Die Geschichte des Fußballs als Zuschauerports

Mehr als nur Kulisse

Eine kleine Geschichte der Zuschauersportart Fußball.

»Wir müssen jetzt alles daran setzen, dass wir wieder Zuschauer in die Stadien hineinkriegen«, sagte der Präsident des Deutschen Fußballbunds (DFB), Fritz Keller, dem SWR kurz vor der Saisoneröffnung der Bundesliga Mitte September. Solange die Pandemie anhält, bleibt es zwar ausgeschlossen, dass Spiele in vollen Stadien stattfinden. Doch Kellers Wunsch ist trotzdem nachvollziehbar. In keiner Sportart spielen die Zuschauer hierzulande eine so zentrale Rolle wie im Fußball. Sie schauen nicht nur zu. Ihre Anteilnahme und Begeisterung, ihre Anfeuerungsrufe, Gesänge und Choreographien gehören zum Spiel. Für die meisten Fans ist der Besuch eines Stadions mehr als ein flüchtiges Vergnügen. Es geht um Leidenschaften, Phantasien, Sentimentalitäten und um Spaß. Direkt erleben kann man das Drama nur im Stadion, nicht am Bildschirm.

Professionalismus galt den Nazis als »jüdischer Kommerz« und »Verweichlichung« des Sports.

Der englische Schriftsteller Nick Hornby schilderte vor 30 Jahren in seiner Erzählung »Fever Pitch – A Fan’s Life«, für welche Leidenschaft der Fußball im Stadion sorgt. Christoph Biermann beschrieb in einer Spezialausgabe des Magazins 11 Freunde zur »Geschichte der Fußballfans« seinen damaligen Eindruck: »Hornby ironisierte und adelte unsere Gefühle, weil er Sätze dafür fand, die man auf T-Shirts drucken konnte.« Hornbys Buch machte den Fußball cool genug auch für viele Studenten und Akademiker, denen er vorher entweder zu spießig oder zu gewalttätig gewesen war. Der spanische Romancier Javier Marías schrieb Anfang der nuller Jahre dazu: »Noch vor 20 Jahren gab es keinen Intellektuellen, der es gewagt hätte, sich öffentlich zum Fußball zu bekennen.«

In der Frühzeit des Spiels, im 19. Jahrhundert, wurde Fußball nur in der Oberschicht im kleinen Kreis gespielt, aber nicht öffentlich inszeniert. Der Durchbruch zum breiten Zuschauersport erfolgte vor 120 Jahren in Großbritannien. Danach ging es schnell: Mehr Freizeit für die Arbeiterklasse und ein gut ausgebautes Personentransportsystem schufen die Voraussetzungen für eine rasch florierende Freizeitindustrie rund um den Fußball, mit besonderen Brauereien und Geschäften, Getränken, Fan-Artikeln, Trikots, Wettbüros, Schuhen und ersten richtigen Fußballstadien. Die Popularität des Ballspiels in England wurde begünstigt durch die Einführung professioneller Elemente: Früh bot das Fußballspiel die Gelegenheit, Geld zu verdienen und gesellschaftlich aufzusteigen.

Diese Entwicklung griff schnell auf Deutschland über. Noch in den ­späten Jahren des Kaiserreichs als »undeutsch« und »englische Krankheit« verpönt, wurde das Fußballspiel im Ersten Weltkrieg bei denjenigen deutschen Soldaten besonders beliebt, die sich in englischer und französischer Gefangenschaft befanden. Sie brachten bei ihrer Rückkehr das schöne Passspiel mit, später bekannt etwa als Schalker Kreisel, früher Vorläufer des sogenannten Tiki-Taka, und trugen erheblich zum Aufschwung der Sportart in der Nachkriegszeit bei. Befördert wurde diese Entwicklung durch die Einführung des Achtstundentags und die öffentliche Sportförderung in der Weimarer Republik. In einer Magisterarbeit von Christoph Bremer mit dem Titel »Fußball als Zuschauersport« wird diese Geschichte eindrücklich ­beschrieben. Hatten vor 1914 selbst Schlagerspiele in Deutschland nur ­einige Hundert Zuschauer, kamen in den zwanziger Jahren im Durchschnitt 50 000 Zuschauer zu den Endspielen der Deutschen Meisterschaft. Es gab nur Stehplätze, und so stand man in einer geschlossenen Menge eng beieinander, ohne Ordnerdienste, Blocksperren und Wellenbrecher.

