Marianne Faithfull akzeptiert auf ihrem neuen Album die Theorie der »negative ­capability«

It’s Not All Over, Baby Blue

Marianne Faithfull zeigt auf ihrem neuen Album die Fähigkeit, nicht alles verstehen zu müssen.

Es gibt wohl nur sehr wenige Menschen auf der Welt, die man mit Fug und Recht als lebende Legenden ­bezeichnen kann. Eine von ihnen ist Marianne Faithfull. Sie ist die Großnichte des Namensgebers für den Masochismus, des Schriftstellers Leo­pold von Sacher-Masoch, war die Freundin von Mick Jagger, wurde zu einer der bekanntesten Sängerinnen der Welt, erfand sich immer wieder musikalisch neu, spielte in Kenneth Angers Film »Lucifer Rising« mit, lebte einige Zeit obdachlos in einer alten Bauruine und überlebte ihren jahrelangen Heroinkonsum. Von ihrem Leben handeln auch die zehn Lieder auf ihrem neuen Album ­»Negative Capability«: »In My Own Particular Way« zum Beispiel, mit dem sie charmant Liebe für sich einfordert, aber nach ihren Regeln, ohne Kompromisse. Und auch Paris, wo sie seit 14 Jahren lebt, taucht auf der Platte auf: »They Come at Night« ist ein Lied über das jihadistische Massaker im Bataclan 2015, das sie schon ein Jahr später in der Konzerthalle bei einem Auftritt sang. »Ich habe keine Angst davor, ins Bataclan zurückzukehren« sagte sie damals der Malay Mail.

Faithfull zählt zu der Sorte Künstlerin, wie es sie nur noch selten gibt: nicht nur Sängerin, sondern leidenschaftliche Interpretin, wie eine Billie Holiday, eine Édith Piaf oder eine Nina Simone.

Neben den neuen Liedern finden sich auch Neuinterpretationen ihrer alten Songs auf der Platte wieder: Das im Original von Bob Dylan stammende »It’s All Over Now, Baby Blue«, »Witches Song«, zuerst erschienen auf »Broken English«, jenem ­Album, mit dem sie radikal mit  ihrem Image aus den sechziger Jahren brach. Und dann taucht da auch noch der erste Song ihrer Karriere auf: Das tieftraurige »As Tears Go By« sang Faithfull das erste Mal im Alter von 17 Jahren. Geschrieben wurde es von den Bandleadern der Rolling Stones, Mick Jagger und Keith ­Richards, deren eigene Interpretation nicht an die von Faithfull her­anreichte, die 1964 ihre erste Single sein sollte. Spielende Kinder kommen in dem Lied vor, lächelnde Gesichter, doch all das berührt die ­erzählende Person nicht. Sie stattdessen sitzt und weint. Das dem ­baroque pop zuzuordnende Stück nahm Faithfull noch einmal auf, als sie 40 war.

Erschienen auf dem ersten Album nach ihrem Heroinentzug, »Strange Weather«, ist der Song langsamer, Faithfulls Stimme rauer. Sie selbst schrieb dazu: »Ich war genau im richtigen Alter und in der richtigen Verfassung, um es nochmal aufzunehmen. Erst mit 40 empfand ich die lyrische Melancholie des Liedes zum ersten Mal.« Für die neue Platte hat sie es ein drittes Mal interpretiert, noch einmal spärlicher instrumentiert, das Sphärische der letzten Version fehlt. Tatsächlich klingt es trotzdem wieder konventioneller, wäre da nicht die brüchige Stimme von Faithfull oder ihr vermutlich absichtlich falsches Ein­setzen beim Text. Man spürt, dieses Lied lastet wie ein Fluch auf ihr, den sie seit über 50 Jahren versucht zu bannen. Die Version auf »Negative Capability« klingt wie eine Einsicht darin, dass ihr das wohl nie gelingen wird, sie aber trotzdem weit davon entfernt ist, es nicht noch einmal zu versuchen.

Das passt zum Titel des Albums: Negative capability ist ein Terminus aus der Literaturtheorie, geprägt von John Keats, der damit die Fähigkeit des Dichters beschreiben wollte, zu akzeptieren, dass nicht jeder komplexe Sachverhalt aufgeklärt werden kann. Diese Fähigkeit zur Unsicherheit ist die negative Befähigung, die Faithfull zweifelsohne nicht nur ­besitzt, sondern bei ihrem rasanten Leben auch haben musste.

Faithfulls beide vorherigen Alben, »Horses and High Heels« von 2011 und »Give My Love to London« von 2014 klangen über lange Strecken so, als hätten sich Bob Dylan und Neil Young im Studio getroffen und abwechselnd die Band dazu angeleitet, pompösen Folk und Country zu ­spielen. »Negative Capability« klingt dagegen wieder anders. Es hat viel mehr gemein mit dem grandiosen Indierock-Album »Before the Poison« von 2005, auf dem die Hälfte der Lieder von PJ Harvey geschrieben wurde. Kollaborationen sind für Faithfull ohnehin nichts Neues: Das Album »A Secret Life« (1995) war eine Zusammenarbeit mit Angelo Bada­lamenti, bekannt für seinen Soundtrack zu »Twin Peaks«; »Kissin Time« (2000) wurde unter anderen von Beck und Jarvis Cocker produziert und 2005 schrieb Nick Cave ihr einige Lieder. Cave ist auch auf ­»Negative Capability« vertreten und leiht ihr sogar seine Stimme im Hintergrund.

Die Texte, die Faithfull geschrieben hat, sind sehr plastisch und illust­rativ, in manchen Momenten fast schon unangenehm erklärend. ­Etwas gestelzt sind die Reime, wie schon im ersten Lied »Misunder­standing«: »Misunderstanding / Is my name / What I am / Is not a game«. Aber Faithfulls tiefe, warme Stimme macht diese kleinen Patzer vergessen. Sie zählt zu der Sorte Künstlerin, wie es sie nur noch selten gibt: nicht nur Sängerin, sondern ­leidenschaftliche Interpretin. Wie eine Billie Holiday, eine Édith Piaf oder eine Nina Simone kann sie ­Lieder aus fremder Feder singen, als ­wären es ihre eigenen. Mühelos schweift sie durch die Musikgeschichte, durch die Genres, durch die Themen, und pflückt sich überall das heraus, war sie auf ihre ganz eigene Art zu neuer Musik formt. »Ich mag Coverversionen«, erzählt sie in ihrer äußerst lesenswerten Auto­biographie, »weil sie zu meinen Liedern werden«. Und in einer Klammer fügt sie hinzu: »Und manchmal werde ich sie.« Oder, wie es der Dramatiker Frank McGuinness im Nachwort ausdrückte: »Sie ist eine Frau, die alles über Musik weiß. Die Musik umgibt ihr Leben, sie ist dessen Mittelpunkt, und sie hat es ihr gerettet.«
Marianne Faithfull: Negative Capability (Panta Rei)