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Theodor W. Adornos Ästhetik bewegte sich zwischen dem Begehren der Psychoanalyse und der Idee der Philosophie. Zweiter Teil einer Serie zum 50. Jubiläum der 1970 erschienenen »Ästhetischen Theorie« von Theodor W. Adorno.
Über Kunstwerke zu schreiben, ist die eine Sache. Man lobt die Sozialkritik im neuesten Film aus Südkorea oder verreißt den Bühnenklamauk der hiesigen Theater, man empfiehlt den aufregendsten musikalischen Genremix oder sinniert über eine als Entdeckung der Moderne angepriesene Gemäldeausstellung. Für die Erörterung und Beurteilung einzelner Kunstwerke am besten geeignet ist die kleine Form des Essays oder der Kritik. Über Kunst als solche zu schreiben, ist eine andere Sache. Da abstrahiert man vom einzelnen Werk und beschreibt eine historische Tendenz, es verlangt nach Begriffen. In der Moderne spricht man für gewöhnlich vom Ästhetischen, und dessen geflissentliche Erörterung hat in keinem Land dieser Erde derart viele bürgerliche Gehirne beschäftigt wie in Deutschland. Diese Obsession folgte unmittelbar aus der Unfähigkeit des Bürgertums, sich in Staat und Wirtschaft von Hof und Adel zu emanzipieren. Wohin also mit den hehren Idealen, wenn die Wirklichkeit verstellt ist? Ins Ästhetische. Die englischen Kaufleute brachten den Pragmatismus hervor und das aufsässige französische Bürgertum den Rationalismus. Die deutschen Vertreter derselben Klasse versuchten, ihren in den Innenbereich oder die luftige Zukunft verschobenen Überlegenheitsanspruch mit dem Ästhetischen zu legitimieren, während sie in der Realität kleinlaut blieben.
Indem Adorno weder das Begehren für inferior noch die Idee für irreal erklärt, löst er das Programm einer dialektisch-materialistischen Ästhetik ein. Es ist wie mit der Liebe.
Ästhetik, eine deutsche Disziplin? Als vor 50 Jahren die »Ästhetische Theorie« Theodor W. Adornos erschien, stand dieses Werk in einer Reihe mit Baumgarten, Kant, Schiller und Hegel. An etwas Vergleichbarem hatte sich zu Adornos Zeiten nur Georg Lukács mit seiner »Eigenart des Ästhetischen« versucht, der geistig auch in Deutschland heimisch war. Adorno wollte weder das Ästhetische als Zauberland bürgerlicher Idealität anpreisen noch es als bloße Ideologie entlarven. Sein Anliegen war eine »materialistisch-dialektische Ästhetik«, wie es am Beginn der »Ästhetischen Theorie« heißt. Nach Hegel, Marx und Engels heißt Dialektik – kurz zusammengefasst – Denken in Widersprüchen und Materialismus, Vorrang der faktischen Produktion vor dem Denken, also geht es – ebenso kurz zusammengefasst – um das Produzieren von Widersprüchen. Und damit wäre man bei der Kunst. Bei diesem marxistischen Vorhaben war sich Adorno der ideologischen Aspekte des Ästhetischen durchaus bewusst. »Allein die Zentrierung meines Interesses in Ästhetik, die freilich meiner Neigung entspricht, hat zugleich etwas Ausweichendes, sich Entziehendes, Ideologisches noch vor allem Inhalt«, notierte er 1960. Den letzten deutschen Bürgern ging es nicht anders als den ersten, ihre Ambitionen richteten sich auf die Kunst.
Doch war Adorno darüber hinaus einer Sache auf der Spur, die bei seinen Nachlassverwaltern kaum mehr als Befremden auslöste. Jürgen Habermas konnte weder mit der »Negativen Dialektik« noch der »Ästhetischen Theorie« etwas anfangen. Adorno aber zählte gerade diese beiden Werke zu dem, was er in die Waagschale zu werfen habe, wie er bekannte. Und das hängt mit der Frage der Erkenntnis und der Kritik der bürgerlichen Rationalität zusammen. In der Kunst erblickte Adorno einen anderen Zusammenhang der Dinge. Die ästhetische Logik sei eine »Logik eigener Art, die Logik eines in sich motivierten Sinnzusammenhangs«, sagte er in einer Ende der fünfziger Jahre gehaltenen Vorlesung über Ästhetik. Wie in der Mathematik könnte man eine solche Logik eine schwächere nennen. Unlogisch ist sie keinesfalls. Adorno hatte wenig Interesse, die Mär von der Kunst als Hort des Irrationalen wiederaufzubereiten. Im Gegenteil wollte er zeigen, dass die Kunst ihre eigenen Verfahren hat. Nur so lässt sich verstehen, dass Adorno weder dem gegenstandslosen Konstruktivismus und dem bloß Zufälligen der Aleatorik noch dem starren Konservatismus und dem schablonenhaften Kunstgewerbe das Wort reden wollte.
