Erinnerung an den verstorbenen Komponisten Ennio Morricone

Der Maestro und die Rocker

Von Uli Krug

Ennio Morricone hat nicht nur über 500 Filmmusiken komponiert, er hat auch, ohne es zu wollen, Italien der Rockmusik erschlossen. Dieser Weg führt von Trastevere über Darmstadt nach Cinecittà.

Fast alle Musiker und Komponisten mühen sich zeitlebens, einen sogenannten signature sound zu kreieren, die meisten scheitern daran. Den am vorvergangenen Sonntag verstorbenen Ennio Morricone hingegen unterschätzt man fundamental, wenn man ihn und sein Werk auf ein paar seiner einprägsamen Filmthemen reduziert, wie etwa die beiden thematischen Hauptstücke des Soundtracks für »C’era una volta il West« (1968, deutscher Verleihtitel: »Spiel mir das Lied vom Tod«): das Instrumental »L’uomo dell’armonica« und die Titelmelodie, eine wortlose ­Ballade, gesungen von der Sopranistin Edda Dell’Orso. Aber es gibt wohl auch kaum einen Superlativ, dem das Werk des enorm produktiven Morricone nicht gerecht würde: Er schrieb über 500 Filmmusiken, prägte die Neue Musik Italiens mit Kammermusik, Oratorien und Opern und gehört zugleich zu den erfolgreichsten Arrangeuren und Bandleadern der italienischen Popmusik. Sein eigener Kommentar zu diesem enormen Œuvre fiel gewohnt bescheiden aus. Nachdem er 2016 den Ehren-Oscar erhalten hatte, sagte er in einem Interview nur zurückhaltend: »Ich komponiere eben gern. Ich kann ja auch nichts anderes.«

Das Studium am Konservatorium ließ Morricone zum glühenden Vertreter der musikalischen Avantgarde werden und bestärkte ihn darin, mit Konventionen zu brechen, aber eben nicht in auftrumpfender Manier, sondern als eine Art Maulwurf der Neuen Musik im Terrain der Gebrauchsmusik.

Mehr Understatement geht kaum, betrachtet man Morricones Lebenslauf: Der 1928 geborene Sohn einer proletarischen Familie wuchs in Trastevere auf, dem traditionellen Arme-Leute-Viertel Roms. Verwinkelt, gammelig, in einem Wort: der perfekte Schauplatz neorealistischer Sozialdramen. Morricone lernt von seinem Vater, Hilfsarbeiter und Freizeitmusiker, die Anfangsgründe des Trompetenspiels. Früh beginnt er zu komponieren und die vielen Geräusche der Umgebung voller kleiner Werkstätten, lärmender Kinder und einfacher Bars musikalisch zu verarbeiten. Es gelingt Ennio Morri­cone schließlich, ein Stipendium für das Konservatorium Santa Cecilia zu bekommen, er absolviert das Studium der Konzerttrompete und das der Komposition; damit darf er nach italienischem Brauch den Titel ­»Maestro« führen, der ihm im weiteren Leben zum Spitznamen werden sollte. Früh verheiratet und früh Vater, musste er Geld verdienen, ob nun als Bartrompeter in Tanzrestaurants oder später als Arrangeur für das staatliche Fernsehen RAI und die italienische Filiale des US-amerikanischen Musikkonzerns RCA; erste Aufträge für Filmkompositionen kamen aus Cinecittà, dem italienischen Hollywood, damals noch vor den Toren Roms gelegen.

Obwohl das nach Konvention und Konfektion klingt, bleibt Morricone ein leidenschaftlicher Ton-Experimentator: Das Studium am Konservatorium ließ ihn zum glühenden Vertreter der musikalischen Avantgarde werden, einem »darmstadtiano« (wie man sie in Italien nannte, nach den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt), und bestärkte ihn darin, mit Konventionen zu brechen, aber eben nicht in auftrumpfender Manier, sondern als eine Art Maulwurf der neuen Musik im Terrain der Gebrauchsmusik. Das, was Morricones Kompositionen und Arrangements ausmachte, verdankte er nicht zuletzt einem Sommer in Darmstadt. John Cage gab 1958 dort einen Kurs samt skandalösem Konzertauftritt, bei dem die Notenblätter leer waren und Cage lediglich die Geräusche des nervösen Publikums als Partitur präsentierte. Morricone war begeistert, fühlte sich bestärkt in seinen eigenen kompositorischen Ideen, die dafür sorgten, dass die Filmmusiken des Maestro sich von allen anderen deutlich unterschieden: durch die Emphase auf der einzelnen Geste, die Einbeziehung des Zufälligen, die Verarbeitung unkoventioneller Klänge und die extrem dynamische Kontrastierung von Stille und Getöse.

