Neonazi-Aufmarsch in Wunsiedel

Wunsiedels braune Plage

Am kommenden Samstag findet im oberfränkischen Wunsiedel erneut ein von der rechtsextremen Kleinpartei »Der III. Weg« organisiertes »Heldengedenken« statt. Ein Rückblick auf die mehr als 20jährige Geschichte der Gedenkmärsche für Rudolf Heß in Oberfranken.

Wohl kaum eine Führungsfigur des historischen Nationalsozialismus verehren Neonazis auch heutzutage noch auf ähnliche Weise wie Rudolf Heß, den einstigen Stellvertreter Hitlers in der Parteileitung der NSDAP und Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Im oberfränkischen Wunsiedel, wo sich bis 2011 das Grab des von Neonazis als Märtyrer gefeierten Heß befand, wird die rechtsextreme Kleinpartei »Der III. Weg« am kommenden Samstag ihr traditionelles »Heldengedenken« abhalten.

»Im Mittelpunkt steht die ideologische Selbstvergewisserung. Bezüge auf Rudolf Heß sind aufgrund der Gesetzeslage seltener geworden, vereinzelt gibt es sie aber noch.«

Am 17. August 1987 beging Heß im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau Selbstmord. Schon in den Jahren zuvor hatte sich ein regelrechter Kult um den einstigen engen Vertrauten Hitlers entwickelt. Dass Heß Selbstmord beging, wollen Neonazis noch immer nicht wahrhaben. Sie verbreiten verschwörungsideologische Erzählungen über Heß’ Tod, denen zufolge etwa der US-amerikanische Geheimdienst als Drahtzieher einer vermeintlichen Ermordung Heß’ anzusehen sei. Ein faschistischer Held, so die Grundannahme solcher Legenden, kann nur durch fremde Hand gestorben sein.

Ein Jahr nach Heß’ Tod fand auf Initiative Berthold Dinters, des Herausgebers der rechtsextremen Zeitschrift Wehr dich, der erste Gedenkmarsch in Wunsiedel statt. Knapp 120 Alt- und Neonazis fanden sich in dem rund 9 700 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Ort im Nordosten Bayerns ein. Bereits 1990 zogen mehr als tausend Nazis durch die Straßen des Orts.

Wohl ohne Kenntnis der NSDAP-Führung war Heß im Mai 1941 nach Großbritannien geflogen. Dort wurde er als Kriegsgefangener in London interniert. Als Grund seiner Reise gab Heß an, er habe Friedensgespräche mit der britischen Regierung führen wollen. Für Neonazis gibt diese Geschichte Anlass zu Legenden, etwa diejenige, Heß sei ein Botschafter des Friedens gewesen, der von den Briten mundtot gemacht wurde. 1946 wurde Heß im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wegen »Planung eines Angriffskriegs« und »Verschwörung gegen den Weltfrieden« zu lebenslanger Haft verurteilt. Dass Heß in seinem Schlusswort vor dem Internationalen Militärgerichtshof sagte, er bereue nichts, deuten Neonazis als Bestätigung seiner angeblich friedlichen Absichten.

 

Bei den ersten Gedenkmärschen in Wunsiedel trugen die anwesenden Neonazis denn auch oft Transparente mit dem Ausspruch »Ich bereue nichts« durch den Ort. Die Stadt Wunsiedel wehrte sich gerichtlich gegen die Aufmärsche. Von 1991 bis 2000 verhängte das Landratsamt Wunsiedel an den betreffenden Wochenenden ein generelles Demonstrationsverbot. Der Mobilisierung tat das Verbot nur wenig Abbruch. Die Neonazis wichen unter anderem ins nahegelegene Bayreuth aus. Der Gedenkmarsch entwickelte sich nicht nur für deutsche Neonazis zu einem wichtigen Termin. Immer wieder nahmen Delegationen ausländischer Kameradschaften und anderer rechtsextremer Gruppen, etwa aus Frankreich und Tschechien, an dem Aufmarsch teil.

