Afghanistans politisches System funktioniert auch im 19. Jahr der US-geführten Militärintervention nicht.

Chaos in Kabul

Nach der Einigung zwischen der US-Regierung und den Taliban gibt es eine Chance, den Krieg in Afghanistan auf diplomatischem Weg zu beenden. Die Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Aufständischen dürften allerdings kompliziert werden; es ist fraglich, ob die Islamisten bereit sind, die Macht zu teilen.

Bis es zu Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban kommt, dürfte es noch eine Weile dauern. Am 10. März sollten eigentlich sogenannte innerafghanische Friedensgespräche beginnen. Das sieht das »Agreement for Bringing Peace to Afghanistan« vor, das die US-Regierung am 29. Februar in Katars Hauptstadt Doha mit Vertretern der Taliban schloss. Darin verpflichtet sich die US-Regierung, ihre Streitkräfte bis Ende April kommenden Jahres abzuziehen, wenn es bis dahin »Fortschritte« bei den innerafghanischen Gesprächen gegeben haben sollte. Die US-Truppen könnten demnach bereits vor einem Friedensschluss abgezogen werden – eine Vorstellung, die viele Afghaninnen und Afghanen schaudern lässt.

Mit den US-Streitkräften würden auch alle verbündeten Truppenkontingente abgezogen, darunter bis zu 1 300 Soldaten der Bundeswehr. Die Taliban garantieren im Gegenzug, jede Kooperation mit islamistischen Terrorgruppen wie al-Qaida zu beenden und diesen nicht zu erlauben, von Afghanistan aus zu operieren. Ebenfalls am 29. Februar gaben der afghanische Präsident Ashraf Ghani und US-Verteidigungsminister Mark Esper in Afghanistans Hauptstadt Kabul eine gemeinsame Erklärung ab. Darin erklärt die afghanische Regierung sich bereit, Gespräche mit den Taliban aufzunehmen.

Die Taliban haben mitgeteilt, sich ein Staatsmodell nach iranischem Vorbild vorstellen zu können.

Seit Oktober 2018 hatten die US-Regierung und die Taliban in Katar verhandelt. Bereits im Juni 2013 hatte die US-Regierung es den Taliban ermöglicht, in Doha ein Verbindungsbüro zu eröffnen. Dort residiert seither der Großteil der Politischen Kommission der Taliban, des »Außenministeriums« des »Islamischen Emirats Afghanistan«, wie sich die Taliban offiziell nennen. Das Büro untersteht der Rahbari Shura, dem auch als Quetta Shura bekannten Führungsrat der Taliban. Im nahe der Grenze zu Afghanistan gelegenen pakistanischen Quetta reorganisierten sich die Taliban nach ihrer Niederlage 2001 als Guerillabewegung. Mittlerweile kontrollieren sie wieder etwa die Hälfte Afghanistans.

Das Abkommen mit der US-Regierung hatte bereits im September 2019 kurz vor dem Abschluss gestanden. Dann funkte Präsident Donald Trump dazwischen, wie üblich über Twitter. US-Medien zufolge hatte Trump sich mit der Talibanführung in Camp David treffen wollen, um sich als genialer dealmaker präsentieren zu können. Allerdings war Doha bereits als Unterzeichnungsort vereinbart worden. Die Taliban lehnten Trumps Einladung ab.

Die Unterbrechung der Gespräche gab US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad die Gelegenheit nachzuverhandeln. Selbst einige Republikaner hatten im US-Kongress kritisiert, Khalilzad habe den Taliban zu viele Zugeständnisse gemacht. Vor allem wurde bemängelt, dass den innerafghanischen Gesprächen keine Waffenruhe vorausgehen soll. Die Taliban hatten eine Waffenruhe abgelehnt. Sie befürchteten, diese könnte unter ihren Kämpfern zu früh den Eindruck erwecken, der Krieg sei so gut wie beendet. Khalilzad brachte die Taliban schließlich dazu, einer siebentägigen Phase der »Gewaltreduzierung« zuzustimmen.

Die drei Kriegsparteien hielten sich weitgehend an die Abmachung. Zwischen dem 22. und dem 28. Februar sank die Zahl der kriegsbedingten Zwischenfälle um etwa drei Viertel im Vergleich zu einer üblichen Kriegswoche im Februar. Es gab weder Selbstmordanschläge der Taliban noch Luftschläge der US- oder der afghanischen Truppen. Alle vermieden es, Zwischenfälle zur Krise hochzuspielen, alle wollten, dass die Waffenruhe ein Erfolg wird. Trump will den bislang längsten Krieg der USA beenden und Geld sparen, die Taliban wollen ihren stärksten Gegner aus dem Land haben. Aus ihrer Sicht könnten Friedensgespräche ein Schritt auf dem Weg zurück an die Macht sein. Die US-Truppen sind dabei das größte Hindernis.