Verdankt Morricone einen ihrer größten Hits: Die Sängerin Mina

Bild:
gemeinfrei

Deutlich ohrenfällig werden diese neuartigen Qualitäten in einer Filmmusik, die nicht mehr nur dem gespielten Geschehen folgt, sondern ihm regelrecht vorausgeht, nämlich der zum ersten Western eines Mitschülers Morricones aus Trastevere: Sergio Leones »Per un pugno di ­dollari« (1964, »Für eine Handvoll Dollar«), ein Billigexperiment, ­gedreht in der südspanischen Wüstenei, das als von den Kritikern ver­rissenes B-Movie dennoch das Kino revolutionieren sollte. Der Haupt­darsteller Clint Eastwood, seinerzeit ein wenig glamouröser US-ameri­kanischer Cowboy-Darsteller, erinnerte sich an die ungewöhnlichen Dreharbeiten: »Da war diese laute Musik, die wurde vor jeder Einstellung gespielt, um uns klarzumachen, wie wir agieren sollten.« Diese Musik, die vor- und nicht nachkomponiert worden war, glich die billige Staffage zusammen mit den extremen Einstellungen von Leones Kamerateam nicht nur aus, sondern sie transformierte das ärmlichen Ganze, das ­eigentlich nach unfreiwilligem Spar­zwang aussah, zum Objekt eines ebenso scharfen wie hypnotischen Surrealismus.

Nicht nur erinnerte der Soundtrack Morricones an lautmalerische ­Musique concrète, auch spielte die elektrische Gitarre eine bis dato ­ungewohnte tragende Rolle. Diese Techniken perfektionierte der Maestro, der bald auch »principe di cinecittà« (Fürst von Cinecittà) genannt werden sollte, bei folgenden Arbeiten im boomenden Genre Italowestern, vor allem im Soundtrack zum Welterfolg »Il buono, il brutto, il cattivo« (1966, internationaler Titel: »The Good, the Bad and the Ugly«, in Deutschland: »Zwei glorreiche Halunken«), der nicht zuletzt die lautschöpferischen Qualitäten der E-Gitarre ausreizt.

»Vielen mag es seltsam erscheinen, aber diese Western-Soundtracks sind Arbeiten komplett aus dem Geist der Avantgarde«, sagte Morricone in einem zeitgenössischen Interview zutreffend. Aber der stets neugierige Morricone hatte sich eben auch mit Klängen beschäftigt, die den fiktiven US-amerikanischen Südwesten, in dem die Italowestern nahezu immer angesiedelt waren, besonders finster und feindlich klingen lassen sollten, und war dabei sozusagen auf die Nachtseite des Rock ’n’ Roll gelangt. Morricone kannte zwar auch die zornige Folklore Woody Guthries, direkten Einfluss auf die Soundtracks aber nahmen vor allem die Instrumentals der frühen Düster-Rocker: Duane Eddy, Link Wray oder Dick Dale, die bereits das Repertoire bedrohlicher, metallisch verzerrter Klänge auf der elektrischen Gitarre exploriert hatten (und deren Finsterling-Image nicht zuletzt auch die Figurenzeichnung der frühen Italowestern beeinflusste).

So bahnte sich die E-Gitarre – in ihrem Gebrauch als melodietragendes Volumeninstrument – erst durch den Western all’italiana ihren Weg langsam in die italienische Populärkultur; das hatten noch nicht einmal die Beatles vermocht, deren Singles sich in Italien lange Zeit nicht gegen die heimischer Interpreten durchsetzen konnten. Kann man deshalb aber eine so gewagte These aufstellen wie der italienische Popkritiker und Ausstellungskurator ­Valerio Mattioli 2016 in seinem Grundlagenwerk »Superonda. Storia segreta della musica italiana« (Geheime Geschichte der italienischen Musik; »Superonda« ist der Produktname eines italienischen Pop-Art-Sofas aus dem Jahr 1967)? Mattioli, unter anderem Übersetzer von Mark Fishers Schriften ins Italienische, versieht ein Kapitel von »Super­onda« mit der Überschrift »Come Ennio Morricone rischiò di inventare il rock all’italiana« – zu Deutsch: als Ennio Morricone es wagte, den italienischen Rock zu erfinden.