»Kunst ist«, so Adorno, »das drastischste Argument gegen die erkenntnistheoretische Trennung von Sinnlichkeit und Verstand.« Mit dem Problem der falschen Trennung von Gefühl und Verstand plagte sich Adorno nicht exklusiv herum, es war beispielsweise der Ausgangspunkt der Erneuerung des Theaters durch Bertolt Brecht. Das von der Vernunft getrennte Gefühl wird bloße Gefühligkeit und die von der Erfahrung getrennte Vernunft bloßes Maschinendenken. Auf der Spur einer Logik jenseits dessen musste Adorno auf die Psychoanalyse zurückgreifen, die mit der Erforschung des Sexuellen ein ähnliches Vorhaben verfolgte. Sie zeigte eine andere Logik des Subjekts auf – von der klinischen Methode bis zu einer umfassenden Kulturtheorie. Auf die Psychoanalyse nimmt Adorno in der »Ästhetischen Theorie« mehrfach Bezug. Deren damals populäre Kunsttheorie lehnt er hingegen ab. Diese fasse alles Phantasieren nur als Realitätsflucht auf und leite es aus dem Unbewussten des Künstlers ab, so Adorno. Dagegen führt er Kants These von der Interesselosigkeit an, welche die Kunst von Küche und Pornographie abhebe und ins Überindividuelle führe. Das ist kaum ein Einwand gegen die Psychoanalyse selbst, sondern gegen eine vulgarisierte Form derselben. Bei Adorno ist das Phantasieren nicht Flucht vor der Realität, sondern ein anderer Zugang zu ihr. In dieser Hinsicht trifft er sich mit dem Zweig der Psychoanalyse, der sich mit Freud gegen die ich-psychologische Revision von dessen Denkens wendete.
Die Auseinandersetzung mit Freud und Kant zieht sich durch die »Ästhetische Theorie«. Sie repräsentieren das Kraftfeld zwischen dem Begehren und der Idee. In der ästhetischen Verhaltensweise, so Adorno, vermählen sich Eros und Erkenntnis, ein »vom Anderen Angerührtsein«, das mittels der Mimesis über die Grenzen verdinglichter Subjektivität hinausführt. Indem Adorno weder das Begehren für inferior noch die Idee für irreal erklärt, löst er das Programm einer dialektisch-materialistischen Ästhetik ein. Es ist wie mit der Liebe: Ein Materialismus, der sie zu einem bloßen Trugbild oder einer schlichten Maskierung des Trieblebens erklärte, würde das Phänomen missverstehen. Denn in der libidinösen Besetzung der Idee wird die Möglichkeit von Erfahrung gestiftet. Der oder die Geliebte muss keiner abstrakten Idee entsprechen, sondern diese realisiert sich in der Spannung zur Individualität. Adornos Materialismus behauptet nicht die Unwirklichkeit des Geistigen und stellt ihr die Immanenz des Materiellen entgegen. In einem solchen Sinne könnte man einwenden, dass eine Idee noch keinen Hunger stillt. Doch auch Brot hilft nicht gegen Durst. Jedes Bedürfnis ist auf adäquate Befriedigung angewiesen. Und der Kunst ist eigen, dass sie solche gewährt, indem sie zugleich Befriedigung verwehrt. Ihr Vorgriff findet in der Phantasie statt, setzt Leib und Geist in ein gespanntes Verhältnis. Wenig verwunderlich, dass Spannungsverlust einer der großen Kritikpunkte Adornos an der neueren Kunstentwicklung war.
Der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton schrieb einmal, dass es in der Moderne drei große Fragen gebe: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Wozu fühlen wir uns hingezogen? Die ersten beiden Fragen betreffen Wissen und Moral, die dritte hingegen das Libidinöse, das dem Ästhetischen zugeordnet ist. Keineswegs nebensächlich ist dann, was genau in der Kunst als begehrenswert erscheint. Adornos »Ästhetische Theorie« ist ohne die zusammen mit Max Horkheimer verfasste Kritik der Kulturindustrie als Theorie der sozialen Kontrolle der Beherrschten mit künstlerischen Mitteln kaum zu verstehen. So muss die Ideologiekritik einzelner Werke neben manifesten Gehalten auch die subtile Lockung und Einhegung des Trieblebens durch die Form berücksichtigen. In der Kunst liegen Aufklärung und Gegenaufklärung im Widerstreit. Sind es Herrschaft und Knechtschaft, die als begehrenswert erscheinen, oder ist es ein Zustand jenseits dessen? Ohne den Fluchtpunkt der kommunistischen Utopie fiele eine dialektisch-materialistische Ästhetik in sich zusammen. Sie beweist somit ihre eigene These, dass ohne das Begehren auch die Idee verloren wäre, dass Erkenntnis auf Eros verwiesen ist.