Das institutionelle und politische Chaos in Tunesien

Das institutionelle Chaos

Nach lediglich fünf Monaten im Amt trat der tunesische Ministerpräsident Elyes Fakhfakh zurück. Sein designierter Nachfolger Hichem Mechichi hat in dem von Machtkämpfen zerrissenen Parlament Probleme, eine Mehrheit zu sammeln.

Dieser Sommer dürfte in Tunesien noch ziemlich heiß werden, schrieb kürzlich die französischsprachige tunesische Tageszeitung Le Temps. In den kommenden Wochen wird sich erweisen, ob es dem designierten Ministerpräsidenten Hechim Mechichi gelingen wird, in einem stark fraktionierten Parlament eine Mehrheit für eine Regierungsbildung zu finden. Bringt er diese Mehrheit nicht innerhalb von 30 Tagen zuwege, müssen das Einkammerparlament, die Versammlung der Volksvertreter (Assemblée des représentants du peuple, ARP), aufgelöst und Neuwahlen angesetzt werden. Dies möchte eine Reihe politischer Parteien, aber nicht alle, vermeiden.

Am 15. Juli war der erst seit fünf Monaten amtierende sozialdemokratische Ministerpräsident Elyes Fakhfakh über den Vorwurf von »Interessenkonflikten« gestolpert. Der ausgebildete Ingenieur besitzt der Publikation Middle East Eye zufolge Anteile im Wert von 15 Millionen Dollar an Firmen, die Aufträge vom Staat erhalten haben.

Ende Juli hatten sich die Proteste dermaßen ausgeweitet, dass das Energieministerium mitteilte, die Energieversorgung des Landes sei gefährdet.

Fakhfakh kam einer drohenden Absetzung durch seinen Rücktritt zuvor. Darüber kam es zu einer mit verfassungsrechtlichen Argumenten geführten, im Kern jedoch politisch motivierten Auseinandersetzung: Jene Parteien, die einen Misstrauensantrag gegen ihn ins Parlament eingebracht hatten, vertreten die Auffassung, sei ein solcher Antrag gestellt, könne der Regierungschef nicht wirksam sein Amt selbst aufgeben.

Im Fall eines Sturzes des Ministerpräsidenten durch eine Parlamentsmehrheit hat diese das Vorschlagsrecht und benennt einen Nachfolger. Nach herrschender Auslegung des Verfassungsrechts hat bei einem Rücktritt des ­Ministerpräsidenten jedoch der Staatspräsident, derzeit der parteilose Kaïs Saïed, dieses Vorschlagsrecht; der designierte Nachfolger muss sich dann ­innerhalb von 30 Tagen eine parlamentarische Mehrheit von mindestens 109 Abgeordneten verschaffen. Kaïs Saïed machte von seinem Recht Gebrauch und designierte am 25. Juli mit Mechichi den als Technokraten geltenden und parteilosen bisherigen Innenminister.

Mechichi steht im Parlament derzeit de facto eine Koalition aus drei Parteien gegenüber: Dies sind die islamistische al-Nahda-Partei, die bei den Parlamentswahlen im Oktober mit 19,6 Prozent der Stimmen gewann und mit derzeit 54 Abgeordneten die stärkste Fraktion stellt, die islamistisch-extremistische Wahlverbindung al-­Karama (Würde) mit 19 Abgeordneten sowie die meist als populistisch eingestufte Partei Qalb Tounès (»Herz Tunesiens«) des letztjährigen Präsidentschaftskandidaten Nabil Karoui mit 38 Abgeordneten. Diese drei Parteien sprachen sich bei allen sonstigen politischen Unterschieden für einen, wegen des Rückzugs Fakhfakhs dann gescheiterten Misstrauensantrag gegen den Ministerpräsidenten aus, wobei al-Nahda und Qalb Tounès formal getrennt vorgingen. Das sich abzeichnende Bündnis dieser drei Parteien kommt allerdings nicht auf die absolute Mehrheit von 109 Par­lamentssitzen.

Ein solches Bündnis explizit zu vertreten, fällt al-Nahda jedoch schwer, erhebt die Partei doch seit einem Kongress im Mai 2016 den Anspruch, nicht mehr als islamistisch, sondern als ­von islamischen Ideen inspirierte, demokratisch-staatstragende Partei zu gelten; tatsächlich existieren mehrere Flügel bei al-Nahda. Ein Bündnis mit al-Karama widerspricht dem offiziellen Anspruch, eine gemäßigte Partei zu sein, handelt es sich doch bei al-Karama unter Führung des Anwalts Seifeddine Makhlouf um eine radikalislamistische Organisation, die unter anderem die Sharia in der Verfassung Tunesiens verankern will.

Makhlouf hatte am 10. Juli versucht, Hafedh Barhoumi, der als jihadistischer Gefährder gilt und einem Ausreiseverbot unterliegt, in die Räume des Parlaments zu bringen. Daraufhin protestierte eine Polizeigewerkschaft offi­ziell gegen ihn, forderte die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität und organisierte zehn Tage später eine Demonstration im Zentrum von Tunis. Makhlouf hatte mit Zustimmung von Habib Khedher gehandelt, dem Büroleiter und Neffen von Parlamentspräsident Rached Ghannouchi, der seit ­langer Zeit den Vorsitz von al-Nahda innehat.

