Ein Gespräch mit Charly Wierzejewski über die politische Stimmung in der BRD Anfang der Siebziger und seine Rolle im Film »Supermarkt«

»Schauspieler zu sein, hat mich nie wirklich interessiert«

Charly Wierzejewski wurde mit 16 Jahren in die politischen Auseinandersetzungen der ausgehenden sechziger Jahre der Bundesrepublik hineingezogen. Er war politisch aktiv, Leibwächter von Rudi Dutschke und Schauspieler. In Roland Klicks Film »Supermarkt«, der im Januar 1974 in die Kinos kam, spielte Wierczejewski die Hauptrolle, seine erste Filmrolle überhaupt, sechs Jahre nach 1968, kurz vor dem Deutschen Herbst und sechs Jahre bevor Bernd Eichinger im deutschen Film das Ruder übernahm.

»Supermarkt« ist ein in Deutschland bisher unerreicht gebliebener urbaner Actionthriller. Der von dir gespielte Protagonist Willi ist ein Ausreißer, der, knapp der Polizei entkommen, eine Odyssee durch das Hamburger Nachtleben antritt. Ein liberaler Journalist, ein reicher Homosexueller und ein Kleingangster buhlen um Willis Gunst. Der verliebt sich aber in die von Eva Mattes gespielte Monika. Der Ausweg aus seiner prekären Situation scheint ein riskanter Überfall zu sein. Wie hast du die Revolten der sechziger Jahre miterlebt, bevor du Hauptdarsteller des Films wurdest?

»Den Jugendlichen aus den Heimen stand natürlich erst mal gar nicht der Sinn danach, von diesen Studierenden resozialisiert zu werden. Nach der Heimerfahrung wollten die eher Freiheit und ein Boheme-Leben.«

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, habe 14 Geschwister und bin in einem Erziehungsheim aufgewachsen. Als Jugendlicher saß ich in einem Lehrlingswohnheim in Bremerhaven. Im März 1969 kam ich von dort nach Frankfurt. Mein politischer Hintergrund liegt in der sogenannten Heimkampagne. Ab 1969 begannen linke Studenten ausgehend von Frankfurt auf die Zustände in den Erziehungsheimen hinzuweisen und holten die Jugendlichen aus diesen Heimen hinaus und in ihre Kommunen. Der Film »Bambule« von Ulrike Meinhof fällt genau in diese Zeit. In Frankfurt kam ich dann in den Kreis der ersten RAF-Generation. Die Heimkampagne gehörte zur auf Herbert Marcuses Überlegungen beruhenden Randgruppenstrategie, bei der bürgerliche Studierende versuchten, auf das Industrieproletariat und die Jugend in der Heimerziehung zuzugehen und diese politisch zu agitieren. Zuzugehen ist aber vielleicht der falsche Begriff, denn die Studierenden haben einen regelrecht umschwirrt. Gleichzeitig stand den Jugendlichen aus den Heimen natürlich erst mal gar nicht der Sinn ­danach, von diesen Studierenden resozialisiert zu werden. Nach der Heim­erfahrung, in der Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung waren, wollten die eher Freiheit und ein Boheme-Leben.

Roland Klick war zeitweise in einem ähnlichen Kontext engagiert, der Münchener »Kommunengruppe Südfront«. Seine Zeit dort wollte er filmisch verarbeiten und ein gemeinsamer Freund machte uns miteinander bekannt. Ich war gerade selbständig, arbeitete bei der Roten Hilfe und hatte aber vor allem auf eines Lust: ein Abenteuer.

Roland Klick und Sie haben die Heimkampagne nach 1968 gewissermaßen aus entgegengesetzter Perspektive wahrgenommen und dann zusammengefunden. Herausgekommen ist ein Film, der alles beinhaltet, was mitreißendes Kino ausmacht. In »Supermarkt« sieht die deutsche Großstadt im Film tatsächlich amerikanisch aus, er erinnert an Filme von William Friedkin oder Don Siegel. Ist »Supermarkt« vielleicht nicht trotzdem, sondern gerade deshalb ein so radikal politischer Film?

