sie die Nazis vorziehen.

In Deutschland haben wir mit der Sammlungsbewegung »Aufstehen« eine neue linkspopulistische Gruppe, die den Kapitalismus kritisiert und deutsche Arbeiter vor Einwanderung schützen will. Ist das ein hilfreiches Konzept?
Populismus von links ist eine gute Sache. Aber als Begriff wird er heutzutage für alles benutzt, was außerhalb der neoliberalen Agenda steht. Der Brite Jeremy Corbyn ist ein gutes Beispiel ­dafür. Er sagt, was er denkt, und dafür wird er angefeindet. Dabei hat er eine klare Kritik am Kapitalismus.

Diese Art von Antikapitalismus ­vertreten aber auch Rechte.
Da werden Räume geöffnet. Wobei der Druck auf die Linke immer viel größer ist. Die britischen Tories treffen sich mit Viktor Orbán – aber der Labour-Partei wird Antisemitismus vorgeworfen, aufgrund einiger Lappalien. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Das ist einfach lächerlich. Denn diejenigen, die die zukünftigen Konzentrationslager verhindern und sich den ­Nazis in den Weg stellen werden, sind schließlich Corbyns Leute.

Sie finden also, es gibt keinen Antisemitismus in der Labour-Partei?
Wissen Sie denn nicht, wer die linke Bewegung Momentum in Großbritannien gegründet hat? Jon Lansman und Adam Klug, sie sind beide jüdisch. Und es ist eine üble Lüge, ihnen Antise­mitismus vorzuwerfen. Ich hab die Schnauze so voll von diesem Mist. Und die Deutschen sind wirklich die Schlimmsten, mit dieser historischen Schuld. Natürlich gibt es Antisemitismus. Aber die Rechten sind doch noch viel antisemitischer als die Linken. Der einzige Grund, warum es in der Labour-Partei diese Debatte überhaupt gibt, ist doch, dass der linke Flügel die Partei demokratisieren will. Die Neo­liberalen wollen das verhindern, denn sie haben Angst vor den kommenden Wahlen. Deswegen lassen sie keinen Versuch aus, Corbyn in der Öffentlichkeit zu diffamieren.

Neulich habe ich mit einem linken Australier gesprochen. Es ging um Israel und er sagte einige wirklich üble Dinge, wie »Hitler hätte sie alle töten sollen«. Das ist selbstverständlich furchtbar. Aber ich bin mir sicher, wäre ein echter Nazi um die Ecke gekommen, der Australier hätte sich ihm in den Weg gestellt. Im Zweifel sind Linke doch immer Antifaschisten. Die Tat­sache, dass Leute mal sehr blöde oder überzogene Bemerkungen machen, weil sie etwas gegen Israel haben, führt ja nicht zu Gewalt. Deshalb habe ich davor keine Angst.

Mit einer solchen Differenzierung erklärt man Antisemitismus für ­akzeptabel, wenn er sich durch die Kritik an der israelischen Politik ­legitimiert. Wann ist denn jemand ein »echter Nazi«?
Es ist ein Unterschied, ob man etwas sagt oder es auch tut. Konservative britische Politiker sagen ständig rassistische Dinge oder machen sich lustig über muslimische Frauen mit Kopftuch. Und das ist kein Problem, obwohl solche Äußerungen sehr wohl zu Gewalt gegen Menschen führen. Denn diese Leute werden wirklich tätlich angegriffen und haben Angst.

Werden Juden denn nicht attackiert?
Nicht von Linken. Die kreieren auch nicht das Klima dafür. Das ist einfach falsch. Vielleicht kreiert Netanyahu ja dieses Klima.