Unmittelbar nach Unterzeichnung des Abkommens in Doha ergab sich ein neues Problem. Es geht um einen als »vertrauensbildende Maßnahme« vereinbarten Gefangenenaustausch. Bis zum 10. März sollten »zügig bis zu« 5 000 Taliban aus afghanischen Gefängnissen entlassen werden – im Austausch gegen »bis zu« 1 000 von den Taliban festgehaltene afghanische Polizisten und Soldaten. Khalilzad hatte diese Zusage an die Taliban aber offenbar nicht mit Ghani abstimmt. Der lehnte ab, denn eine Zustimmung hätte seine Position in den bevorstehenden Verhandlungen geschwächt. Bisher kam es nicht zu Friedensgesprächen. Die Taliban bestehen darauf, dass zuvor die 5 000 Gefangenen freigelassen werden, obwohl das Abkommen dies so nicht vorsieht.

Ghani schlug vor, die Gefangenen stufenweise zu entlassen – einige vor, weitere während der Verhandlungen. Auch das lehnten die Taliban ab. Am Sonntag fand auf Vermittlung von Khalilzad eine Videokonferenz zwischen technischen Teams der Taliban und der afghanischen Regierung statt, bei der es um den Gefangenenaustausch ging. Zu einer Einigung kam es nicht. Je länger sich der Verhandlungsbeginn verzögert, desto größer ist die Gefahr, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen wieder an Schärfe gewinnen.

Selbst wenn Khalilzad eine Lösung finden sollte, ist zu bezweifeln, ob das Abkommen und die durch dieses ermöglichten Verhandlungen den Krieg beenden können. Das Doha-Abkommen ist kein Friedensabkommen. Die USA lassen sich nur zusichern, dass ihre Truppen während des Rückzugs nicht von den Taliban angegriffen werden. Für die afghanischen Truppen gilt das nicht. Das kritisiert nicht nur die afghanische Regierung. Viele Afghaninnen und Afghanen werfen der US-Regierung vor, vor allem ihre eigenen Truppen schützen zu wollen. Es ist auch zweifelhaft, ob die Taliban Frieden wollen. Die geplanten Gespräche könnten für sie eine Option zur Rückkehr an die Macht sein. So lange noch Truppen der USA und ihrer Verbündeten die afghanischen Streitkräfte unterstützen und die Regierung im Amt halten, ist ein Durchmarsch der Taliban nach Kabul unwahrscheinlich. Eine Machtteilung auf politischem Wege könnte es ihnen erlauben, ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen durchzusetzen.

Viele in Afghanistan bezweifeln, dass diese sich nach dem Sturz der Taliban im Herbst 2001 grundlegend geändert haben. Zwar sprechen die Taliban inzwischen auch von Menschen- und Frauenrechten, aber immer im Rahmen des islamischen Rechts. Diese Einschränkung enthält allerdings auch die afghanische Verfassung. So stellt sich die Frage, wer letztlich bestimmen wird, welche Rechte und Gesetze sich im Rahmen des islamischen Rechts bewegen. Viele Afghaninnen und Afghanen befürchten, dass die Taliban sich durchsetzen werden. Die haben erklärt, sich ein Staatsmodell nach iranischem Vorbild vorstellen zu können: parlamentarisch, sogar mit Wählerinnen sowie Kandidatinnen. Über allem würde jedoch eine Art Wächterrat thronen. Der würde bestimmen, welche Kandidatinnen und Kandidaten islamisch genug sind, um sich zur Wahl aufstellen zu lassen. Seit ihrem Sturz haben die Taliban allerdings auch gelernt, dass sie nicht ohne jede Rücksicht auf die Bevölkerung regieren können. Sie haben sich in bestimmten Gebieten des Landes flexibel gezeigt und etwa Mädchenschulen nicht geschlossen.

Es könnte auch sein, dass die Taliban darauf hoffen, Trump werde angesichts komplizierter und langwieriger Verhandlungen die Geduld verlieren, die US-Truppen einseitig abziehen und die Zahlungen für die afghanische Armee und Polizei einstellen. Afghanistans Staatseinnahmen aus eigenen Quellen reichen nicht einmal aus, um deren Sold zu zahlen. Als Russlands damaliger Präsident Boris Jelzin 1992 die Zahlungen an seinen afghanischen Amtskollegen Najibullah einstellte, stürzte dessen Regierung binnen weniger Wochen.

