Wohnungsnot in Deutschland

Schafft neue Sozialwohnungen

Hunderttausende Menschen haben in Deutschland kein eigenes Dach über dem Kopf, schuld daran sind die Profitinteressen der Immobilienbranche. Dabei gäbe es einfache Lösungen, um die Wohnungsnot zu beenden.

Zunächst hörte es sich nach einer guten Nachricht an: Die Zahl der Wohnungs­losen war im Jahr 2017 niedriger als ursprünglich geschätzt. »Wir können keine Entwarnung geben«, sagte jedoch Werena Rosenke, die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), vergangene Woche auf einer Pressekonferenz in Berlin bei der Vorstellung der von der BAG­ W erhobenen Zahlen. Dass diese gesunken sind, sei nicht auf einen Rückgang der Wohnungslosigkeit, sondern lediglich auf eine neue, genauere Art der Schätzung zurückzuführen. Zudem sei die neu ermittelte Zahl wohnungs­loser Menschen mit 650 000 noch immer sehr hoch.

Anders als in Spanien und Frankreich ist die Protestbewegung von Wohnungs­losen in Deutschland noch klein.

Etwa 375 000 davon waren anerkannte Geflüchtete, die in Gemeinschaftsunterkünften oder Erstaufnahmelagern leben. Das legt nahe, dass in Deutschland noch immer der »richtige« Pass eine wichtige Rolle dabei spielt, ob jemand eine Wohnung bekommt oder nicht. Von den übrigen etwa 275 000 Wohnungs­losen waren rund drei Viertel der Erwachsenen Männer. Etwa 22 000 Wohnungslose waren minderjährig.

Straßenobdachlosigkeit ist vor allem ein Phänomen der Großstädte. Die BAG W geht davon aus, dass davon etwa 48 000 Menschen betroffen sind. Auch hier fehlen genaue Zahlen, man muss sich auf Schätzungen stützen. Bisher gibt es keine staatliche Statistik über die bundesweite Zahl der Obdach- und Wohnungslosen. Zwischen beiden wird in der Öffentlichkeit erst in jüngster Zeit differenziert. Als wohnungslos bezeichnet man Menschen, die über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Sie übernachten oft in einer Notunterkunft. Einige kommen auch bei Freunden oder Bekannten unter. Wohnungslose schämen sich oft für ihre Situation und verbergen diese. Deswegen fällt Wohnungslosigkeit kaum auf.

Rechtsextreme Gewalt und staatliche Repressalien

Obdachlos hingegen sind Menschen, die überhaupt keine Unterkunft haben. Sie übernachten manchmal in leer­stehenden Häusern, oft im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten oder U-Bahnstationen. Sie werden auch immer ­wieder zum Ziel rechts­extremer Angriffe. Der Publizist Lucius Teidelbaum hat auf sei­nem Blog »Berberinfo« sowohl rechtsextreme Gewalt als auch staatliche Repressalien gegen Wohnungs- und Obdachlose dokumentiert. Behörden erfassen Angriffe auf sie genauso wenig, wie sie eine offizielle Statistik über die Zahl der Wohnungslosen führen. Es sind engagierte Einzelpersonen oder Gruppen wie die BAG W, die diese Informationen sammeln.

»Auf staatlicher Ebene wird meist dann eine Statistik erhoben, wenn man signalisieren will, dass man sich des zu untersuchenden Problems annehmen will. Im Umkehrschluss kann man davon ausgehen, dass, wenn eine staatliche Statistik fehlt, es auch nicht weit her ist mit Handlungswillen. Wo die Schätzung die eigene Statistik ersetzt, sind Wert und Interesse offensichtlich gering«, kommentierte Markus Drescher im Neuen Deutschland das mangelnde Interesse der staatlichen Instanzen an der statistischen Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit.

So müssen sich die Betroffenen vor allem selbst organisieren. Tatsächlich gibt es in verschiedenen Ländern Beispiele einer Selbstorganisierung von Wohnungs- und Obdachlosen. So haben sich in Madrid kürzlich Wohnungslose mit Zelten vor dem von vielen Touristen besuchten Prado-Museum niedergelassen. Sie fordern würdige Wohnungen für alle und berufen sich auf Artikel 47 der spanischen Verfassung. In Frankreich fordern Migranten in der Bewegung der »Schwarzen Westen« neben dem Aufenthaltsrecht auch Wohnungen.

Enteignung und sozialer Wohnungsbau

In Deutschland hingegen ist die Protestbewegung von Wohnungslosen noch klein. »Menschen, die nicht wissen, wo sie übernachten können, haben meist so große Probleme, dass sie sich kaum organisieren«, sagte Nicole Lindner von der Initiative »Wohnungslosenparlament in Gründung« der Jungle World. Sie plant wie bereits zu Anfang dieses Jahres auch im Januar 2020 eine mehrtätige Mahnwache vor dem Berliner Roten Rathaus. Für Lindner ist die Wohnungslosigkeit und nicht die fehlende Statistik der Skandal. Es habe in den vergangenen Jahren genügend wissenschaftliche Studien und Untersuchungen über Wohnungslosigkeit in einzelnen Regionen gegeben. »Jetzt sollte daher nicht eine neue Statistik, sondern endlich bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden«, sagt Lindner und bringt damit die Meinung vieler Menschen auf den Punkt, die sich in Deutschland gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit ­engagieren.

Lindner verweist darauf, dass es genügend leerstehenden Wohnraum gebe, der eben für die Unterbringung von Wohnungslosen enteignet werden müsste. Ob das allein in einer Stadt wie Berlin noch ausreichen würde, um alle Wohnungslosen zu versorgen, ist allerdings fraglich. Eva Willig, die sich in der Berliner Erwerbslosen- und Mietenbewegung engagiert, verweist im Gespräch mit der Jungle World auf das amtliche Leerstandskataster. Mit diesem Instrument soll offengelegt werden, wo Wohnraum leersteht oder zweckentfremdet wird. Auch Werena Rosenke von der BAG W sieht im Fehlen von bezahl­barem Wohnraum das Kernproblem.

Die Initiative Neuer Kommunaler Wohnungsbau (INKW) hat bereits vor fünf Jahren in einem Aufruf gefordert, viel stärker einen neuen sozialen Wohnungsbau zu fördern. Denn es sind die Profitinteressen der Immobilienbranche, wegen derer die Menschen kein Dach über dem Kopf haben. Fast täglich werden Mieter zwangsgeräumt. Viele von ihnen landen in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit. In der Berliner Mieterbewegung ist es mittlerweile weitgehend Konsens, nicht nur diejenigen zu vertreten, die noch eine Wohnung haben, sondern sich auch mit den Forderungen der Menschen zu solidarisieren, die bereits wohnungslos sind. Das könnte Betroffene darin bestärken, dass nicht sie schuld an ihrer ­Situation sind, und dürfte wirkungs­voller sein als eine neue Statistik über Wohnungs- und Obdachlosigkeit.