Winfried Heitkamp, Historiker, im Gespräch über Trinkgelder in der »Gig Economy«, gemietete Tische und die Frage der Klasse

»Es ist schlicht ungerecht«

Interview Von Julia Hoffmann

In seinem Buch »Der Rest ist für Sie! Kleine Geschichte des Trinkgeldes« geht Winfried Speitkamp der Kulturgeschichte des Trinkgeldes auf den Grund. Mit der »Jungle World« sprach der Präsident der Bauhaus-Universität in Weimar über den sich verändernden Dienstleistungssektor, Henker und den Klassenstandpunkt bei der Vergabe von Trinkgeld.

Armut sowie Erwerbsarmut nehmen in Deutschland stetig zu. Ist das Zahlen von Trinkgeldern im Niedriglohnsektor vor diesem Hinergrund eine Form gesellschaftlicher Umverteilung?
Das wäre zu viel gesagt. Es sind ja auch nicht mehr so hohe Trinkgelder, die bezahlt werden. Sie sind aber ein Ausdruck, dass man sich bewusst ist, dass der Empfangende weniger hat als man selbst. Man erkennt damit also seine Arbeit an, macht aber gleichzeitig sein geringeres Einkommen sichtbar.

Was bedeutet diese Ungleichheit für die digitale Niedriglohnbranche?
Wir leben ja in einer Zeit, in der sich viele Dienstleistungen nicht mehr realen Personen zuordnen lassen. Das war auch schon im vordigitalen Bereich teilweise der Fall. Man holt sein Essen im Selbstbedienungsrestaurant und bezahlt an der Kasse. Da gibt es auch keine Trinkgelder mehr. Die Dienstleistungsgesellschaft wandelt sich an vielen Stellen; Trinkgelder sind dort unüblicher und gehen in vielen Bereichen verloren. Sie gehen aber auch in anderen Bereichen verloren. Im Hotelbereich ist es offenbar auch nicht mehr üblich, den Personen, die die Zimmer reinigen, Trinkgelder zu zahlen. Man hinterlässt nichts mehr. Früher hat man im Hotelbad eine Banknote hinterlegt. Das macht heutzutage fast ­niemand mehr.

»Man gibt Trinkgeld zur Aufwertung des eigenen Status und Selbstwert­gefühls, und um zu demonstrieren, dass man weiß, was sich gehört.«

Kommt da ein gesellschaftliches ­Ritual aus der Mode?
Man kommt zum einen seltener mit den Leuten in Kontakt, die Trinkgelder empfangen könnten. Aber zum anderen hat sich wohl auch die Einstellung der Geber geändert. Auch gut verdienende Personen in teuren Hotels sagen sich: Ich bezahle ohnehin viel Geld, weshalb soll ich denn da auch noch ein Trinkgeld geben?

Die Anerkennung bestimmter Tätigkeiten ist nicht mehr gegeben. Viel eher dominiert das Gefühl: Ich habe es verdient, mehr Geld zu haben, warum sollte ich davon ­et­was abgeben?
Das klingt nach einem abnehmenden Klassenbewusstsein.Das Bewusstsein, dass die Wohlhabenden den weniger Wohlhabenden etwas schulden, geht zurück. Das Mäzenatentum war für das 19. Jahrhundert typisch; damit hat man das Klassenbewusstsein humanisiert. Das ging in der klassischen Form verloren, und so geht auch das kleine Mäzenatentum verloren. Die Menschen denken, Geiz sei positiv.

Betrachten sich die Leute selbst also gar nicht mehr als privilegiert?
Die Sicherheit, dass man zu einer bestimmten Klasse gehört, ist nicht mehr gegeben. Wir wissen ja oft auch nicht mehr, wer Koch, wer Kellner und wer Eigentümer im Restaurant ist. Es gibt keine Standeskleidung mehr. Das hat die Leute verhaltensunsicher gemacht. Es gab aber auch schon zu den Anfängen des Trinkgelds im 19. Jahrhundert die Angst, dass man zu viel Trinkgeld geben könnte und dass dann bestimmte Kellner in guten Restaurants damit so viel Geld verdienen könnten, dass sie in die Klasse der Bürger aufsteigen könnten.