Die Arbeiterklasse nahm zu dieser Zeit in Deutschland noch nicht die dominierende Rolle in den Stadien ein, die sie in Großbritannien hatte. In den dortigen Stadien, in denen die Spiele bereits von leidenschaftlichen Gesängen und bunten Verkleidungen geprägt waren, bestimmten die proletarischen Schlägermützen das Bild, während das des deutschen Publikums eher von den modischen Hüten der Angestellten sowie von steifer Zurückhaltung bestimmt war. Die meisten Engagierten in den bürgerlich dominierten Vereinen und Ligen waren national gesinnt und fühlten sich ihren ehemaligen Studentenverbindungen verbunden, so dass die Clubs oft »Alemannia«, »Preußen« oder »Borussia« hießen.

Die Nationalsozialisten sorgten nach ihrer Machtübernahme für einen großen Rückschlag und machten Deutschland wieder zum Fußballentwicklungsland. Die Anfänge des Profitums, die kommerzialisierte Reichsliga und erste Fan-Milieus fanden ein abruptes Ende, denn Professionalismus galt den Nazis als »jüdischer Kommerz« und »Verweichlichung« des Sports. Sie wollten Aufopferung, Härte und unerbittlichen Kampf von Amateuren. Dieser Abklatsch militärischer Erziehung wabert auch heute noch durch manche Zuschauerreihen, wenn Fans dort von »Blutgrätschen« schwärmen und ihre Mannschaft auffordern, sich »den Arsch aufzureißen«.

Der große Erfolg des Fußballsports setzte in Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Das Bild des Publikums glich sich immer mehr dem des englischen mit seiner Dominanz der Arbeiterschicht an. Erste Formen einer Fankultur mit organisierten Treffen, Vereinsschals und tausendfachen Anfeuerungs­rufen entstanden ab Mitte der fünfziger Jahre. Jetzt waren es die Arbeiterviertel in den Großstädten, die sich zu Zentren der sozialen Ausbreitung des Fußballs entwickelten. Dort existierten riesige Quartiere, die zu ­Geburtsstätten und Schulen ganzer Generationen von Spielern und Fans wurden. Der Straßenfußball ermöglichte vielen den Ausbruch aus der bedrängten Wohnlage. Proletarische Jugendliche nahmen Straßen und Plätze als öffentliche Räume in Besitz, so dass der Straßenfußball immer auch etwas Subversives hatte, was sich auf den Fußball in den großen Stadien übertrug.

Diese Entwicklung ging einher mit einer Professionalisierung und Kommerzialisierung des Spitzenfußballs, die wiederum zur Einführung der Fußballbundesliga im Jahre 1963 führten. Die Zahl der Fußballfans wuchs nicht zuletzt durch das neue Massenmedium Fernsehen. Im neu geschaffenen Profifußball entstanden die ersten großen Fußballarenen mit eigenen Fankurven und ihrer Unterteilung in komfortable Sitzplätze und preiswerte Stehplätze für die besonders treuen Anhänger. Vor allem das junge Publikum konzentrierte sich in Blöcken hinter den ­Toren und versuchte, die eigene Mannschaft zu ­unterstützen und die gegnerische zu verunsichern. Es entwickelte sich eine Unterteilung in Zuschauer und Fans, wie Jonas Gabler in seinem Buch »Die Ultras« ausführlich beschreibt.

Heutzutage müssen die Verbände und Vereine besonders darauf achten, die engagierten Fans einzubeziehen, denn deren Einfluss ist groß. Vor allem die vielen jungen Fans, die sich nicht nur aus der Region, sondern von überall her einem Club anschließen, nehmen über die sozialen Medien starken Einfluss auf Diskussionen und Entscheidungen ­ihrer Vereine. Ihr größter Erfolg ist die Veränderung des Supports in den Stadien. Die berühmten Fan­gesänge finden permanent statt, sie folgen einer bestimmten Dramaturgie und in ihnen spiegelt sich die Historie der Vereine wieder. Viele Fangruppen kritisieren die restlose Kommerzialisierung, die Trainingslager in Katar und überhöhte Ticketpreise, die Zerstückelung des Spieltags für das Fernsehen und derzeit vor allem die Coronapläne vieler Clubs, die die Fans aus den Kurven heraushalten und allein das zahlungskräftige ­Tribünen- und Logenpublikum im Stadion sehen wollen. Christian ­Barlau weist in seinem Buch »Ballverlust« auf die Doppelrolle der Fans hin, die den Clubs zu denken geben sollte: »Sie sind nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten. In keinem anderen Segment der Unterhaltungsbranche sind die Zuschauer so ein integraler Teil des Gesamtproduktes.«