Dieses Szenario bot der bis dahin eher isolierten Oppositionspartei PDL (Freie destourische Partei, von al-destour: die Verfassung) unter der Anwältin Abir Moussa einen willkommenen Anlass zur Profilierung. Die Partei ist ein Sammelbecken ehemaliger Funk­tionäre und Anhänger der bis Januar 2011 herrschenden Diktatur unter dem autokratischen Präsidenten Zine al-Abidin Ben Ali. In deren letztem Jahr war die heute 45jährige Moussa stellvertretende Generalsekretärin der Staatspartei RCD. Sie will ein Präsidialsystem wie unter Ben Ali installieren, tritt vehement gegen eine Entkriminalisierung von Homosexualität ein, befürwortet Analuntersuchungen durch die Polizei und verwirft die Rechtsgleichheit für außerehelich geborene Kinder. Sie hasst jedoch Islamisten ­aller Couleur und wirft ihnen vor, den modernisme zu bedrohen, den Moder­nisierungsanspruch, den die tunesische Republik seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1957 erhebt.

Um gegen die Umtriebe Makhloufs zu protestieren, organisierten die PDL-Abgeordneten eine Sitzblockade im Parlament. Bereits im Dezember hatten Abir Moussa und ihre Leute dort ein Sit-in veranstaltet, auch im Plenarsaal übernachtet und die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes behindert. Die PDL-Fraktion hat den Ruf, Parlamentssitzungen zu chaotisieren und mit allen Mitteln die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Durch die Provokationen von al-Karama gelang dies der Partei der Ben-Ali-Nostalgiker erfolgreich; sie profilierte sich in der Öffentlichkeit als Gegenkraft zum Islamismus.

Der PLD organisierte in diesem Kontext ein Misstrauensvotum gegen den Parlamentspräsidenten Rached Ghannouchi, über das am 30. Juli abgestimmt wurde. Ghannouchi wurde vorgeworfen, eine eigene Nebenaußenpolitik zu entwickeln, vor allem in Hinblick auf den Krieg im Nachbarland Libyen. Dort begünstige er die politisch eher islamistische Kriegspartei, bestehend aus der Türkei und Katar sowie der in Tripolis amtierenden »Regierung der nationalen Übereinkunft« mit islamistischer Beteiligung. Diese bekämpft den von Saudi-Arabien, dem ägyptischen Regime, Russland und Frankreich unterstützten ostlibyschen Machthaber Khalifa Haftar. Letztlich stimmten 97 Abgeordnete für den ­Antrag, das waren 81 mehr, als die PLD-Fraktion an Abgeordneten zählt.

Die Unterstützung kam aus kleineren Parteien, zum Teil auch von Qalb ­Tounès. Diese Partei hatte angekündigt, den Fraktionszwang für die Abstimmung aufzuheben. 18 ihrer 27 Abgeordneten scheinen eine ungültige Stimme abgegeben zu haben, wohl aus Rücksicht auf al-Nahda, mit der Bündnisgespräche geführt werden.

Da zwölf Stimmen für die bei einem Misstrauensvotum erforderliche absolute Mehrheit fehlten, kam Ghannouchi als Parlamentspräsident nochmal ­davon. Durch den Aufmerksamkeitserfolg des Misstrauensantrags ist er dennoch nun politisch angeschlagen.

Entscheidend wird in nächster ­Zukunft sein, ob es Mechichi bis zum 24. August gelingt, eine Mehrheit im Parlament zu gewinnen. Am Montag traf er deshalb vier Fraktionen: al-Nahda, al-Karama, den demokratischen Block und Qalb Tounès. Der PLD kündigte am selben Tag auf seiner Facebook-Seite an, Mechichis Einladung zu ­Gesprächen auszuschlagen. Der Fraktionsvorsitzende von al-Nahda, Noured­dine Bhiri, sagte im Anschluss an die Unterredungen, diese hätten sich um die Regierungsbildung gedreht.

Auf ökonomischer und sozialer Ebene steht auch die nächste Regierung vor großen Problemen. Wirtschaftlich ist Tunesien seit dem Umbruch von 2011 notorisch angeschlagen: Investitionen blieben aus, der Massentourismus ging zurück, 2015 brach er wegen jihadistischer Terroranschläge in Tunis und Sousse komplett ein.

Mitte Juli begannen Einwohner im südtunesischen al-Kamour im Bezirk Tataouine eine Ölpipeline zu blockieren. Die Protestierenden fordern die Einhaltung eines 2017 mit der Regierung geschlossenen Abkommens zur Einstellung lokaler Arbeitskräfte; konkret geht es um die Beschäftigung von 1 500 Menschen im Erdölsektor sowie von 500 weiteren in öffentlichen ­Unternehmen, die diese staubtrockene Zone bepflanzen und begrünen sollen. Ende des Monats hatten sich die Proteste dermaßen ausgeweitet, dass das Energieministerium in einem als »dringlich« eingestuften Kommuniqué vom 30. Juli mitteilte, die Energieversorgung des Landes sei gefährdet.

Der nach wie vor mächtige Gewerkschaftsdachverband UGTT beschuldigte allerdings al-Nahda, die Proteste anzufachen und die Ölversorgung zu »sabotieren«. Soziale Proteste im eher konservativen und unterentwickelten Süden des Landes werden oft ohne Einbeziehung der Gewerkschaften organisiert und nicht von ihnen kontrolliert, dort sind die Islamisten stärker als in den urbanen Zentren.

Bereits am 14. Mai war der UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi mit Staatspräsident Kaïs Saïed zusammengetroffen. Das Magazin Jeune ­Afrique kommentierte, beide strebten ein strategisches Bündnis an. Beide strebten an, um den Einfluss von al-Nahda zu begrenzen, vor allem aber das al-Karama-Bündnis in Schach zu halten. Die radikalislamistische ­Partei hatte im April einen Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht, der Ver­bote von Gewerkschaften ermöglichen könnte.