1992 wichen die Neonazis nach Thüringen aus. Mehr als 2 000 Personen marschierten in Rudolstadt, unter ihnen sollen auch die späteren Mitglieder des »Nationalsozialistischen Untergrunds« Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gewesen sein; der damals 17jährige Tino Brandt soll den Aufmarsch mitorganisiert haben. Brandt wurde 2001 als V-Mann des thüringischen Landesamts für Verfassungsschutz enttarnt. Während seiner Tätigkeit für den Inlandsgeheimdienst soll Brandt regelmäßig Kontakt zu Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gehabt haben.
2001 wurde das Verbot des Gedenkmarschs, den in jenem Jahr der Neo­nazianwalt und NPD-Politiker Jürgen Rieger angemeldet hatte, vom bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben. Die Richter sahen in dem Aufmarsch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Das Urteil war durch die geringe Mobilisierungsfähigkeit von Antifaschistinnen und Antifaschisten begünstigt worden.

Mit der sogenannten Wunsiedel-Entscheidung vom 4. November 2009 sorgte das Bundesverfassungsgericht endgültig für Klarheit, indem es eine Verfassungsbeschwerde Riegers gegen eine 2005 vom Bundestag beschlossenen Strafrechtsnovelle zurückwies. Die auch unter dem Namen »Lex Wunsiedel« bekannte Ergänzung von Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs droht demjenigen, der »öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt«, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe.
Die Neonazis fanden jedoch weiterhin nach Wunsiedel. Nachdem Rieger nur wenige Tage vor der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts verstorben war, veranstalteten dessen Gefolgsleute noch im selben Jahr einen »Gedenkmarsch zu Ehren Riegers«. Das Motto »Ewig währt der Toten Tatenruhm«, unter dem rund 850 Neonazis durch Wunsiedel marschierten, machte das eigentliche Vorhaben deutlich: eine Ersatzveranstaltung für die Heß-Gedenkmärsche zu schaffen.

 

2011 endete der Pachtvertrag für Heß’ Grab. Das Grab wurde aufgelöst, die Überreste der Leiche wurden verbrannt. Der inoffizielle Heß-Gedenkmarsch wurde auf den 16. November, den Volkstrauertag, verlegt. Zunächst wurden die Veranstaltungen aus dem Umfeld des Dachverbands freier Kameradschaften Freies Netz Süd heraus ­organisiert. Seit 2013 tritt dessen Nachfolgeorganisation, die neonazistische Kleinpartei »Der III. Weg«, als Organisator auf und führt die Tradition des Märtyrerkults fort.

»Von Beginn an ist dieser Marsch für die Neonazis ein wichtiges Gedenken an ihre gefallenen ›Helden‹ von Wehrmacht und Waffen-SS« gewesen, sagt der Journalist und Szenekenner Jan Nowak im Gespräch mit der Jungle World. »Es geht um die Verherrlichung ihrer Vorbilder, stellvertretend für den historischen Nationalsozialismus allgemein. Dadurch vergewissern sie sich eines fiktionalen Geschichtsbildes, vor dessen Hintergrund die Taten der ›Ahnen‹ und die eigene Politik legitim erscheinen.« Aus dem bei der Veranstaltung propagierten »Opfermut der deutschen Soldaten«, dem »Leiden der Zivilbevölkerung« und den »Verbrechen der Alliierten« resultiere aus Sicht der Neonazis die Verpflichtung, den Kampf ihrer historischen Vorbilder fortzusetzen.

Die Mitglieder von »Der III. Weg« sind in Wunsiedel mittlerweile weitgehend unter sich. Andere Neonazis oder auch das eigene subkulturelle Umfeld konnten in den vergangenen Jahre kaum noch mobilisiert werden. Auch in diesem Jahr rechnet Nowak mit nur etwa 200 Teilnehmern. »Im Mittelpunkt steht die ideologische Selbstvergewisserung. Bezüge auf Rudolf Heß sind aufgrund der Gesetzeslage seltener geworden, vereinzelt gibt es sie aber noch«, so Nowak. So trugen einem Bericht des Informationsportals »End­station Rechts. Bayern« zufolge etwa 2016 einige Neonazis ein Banner mit dem Satz »Dein Heldengrab ist überall«, der sich auch in einem offenbar Heß gewidmeten Lied der rechtsextremen Rockband Stahlgewitter findet, durch Wunsiedel.

Für den kommenden Samstag mobilisieren antifaschistische Gruppen aus Bayern, Leipzig und Dresden zu einer Gegendemonstration. Anders als in den ­vergangenen Jahren möchte man wieder ein deutliches Zeichen gegen das »Heldengedenken« setzen.