Eine Erfindung, die, wenn überhaupt, als völlig unwillentliche angesehen werden muss, wie es der Experimentalmusiker Alan Bishop ausdrückte: Morricone habe einen »einzigartigen und überaus eigenwilligen Typus Rock erfunden – und das höchstwahrscheinlich auf unbewusste Weise«. Denn es gab keinen Plan und kein Interesse Morricones, sondern – größtes Kompliment an einen Komponisten – es war der autonomen Wirkung der von ihm verwendeten musikalischen Mittel geschuldet.
Und doch verwenden Mattioli und Bishop den Begriff »erfinden« mit Grund, denn die populäre Musik Italiens hatte bis weit in die sechziger Jahre hinein mit Rock ’n’ Roll oder Beat so viel oder besser so wenig zu tun wie Adriano Celentano mit Eddie Cochran oder gar Brian Jones. Dasselbe könnte und müsste man natürlich auch etwa von Peter Kraus ­sagen, doch lag die Sache in Deutschland ganz anders; hier drang die ­populäre Musik aus den Vereinigten Staaten und dem Ver­einigten Königreich in einen zutiefst feindlichen kulturellen Raum ein, in dem der Gegner aber extrem geschwächt war: die deutsche Mischung aus anzüg­licher Operette und auftrumpfender Militärmusik war in den Augen von immer mehr Teenagern desavouiert; Swing-Jazz und später Rock ’n’ Roll waren Formen der Neuorientierung, in den Augen der Alten häufig also eine Art akustischer Rassenschande.

Die Rassenlehre des italienischen Faschismus hingegen berief sich nicht auf germanische Barbarei, sondern auf das antike Rom, dessen protzige, aber dennoch funktional-geometrische Formensprache sich mit der Moderne einigermaßen vertrug. Mehr noch war der Faschismus den Italienern weniger Herzensangelegenheit aus finsterstem Grunde wie den nördlichen Verbündeten; das Anliegen Mussolinis, die italienischen Sitten und Gebräuche, in ­einem Wort: die Alltagskultur, zu militarisieren und sozusagen aufzunorden, scheiterte kläglich.

So blieb das Italien der Nachkriegszeit kulturell inhomogen, und das meint nicht nur die Tatsache, dass die Lebenswelten des Nordens und Südens nach wie vor miteinander nicht allzu viel zu tun hatten. Auch stand die prononcierte Modernität des Designs, der Alltagsgegenstände und der Architektur in Spannung mit der relativ ausgeprägten Traditionalität des Alltagslebens, was sich nicht zuletzt an den musikalischen Vorlieben zeigte. Sie waren stark verwurzelt im Belcanto-Stil und der Oper zum einen, zum anderen geprägt von der traditionellen neapolitanischen Volksmusik. Beides floss in die sogenannte canzonetta ein, wenn man so will, eine rhythmisierte und volkstümliche Variante von Opernarien, wie sie im 19. Jahrhundert als musikalische Triebkraft der bürgerlichen Umgestaltung und nationalen Einigung gewirkt hatten. Die canzonetta ist denn auch nicht zu vergleichen mit dem furchtbar schmissigen deutschen Schlager und nur bedingt mit dem französischen Chanson, der deutlich asketischer angelegt war.

Man war in Italien der amerikanisch-britischen Populärkultur nicht sonderlich feindlich gesinnt, es war nur schlicht kaum Platz für sie. Ernst nahm man den importierten Rock ’n’ Roll ohnehin nicht, seine ersten italienischen Vertreter wurden als eine Art Musik-Clowns betrachtet, als buffoni, die Lärm machten und eigen­artige Tänze aufführten. Man bezeichnete die entsprechenden Sänger und Sängerinnen als urlatore beziehungsweise urlatrice (»urlare« heißt brüllen). Wie grotesk beispielsweise Federico Fellini dieses Phänomen damals erschien, davon zeugt der Auftritt des blutjungen Adriano Celentano in »La dolce vita« (1960), der in der Rolle eines Rocksängers hier tatsächlich mehr an Jerry Lewis als an Jerry Lee Lewis erinnert.

Hier kommt nun der Erfinder Mor­ricone im Sinne Mattiolis ins Spiel: Als Arrangeur von Unterhaltungsmusik für RCA Italiana entdeckte er unter den urlatori spätere Stars wie Gianni Morandi, Rita Pavone oder Mina, betreute sie, ja, bildete sie aus. Er selbst, der Avantgarde-Komponist, lernte, wie man Ohrwürmer produzierte, wie man zugleich das Konventionelle unerwartet und das Unerwartete konventionell erscheinen lassen konnte, um nicht vor den Kopf zu stoßen und doch auch nicht zu langweilen.
Morricone begeisterte Mitte der sechziger Jahre nicht nur die E-Musik-Kritiker als Trompeter des Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza, des wohl ersten Improvisations­ensembles im Bereich der Neuen Musik, er landete zugleich zahlreiche Hits. Das beste Beispiel dürfte Minas Nummer-eins-Single von 1966, »Se telefonando« sein. Hier mischen sich die die Befähigung Morricones zur seriellen Komposition und sein ­lyrisches Talent; die Komposition spielt einen nahezu schwindeler­regenden Reigen an Permutationen von Taktzeiten und Akkordfolgen durch, ohne deswegen auf ein üppiges und gefühlsbetontes Orchester­arrangement zu verzichten. Damit aber bewegte er die Hörgewohnheiten des italienischen Poppublikums genau in jene Richtung, in der sich auch Beat- und Surf-Musik bewegten, zu anspruchsvolleren Kompositionen und neuen Klangfarben.