Die Taliban halten den Druck auf die Regierung in Kabul indes hoch. Seit der Phase der »Gewaltreduzierung« haben sie in Worten wie in Taten deutlich gemacht, dass das Abkommen mit der US-Regierung die afghanischen Regierungstruppen nicht einschließt. Die Zahl der Angriffe stieg wieder – zwar nicht auf das vorherige Niveau, aber deutlich. Die Taliban halten sich offenbar auf einem Mittelweg und signalisieren damit, dass sie das Abkommen – und damit den US-Rückzug – auf keinen Fall gefährden wollen. Zudem stellten die Taliban klar, dass sie die afghanische Regierung nach wie vor nicht anerkennen und nicht mit ihr verhandeln wollen. Khalilzad hat diese Forderung akzeptiert. Er schlägt ein sogenanntes inklusives Verhandlungsteam vor. Neben Regierungsvertretern sollen auch andere in Afghanistan einflussreiche politische Gruppen mit am Verhandlungstisch sitzen.

Das Abkommen verwendet für die Taliban deren Eigenbezeichnung »Islamisches Emirat Afghanistan«, obwohl Washington darin festgeschrieben hat, dass es das Emirat »nicht als Staat anerkennt«. In den Augen der Kabuler Regierung handelt es sich dennoch um eine einseitige diplomatische Aufwertung der Taliban, während sie selbst zum Bestandteil eines inklusiven Verhandlungsteams herabgestuft wird. Ghani hat allerdings auch einiges zu seiner schwachen Verhandlungsposition beigetragen. In den vergangenen fünf Jahren seiner Amtszeit tat er alles, um zu verhindern, dass Afghanistans notorisch korrupte und deshalb weitgehend manipulierbare Wahlinstitutionen reformiert werden. Er hoffte offenbar, die Präsidentschaftswahl im September 2019 bei Bedarf auch mit unlauteren Mitteln gewinnen zu können. Im Februar sorgte er nach fünfmonatiger Auszählung dafür, dass die Wahlkommission ihn zum Sieger erklärte. Die Bewertung von 300 000 Stimmen blieb bis zuletzt umstritten – das ist ein Sechstel der 1,8 Millionen gültigen Stimmen. Ghanis Widersacher Abdullah Abdullah erhielt nur 200 000 Stimmen weniger als Ghani.

Letztlich führte Khalilzad die Entscheidung herbei, wer die Wahl denn nun gewonnen hatte. Als Ghani und Abdullah sich am 9. März – einen Tag vor dem geplanten Beginn der Gespräche mit den Taliban – als Präsidenten vereidigen ließen, tauchte er mit den Botschaftern der anderen Geberländer bei Ghani auf und machte diesen so zum international anerkannten Staatschef. Dafür, so heißt es in Kabul, bot Ghani Abdullahs Anhängern Plätze im Verhandlungsteam an. Abdullah hat sich bisher jedoch nicht zu einer Koalition mit Ghani bereit erklärt. Die beiden Politiker hatten 2014 eine Regierung der Nationalen Einheit gebildet, die bis zur Präsidentschaftswahl im September bestand. Am Montag flog US-Außenminister Pompeo nach Kabul. Nach einem gescheiterten Vermittlungsversuch stellte er Ghani und Abdullah ein Ultimatum, sich auf ein erneute Koalitionsregierung zu einigen und so Friedensgespräche mit den Taliban zu ermöglichen. Dem verlieh die US-Regierung mit einer Sofortkürzung von einer Milliarde US-Dollar an Hilfsgeldern Nachdruck. Auch eine Überprüfung aller anderen Hilfsprogramme wurde angekündigt.

Das Kabuler Chaos zeigt, dass Afghanistans politisches System auch im 19. Jahr der US-geführten Militärintervention nicht funktioniert. Die US-Regierung trägt ein hohes Maß an Verantwortung dafür. Die Taliban können gestärkt in Friedensgespräche gehen. Viele Afghaninnen und Afghanen befürchten, dass man sich bei den Gesprächen darauf einigen könnte, ihre – häufig ohnehin nur auf dem Papier stehenden – verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten abzuschaffen. Zumal die Taliban nicht die einzigen Islamisten sind, die mit am Verhandlungstisch sitzen werden.