Wir lernten einander 1972 kennen, Roland gefiel mein Aussehen, meine Art, mich zu bewegen, und natürlich hatten er wie ich Erfahrungen in diesem Milieu gemacht. Dann passierte ein halbes Jahr lang nichts. Schließlich machten wir Probeaufnahmen und Klick sagte, ich habe die Rolle. Gedreht wurde 1973 in Hamburg, auf der Reeperbahn, in St. Pauli, das waren alles Originalschauplätze. Hamburg ist bis heute Klicks Wahlheimat geblieben.

»Baader hatte etwas von Alain Delon. Er kam gut an bei Frauen, hat sie aber auch genau so behandelt wie die abgebrühten Protagonisten in den Filmen Jean-Pierre Melvilles.«

Roland wollte keine beobachtende Distanz, was ihn von vielen deutsche Regisseuren zu der Zeit unterschied. Er umschwirrte auch nicht, sondern er hatte eine Sensibilität, die auf eine filmische Nähe hinauslief. Dass man sich als bürgerlicher Linker ein paar Marginalisierte auserkor, um diese dann zu beobachten und sich moralisch besserzustellen, war ihm fremd. Er war moralisch absolut integer und ist ein wahnsinnig intelligenter Mann. Klick konnte sich auf eine empathische Art mit Menschen anderer Klassen oder aus anderen Milieus ins Benehmen setzen. Insofern war der Film natürlich auch eine Spitze gegen eine gewisse linke Klientel. Und ja, natürlich sollte der Film unterhalten. Wir haben angesetzt an einer individuellen Geschichte, die in ihrer Dynamik immer mehr um sich greift, bis die politische Dimension notwendigerweise zum Vorschein kommen musste. Als Regisseur besaß Klick eine sensible Leidenschaft und einen strikten Perfektionismus zugleich. 25 Takes pro Einstellung waren Usus. Als es einmal partout nicht weiterging, sagte er zu uns, kommt, wir machen mal zwei Tage Pause. Und das, obwohl das Budget des Films sich auch aus privaten Mitteln und geliehenem Geld zusammensetzte. Roland ging aufs Ganze, wenn er einen Film drehte, er riskierte mit jedem Film seine eigene Existenzgrundlage.

»Supermarkt« wurde ein Erfolg bei den Kritikern, bekam den Bundesfilmpreis und viele aus Cast und Crew machten Filmkarriere. Eva Mattes ist heute ein Star des deutschen Kinos, der Kameramann Jost Vacano ging nach Hollywood und drehte mit Paul Verhoeven. Wollten Sie den gleichen Weg einschlagen?

Ich bin sehr stolz auf den Film und auf die Kritiken. Der Spiegel bezeichnete mich als James Dean in Hamburg. Es gab gleich zwei Bundesfilmpreise, denn die großartige Eva Mattes hat ja für ihre Darstellung auch einen bekommen. Der deutsch-israelische Schauspieler Michael Degen, der den Journalisten spielte, war ebenfalls grandios. Jost Vacanos Kameraarbeit war unglaublich. Insgesamt habe ich den Film wahrscheinlich zweimal gesehen in meinem Leben. Zur Hamburger Premiere bin ich gar nicht hingegangen, habe aber meine Mutter da hingeschickt. Die war sehr stolz auf mich. Danach habe ich hier und da noch gedreht, unter anderem mit meinem Freund Marquard Bohm für Michael Fenglers »Schattenboxer«. Mit Bohm arbeitete ich auch eine Zeitlang für den Münchner Filmverlag der Autoren. Als Rudi Dutschke 1973 aus Aarhus nach Deutschland zurückkehrte, wurde ich zeitweise sein Leibwächter. Danach habe ich in Westberlin Kneipen und Cafés geführt, in denen sich Filmleute und Künstler trafen. Schauspieler zu sein, hat mich nie wirklich interessiert.

