Im Prozess gegen einen ehemaligen KZ-Wachmann sagten Überlebende aus

Wegschauen und umarmen

Im Prozess gegen den früheren SS-Wachmann Bruno D. wurden Überlebende als Zeugen befragt. Dem Angeklagten wird Beihilfe zum Mord in mehr als 5 230 Fällen vorgeworfen.

Knapp 75 Jahre nach der Auflösung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Stutthof sitzen ehemalige Gefangene zusammen mit dem früheren SS-Wachmann Bruno D. in einem Gerichtssaal des Hamburger Landgerichts. Einige wenige der 33 Nebenkläger sind aus Polen, Israel und den USA angereist, um über die Umstände ihrer Gefangennahme und die Zustände im KZ Stutthof bei Danzig zu berichten. Die bisherigen Begegnungen mit dem ­Täter verliefen sehr unterschiedlich.

»Die Gaskammer war ein offenes Geheimnis in Stutthof, ich habe von der Krankenbaracke einmal gesehen, wie sie die Menschen dort hineingetrieben haben. Ich kannte auch das Krematorium. Jeder kannte es.«

Mitte Oktober begann der Prozess gegen D. Nach Angaben der Hamburger Staatsanwaltschaft soll er im KZ Stutthof zwischen August 1944 und April 1945 als SS-Wachmann »die heim­tückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt haben«. Dem 93jährigen wird Beihilfe zum Mord in mehr als 5 230 Fällen vorgeworfen. Die Hauptverhandlung wird vor einer Jugendstrafkammer des Landgerichts geführt, denn im ­Tatzeitraum war Bruno D. 17 beziehungsweise 18 Jahre alt. Als SS-Wachmann sollte D. die Flucht, Revolte und Befreiung von Gefangenen verhindern (Jungle World 43/2019).

Ende Oktober hatte das Gericht Marek Dunin-Wasowicz als Zeugen geladen. Der Überlebende aus Warschau schilderte, wie seine Familie im Untergrund lebte und gegen die Deutschen kämpfte, die die Stadt im September 1939 erobert hatten. Sein älterer Bruder Krysztof sei Mitglied der Untergrundarmee gewesen. Noch vor Beginn des Warschauer Aufstands im August 1943 sei seine Familie verraten und verhaftet worden. Dunin-Wasowicz landete zunächst im Pawiak-Gefängnis, einem Gefängnis für politische Häftlinge im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Im Mai 1944 wurde er ins KZ Stutthof verlegt. »Dort herrschten die allerschlimmsten Bedingungen«, sagte Dunin-Wasowicz. Er berichtete von Terror, Erschießungen, Hunger und Krankheiten. »Sie brauchten keine große Gaskammer, die Gefangenen starben einfach so.« Die Häftlinge hätten Schwerstarbeit verrichten müssen und fast nichts zu essen bekommen, erzählte er. Um auf die Krankenstation zu kommen und zu überleben, habe er sich einen Baumstamm auf den Fuß fallen und den großen Zeh quetschen lassen.

Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring erkundigte sich nach dem Alltag im Lager. Kannte Dunin-Wasowicz die Gaskammer? »Die Gaskammer war ein offenes Geheimnis in Stutthof«, sagte der Journalist im Ruhestand. »Ich habe von der Krankenbaracke einmal gesehen, wie sie die Menschen dort hineingetrieben haben. Ich kannte auch das Krematorium. Jeder kannte es.«

 

Während es zwischen Dunin-Wasowicz und dem Angeklagten keinen Austausch und wohl auch keinen Blickkontakt gab, gestaltete sich die Begegnung zwischen D. und dem 76jährigen Moshe Peter Loth aus den USA am Dienstag voriger Woche anders. Der Sohn einer deutschen Jüdin wurde in Gefangenschaft geboren und kurze Zeit später mit seiner Mutter nach Stutthof gebracht. Nach der Befreiung wurde er ohne seine Mutter völlig unterernährt auf einem Bürotisch gefunden. Später sei er von einer polnischen Frau aufgezogen worden und habe nur polnisch gesprochen. »Ich wusste lange nicht, wer ich war«, sagte Loth.

Nachdem er seine Aussage als Zeuge und Nebenkläger beendet hatte, ging er auf den Angeklagten zu. Zuvor hatte er D. gefragt, ob er sich ihm nähern dürfe, und ihn gebeten, ihm in die Augen zu schauen. An die Zuschauer gewandt sagte Loth: »Passen Sie alle auf! Ich werde ihm vergeben.« Die Ehefrau und die Enkelin des Angeklagten hielten sich fest und weinten. Dann umarmten sich die beiden Männer. »Jetzt bin ich frei«, sagte Loth, als er zu seinem Platz zurückging. »Ich mache das für mich, dadurch befreie ich mich selbst.«

Meier-Göring war ebenso beeindruckt wie die wenigen zu dem Prozess zugelassenen Zuschauer. »Können Sie auch denen vergeben, die keine Schuld empfinden?«, fragte die Richterin den Nebenkläger. Sie hatte Loth zuvor ermuntert, Fragen an den Angeklagten zu richten, da er als Nebenkläger das Recht dazu habe. Loth befragte D. sachlich und manchmal detailliert über dessen Zeit im Lager Stutthof. Er erhielt einige Antworten: Wer D.s Vorgesetzter war, was für eine Waffe er auf dem Wachturm benutzte – kein Maschinengewehr, sondern einen Karabiner 98K –, und wie er von Stutthof weggekommen sei, nämlich mit einem Kahn, der von Schleppern über die Ostsee bis nach Neustadt in Holstein gefahren worden sei. »Haben Sie Gefangene mitgenommen?«, fragte Loth. »Ja, aber es waren keine Juden, auf keinen Fall!«, antwortete D. »Woher wissen Sie das?«, wollte die Richterin wissen. D. wiederholt mit fester Stimme: »Das waren keine Juden.« Ja, natürlich, er bedaure alles, was damals passiert sei, antwortet D. auf Nachfrage Loths. Er sei nicht freiwillig in Stutthof gewesen und habe keine Möglichkeit gehabt, etwas gegen das Leid der Häftlinge zu tun.

Kommenden Monat soll ein Überlebender aus Israel als Zeuge befragt werden. Rund zwei Stunden dauert ein Prozesstermin. Seit Oktober wurde an acht Tagen verhandelt. Bis Februar kommenden Jahres sind 13 weitere Verhandlungstage vorgesehen.