Morricone, der Avantgarde-Komponist, lernte, wie man Ohrwürmer produziert, wie man zugleich das Konventionelle unerwartet und das Unerwartete konventionell erscheinen lassen kann, um nicht vor den Kopf zu stoßen und doch auch nicht zu langweilen.

Ein drittes Argument, neben der Elektrifizierung und der qualitativen Fortentwicklung der urlatori, spricht für die These der unabsichtlichen Erfindung des italienischen Rock durch Ennio Morricone: Der Italowestern als jugendliches Massenphänomen veränderte Attitüden und Hörgewohnheiten so, dass eine verspätete Aufnahme des Rock möglich wurde, und zwar in einer Italien besonders kommensurablen Form, der des Acid Rock, der Psychedelik.

Man geht nicht fehl, wenn man die Italowestern als Schule eines neuen Hörens und Sehens begreift; sie waren kritisch und zynisch zugleich, in häufig verstörenden Fusionen aus beidem. Ebenso bizarr waren die Scores: voll flirrender Rauschhaftigkeit, maßlos, bedrohlich und sehnsüchtig. Sie verbanden die Gesten juveniler Aufsässigkeit mit den avancierten musikalischen Mitteln der Neuen Musik und der Intensität elektrischer Verstärkung und Verzerrung. Die psychedelische Atmosphäre wiederum machte die Italowestern auch im Heimatland des Western populär. Das Thema von »Il buono, il brutto, il cattivo« stand 1968 hoch in den Billboard Charts; deutliche Anklänge an Morricone und Co. waren beispielsweise bei den Acid-Rockern Quicksilver Messenger Service auf ihrem Meisterwerk »Happy Trails« (1969) deutlich zu hören

Die psychedelische Musik brachte so in einer Art Rückübertragung italienische Einflüsse nach Italien. Dieser italienische Rock, der so heftig und kurzlebig war wie das rote Jahrzehnt, das er vertonte, brachte die Klangwelten des italienischen Genre-Kinos und die Aspirationen einer Jugend zusammen, die dem traditionellen Familien- und Lebensmodell Italiens nicht mehr genügen wollte; er versuchte, Ernst zu machen mit den Versprechen, die in Italien die prononcierte Modernität der Mittel gaben – von der Olivetti-Schreibmaschine bis zu den futuristischen Möbeln: Die italienische Jugendsubkultur stieg da in den Rock ein, wo viele anderswo ausstiegen, da, wo der Rock, wie Morricone es einmal formulierte, »in seinem Inneren aus anderen Elementen besteht; gewonnen aus der sinfonischen Tradition, aus der Avantgarde und aus der experimentellen Musik«.

Das Jahr 1970 sah eine regelrechte Explosion von italienischen Rockbands, die ambitionierte Konzept­alben und Suiten aller Art produzierten; sie okkupierten die Studios von RAI, um sie herum bildeten sich regelrechte Gegenkulturen mit eigenen Festivals und eigener Infrastruktur. Einige der namhaftesten dieser Bands blieben dem Kino verbunden und arbeiteten beispielsweise mit Genre-Filmkomponist Luis Bacalov zusammen wie Osanna (»Preludio Tema Variazioni e Canzona«, 1972, zugleich Filmsoundtrack zu »Mailand, Kaliber 9«) oder Il Rovescio della Medaglia (»Contaminazione« 1973); Goblin wiederum kennt man heutzutage noch wegen der Soundtracks für Dario Argento. Wer hören will, was es mit Mark Fishers »acid communism« auf sich hatte, der leihe sein Ohr Area, Arti e Mestieri, Balletto di Bronzo, Banco del Mutuo Soc­corso oder Le Orme. Der Rock all’­italiana jedenfalls entstand nicht aus Rock ’n’ Roll oder R ’n’ B, sondern im Kino und für die operaistische Gegenkultur – ihr Ende war auch seines, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.