»Supermarkt« markierte einen Zeitenwechsel für den deutschen Film, aber auch für die Studentenbewegung, die zerfallen war und aus der sich der deutsche Linksterrorismus entwickelte. Der Regisseur Klaus Lemke, der Andreas Baader aus Münchner Tagen kannte, hat einmal gesagt: »Dass Baader Terrorist wurde und ich selber Regisseur, hätte auch umgekehrt passieren können.« Tatsächlich hatten viele Linksterroristen eine Affinität zum Film. Holger Meins studierte an der Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin, genau so wie der Schweizer Filmemacher Philip Werner Sauber von der Bewegung 2. Juni, der 1975 auf einem Kölner Parkplatz von der Polizei erschossen wurde. Klick politisierte derweil den Actionfilm. Der Produktionsprozess von »Supermarkt« ging aufs Ganze und das Ergebnis war ein Befreiungsschlag des Kinos. Haben Baader, Meins und Sauber ihre Politik mit den Mitteln eines Gangsterfilms in Szene gesetzt?

Das hat Baader mit Sicherheit so angelegt. Die Samthosen, die Baader und Philip Sauber trugen, waren noch ein Überbleibsel der Hippiemode. Dazu kam eine Lederjacke und ein gebrauchter, schwarzer 220 SE Mercedes, für 2 000 DM. Baader hatte etwas von Alain Delon. Er kam gut an bei Frauen, hat sie aber auch genau so behandelt wie die abgebrühten Protagonisten in den Filmen Jean-Pierre Melvilles. »Der eiskalte Engel« oder »Der Samurai« zu sein, genauso wie Lino Ventura und die hard-boiled men des Film Noir aufzutreten, das hat ihm gefallen.

Das Resultat war eine Politik, die dem, was man in »Supermarkt« sah, oder auch den Versuchen, über die eigene Klasse hinweg mit anderen Klassen ins Gespräch zu kommen, diametral entgegenstand. Stattdessen herrschte ein kalter Heroismus des Klandestinen, des Einzelkämpferschicksals vor. Woher kam diese Anfälligkeit dafür?

Baader zumindest war Halbwaise, wir waren da aufgrund unseres familiären Backgrounds auf einer Wellenlänge und haben in Frankfurt eine wilde Zeit miteinander verbracht. Aber natürlich war die RAF abgehoben und streng hierarchisch aufgebaut. Das Problem der meisten, die es in den sogenannten bewaffneten Kampf gezogen hat, war ihr Unglücklichsein mit der eigenen Klasse. Das waren ja alles Bürgerkinder. Philip Sauber haderte sehr stark mit seinem großbürgerlichen Elternhaus in der Schweiz. Die Leute haben nicht verstanden, dass man auf eine Art immer Kind seiner Klasse bleiben wird, was ja im Grunde genommen auch nicht schlimm ist. Aber anstatt ein Bewusstsein über seinen Klassenhorizont hinaus aufzubauen, wurden diese Leute immer weiter in die Matrix ihrer Klassenherkunft zurückgesogen. Daraus entstand die Haltung, man müsse die nach 1968 ins Stocken geratenen politischen Prozesse nun mit Bravour im stummen Alleingang zu Ende bringen. Das hatte natürlich Konsequenzen.

Das Ende mit dem Deutschen Herbst wird in vielen Teilen der Linken immer noch mythologisiert. Bieten sich nicht gerade die Mythen des Kinos zu dessen Entzauberung an? Ich denke nicht nur an Delon und Melville, auch an den Freitod der Figuren von Jean-Paul Belmondo in den Filmen von Jean-Luc Godard: Personen, denen ihr unausweichliches Schicksal schon in der Auftaktszene bestimmt war.