Was ist dann überhaupt die Motivation dafür, Trinkgeld zu geben?
In den Bereichen, wo es noch Tradition ist, tut man es zur Aufwertung des ­eigenen Status und des Selbstwertgefühls. Man demonstriert aber auch, dass man weiß, was sich gehört. Es gibt da so eine Grauzone des Emotionalen dabei, der Ehrerbietung. Zum Teil macht man es auch aus taktischen Gründen, weil man sich dann einen besseren Service erhofft, nicht aber weil man denkt, man sei es jemandem schuldig. Aber da funktioniert die Gesellschaft eben nicht rein rational.

Bekommen Frauen mehr Trinkgeld als Männer?
Bei der Entstehung des Trinkgelds spielte die Gender-Ebene eine große Rolle. Gaststätten haben bewusst Frauen eingestellt, weil die anders behandelt werden. Man versprach sich eine besondere Anziehungskraft von ihnen. Selbstverständlich hat man dann auch auf das Aussehen geachtet. Aber es gab mancherorts auch Vorschriften, dass Kellnerinnen sich in bestimmter Art und Weise kleiden sollten, um nicht mit Prostituierten verwechselt zu werden. Es gab ja im Kaiserreich nur wenige Berufe, in denen Frauen arbeiten konnten. Die wurden zuweilen in die Nähe der Prostitution gerückt. Denn diese Bereiche waren anfällig für die Abhängigkeit zwischen geldgebenden Männern und Trinkgeld empfangenden Frauen.

Das Geben von Trinkgeldern ist ja auch nicht überall gestattet. Wenn ich der Sachbearbeiterin im Einwohnermeldeamt eine Tafel Schokolade mitbringe, darf sie sie nicht annehmen. Ist diese Unbestechlichkeit nicht eigentlich besser?
Das haben verschiedene Systeme, wie beispielsweise der Nationalsozialismus, immer wieder versucht: Der deutsche Arbeiter arbeitet sowieso, den kann man nicht durch Gelder bestechen. Das ideal einer Gesellschaft ist es ja auch, für einen anständigen Lohn zu arbeiten, den man zuverlässig bekommt und verdient. Versuche, das Trinkgeld abzuschaffen, sind aber alle schiefgegangen.
Es kann ja eine Belegschaft auch spalten – in die, die bedienen, und die, die in der Küche arbeiten.

Besonders in Frankreich war es schon um 1900 üblich, alle Trinkgelder in einen Topf zu werfen und dann zu verteilen. Der Versuch, diese Problematik zu lösen, hatte aber auch Folgen, die oft zu Rechtskonflikten geführt haben. Was ist, wenn jemand krank ist? Hat er dann dennoch ein Recht auf seinen ­Anteil am Trinkgeld?

Es ist also eine Frage der Gerechtigkeit?
Die Gerechtigkeitsfrage hat in der Debatte immer eine große Rolle gespielt. Bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war es nicht unüblich, dass Kellner ihre Tische pachteten und als selbständige Subunternehmer unter dem Wirt arbeiteten. Je besser der Tisch war, den man bediente, desto näher war auch die Pacht. An der Straße kam eben mehr Trinkgeld zusammen als am hinteren Tisch in der dunklen Ecke. Trinkgelder waren in ihrer Anfangszeit auch eine ökonomische Notwendigkeit. Viele Klassen der Gesellschaft haben davon gelebt, weil das feste Gehalt gar nicht ausgereicht hat. Auf Dauer ist das aber weder sinnvoll noch rational. Es ist schlicht ungerecht.

Ist das der Grund, weshalb in manchen Bereichen auch schon im Voraus ein Trinkgeld gegeben wird, das sogenannte »tipping in advance«?
Das wird manchmal als Bestechung beschrieben oder zumindest als Technik, wie man dafür sorgt, einen guten Tisch oder andere Vorteile zu bekommen. Das eigentliche Trinkgeld zahlt man im Nachhinein und der Kellner oder die Kellnerin weiß nicht, wie viel oder ob es überhaupt ein Trinkgeld gibt. Die Kellner müssen also vorsorglich eine gute Leistung erbringen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die Urform des »tipping in advance«: Denn auch dem Henker wurde ein Trinkgeld gezahlt, selbstverständlich vor der Hinrichtung.
Man wollte damit Einfluss nehmen auf die Art, wie die Hinrichtung vollzogen wurde. Aber das würde ich nicht als die Urform des Trinkgelds sehen. Das ist doch etwas zu makaber. Dennoch ist es ein Beispiel dafür, wie schon immer versucht wurde, durch kleinere Geldzahlungen Einfluss auf die Arbeit einer Person zu nehmen.