Ich sehe das Ende der Stammheimer insofern ganz profan und bodenständig. Wer versucht, die Welt auf die Art, wie sie es taten, aus den Angeln zu heben, der muss die Kon­sequenzen auch tragen. Viele in der Szene wollen das nicht wahrhaben und schwadronieren bis heute vom angeblichen »Mossad-Mord im siebten Stock«. Das ist natürlich ausgemachter Blödsinn. Die anderen, die überlebt haben, führen ein isoliertes Schattendasein, die sind allein.

Auch Roland Klick kämpfte derweil gegen einen übermächtigen Mythos an. Rainer Werner Fassbinder war 1982 gestorben und die gut vermarkteten Filme des Produzenten Bernd Eichinger forderten Tribut. Eichinger feuerte Klick 1980 vom Regiestuhl für »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Klicks sensibles wie leidenschaftliches Kino verschwand.

Klicks Version der »Kinder vom Bahnhof Zoo« wäre ein ganz anderer Film als der von Uli Edel geworden. Eichinger hatte in letzter Sekunde ­einen Rückzieher gemacht. Er fürchtete, dass Klicks Film kein Kassenschlager werden würde. Auf eine Art hätte es in den Achtzigern einen Film wie »Supermarkt« noch einmal gebraucht und zugleich war klar, dass man so keine Filme mehr würde drehen können. Die Geschundenen, die Geschlagenen aber gibt es immer noch. Gesellschaftlich hat sich nichts verbessert, eher verschlechtert. Die Unterschiede haben sich verfestigt. Für meine eigene politische Einstellung brauche ich ­keine große marxistische Terminologie mehr zu bemühen. Solidarität, füreinander da zu sein, aufeinander zuzugehen, das ist, was ich aus dieser Zeit für mein Leben mitgenommen habe und was entscheidend ist. Auch wenn man das Ziel nicht erreicht, das ist gar nicht so wichtig. Seit Hunderten von Jahren ziehen Leute in die Welt hinaus, mit großen Vorhaben, und scheitern daran. ­»Supermarkt« haben wir aber doch gedreht und der Film ist revolutionär. Wenn die Leute rausgehen und ein kleines bisschen verändert sind, dann ist das wunderbar. Letztlich ist alles anders gekommen, als wir uns das vorgestellt hatten. Aber wenn man daran denkt, dann läuft es einem ganz schön den Rücken herunter.
 

»Supermarkt« kann auf der Internetseite der Filmgalerie 451 gestreamt werden. Eine Blu-Ray ist in Vorbereitung.


Roland Klick (rechts) während der Dreharbeiten zu »Supermarkt«

Roland Klick (rechts) während der Dreharbeiten zu »Supermarkt«

Bild:
dpa

 

Roland Klick, geboren 1939, inszenierte sich als Antagonisten des deutschen Autorenfilms der sechziger Jahre, der das Heile-Welt-Kino der Wirtschaftswunderjahre gegen biedere Distanzbeobachtungen eintauschte. Klicks erster Langfilm »Bübchen« tauchte 1968 ein in die Mechanismen von Schweigen und Gewalt bei einer bundesdeutschen Mittelstandsfamilie. In der Negev-Wüste, unter dem Schutz des israelischen Militärs, drehte Klick 1970 seinen tripartigen Spätwestern »Deadlock« (mit einem Soundtrack von Can), der ihm Anerkennung von Steven Spielberg und die Missgunst deutscher Jungregisseure einbrachte. 1973 drehte er in Hamburg »Supermarkt«, einen Film, der in Form eines gelungenen Thrillers die linken Hoffnungen in die Politisierung gesellschaftlicher Randgruppen, vor allem jugendlicher Außenseiter, einer kritischen Revision unterzieht. In der Hauptrolle war Charly Wierzejewski zu sehen. 1983 arbeitete Klick für den Punk-Abgesang »White Star« mit Dennis Hopper. 1989 zog er sich aus dem Film­geschäft zurück und unterrichtete seitdem an Filmhochschulen.