Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags arbeitet den Wirecard-Skandal auf

Das Schweigen der Wirtschaftsprüfer

Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags arbeitet die Vorgänge um den betrügerischen ehemaligen Dax-Konzern Wirecard auf. Die Vor­­schläge von Finanzminister Scholz für die künftige Verhinderung ähnlicher Betrugsfälle gehen der Opposition nicht weit genug.

Der Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz geht mit einer schweren Last ins Bundestagswahljahr 2021: den Nachwehen des Wirecard-Skandals. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags zu dem Finanzbetrug des ehemaligen Dax-Konzerns dürfte in den kommenden Monaten dafür sorgen, dass die Geschichte um den Konzern und das merkwürdige Gebaren der Scholz unterstellten Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) im öffentlichen Bewusstsein ­bleiben.

Als im April durch ein Sondergutachten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG klar wurde, dass in den Bilanzen gebuchte 1,9 Milliarden Euro bei Wirecard nie existiert hatten oder verschwunden waren, war das nur der Anfang des Wirtschaftsskandals um den einstigen Hoffnungsträger der deutschen Finanztechnologiebranche (Unverbindlich prüfen). Offenbar hatten die Manager von Wirecard Bilanzen in großem Umfang gefälscht, außerdem besteht der Verdacht der Geld­wäsche.

Die Kontrolleure der Wirtschaftsprüfungsfirma Ernst & Young (EY), die seit 2009 die Richtigkeit der Bilanzen beglaubigt hatten, wollen von dem Betrug nichts mitbekommen haben, obwohl es Auffälligkeiten wie hohe Kreditaufnahmen bei angeblich vollen Konten gab. Die Bafin schaute sich Wirecard nicht nur nicht an. Nach Berichten über Unregelmäßigkeiten in den Wirecard-Bilanzen in der renommierten Wirtschaftszeitung Financial Times zeigte die Behörde zwei Journalisten der Zeitung sogar an und verbot Leerverkäufe für Wirecard-Aktien, um den Börsenkurs des Konzerns zu stützen – ein bislang einmaliger Vorgang.

Wirecard ist inzwischen zusammengebrochen, der Schaden – auch für Kleinanleger – geht in die Milliarden. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen Manager des Konzerns wegen bandenmäßigen Betrugs.

Um das Verhalten der Bundesregierung und der ihr unterstehenden Behörden im Fall Wirecard zu untersuchen, hat der Bundestag im Oktober ­einen Untersuchungsausschuss eingerichtet. Dieser bringt immer neue bizarre Details ans Licht, etwa wie frappierend leicht Wirecard die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für eine Fürsprache bei der chinesischen Regierung gewinnen konnte. Der Konzern brauchte dazu nur die Beratungsfirma des über seine plagiierte Doktorarbeit gestürzten ehemaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg anzuheuern.

Guttenberg sagte bei seiner Vernehmung im Ausschuss, er habe sich nach seinem Ausscheiden aus der Bundes­regierung einmal im Jahr mit der Kanzlerin zu einem vertraulichen Gespräch getroffen. 2019 traf er Merkel zwei Tage vor einem Besuch der Kanzlerin in China und sprach mit ihr über Wirecard. Der Konzern wollte als erstes europäisches Unternehmen einen chinesischen Zahlungsdienstleister komplett übernehmen. Merkel machte das bei ihren Gesprächen in Peking wie gewünscht zum Thema. Gleichzeitig zu Guttenbergs Gespräch schickte ein ­Kollege aus seiner Firma eine E-Mail mit einem Briefentwurf an Olaf Scholz’ Staatssekretär, mit dem das Finanzministerium sich in China für ­Wirecard einsetzen sollte. »Ob einzelne dieser Formulierungen genutzt wurden, ist mir unbekannt«, sagte Guttenberg im Unter­suchungsausschuss.

Die Bundesregierung, vor allem das von Scholz geführte Finanzministerium, hat für Wirecard viel mehr getan, als sie mittlerweile glauben machen will. Fabio De Masi, der finanzpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Linkspartei, zeigte sich in seinem Podcast überzeugt, dass das Finanzminis­terium nicht nur mit einem Brief im Sinne Wirecards intervenierte. Wirecard bereitete sich schon 2018 auf den chinesischen Markteintritt vor und wollte sogenannte Payment-Lizenzen erwerben, um Zahlungen chinaweit ­abwickeln zu können. Bei einem Treffen von Olaf Scholz und seinem chi­nesischen Ressortkollegen im Januar 2019 verständigten sich beide Seiten auf ein Dokument, dem zufolge deutschen Finanzunternehmen Lizenzen für den Payment-Bereich in China erteilt werden sollten.

Anders als von der Bundesregierung dargestellt, gab es keine generelle Vereinbarung, in die Wirecard gut passte, sagte De Masi. Ganz im Gegenteil: ­»Wirecard hat darauf gedrängt, die Payment-Lizenzen zu bekommen, und die Bundesregierung hat den Finanzdialog auf diesen Punkt hin verhandelt.« Ein Staatssekretär von Scholz habe sich bereit erklärt, nochmal nachzuhaken, falls die Lizenzen nicht erteilt würden. Hervorgegangen ist das unter anderem aus den Unterlagen, die dem Ausschuss zur Verfügung stehen, und aus Aussagen eines an die deutsche Botschaft in China ausgeliehenen Finanzbeamten, der selbst Wirecard-Aktien gekauft hat.

Auch die Aussage von Ralf Bose, dem Leiter der Abschlussprüferaufsichtsstelle (Apas), ist aufschlussreich hinsichtlich des Umgangs der Kontrollorgane mit Wirecard. Die Apas beaufsichtigt die Wirtschaftsprüfer, deren Gutachten die Richtigkeit von Bilanzen bestätigen. Bose kaufte am 28. April 2020 Wirecard-Aktien, als der Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG über die fehlenden 1,9 Milliarden veröffentlicht wurde und der Kurs abstürzte. Er habe sich nicht vorstellen können, dass bei einem Dax-Konzern so etwas geschehen könne, begründete Bose den Kauf. Am 20. Mai stieß Bose die Aktien ab – an dem Tag, an dem die Finanzaufsicht Bafin die Apas formal über die Vorwürfe gegen Wirecard informierte. Kurz nach seiner Aussage wurde er von seinen Aufgaben entbunden.

Erschwert wird die Arbeit des Untersuchungsausschusses durch ausgedehntes Schweigen. Vier vor den Ausschuss geladene Mitarbeiter von EY verweigerten jede Aussage. Zwar haben der Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé und der neue Vorstand sie von der Schweigepflicht entbunden, aber die vier bestehen darauf, dass der zum Zeitpunkt der Prüfung amtierende Vorstand das ebenfalls tue. Das allerdings ist schwer möglich: Der mit Haftbefehl gesuchte ehemalige Vorstand Jan Marsalek ist auf der Flucht. Der inhaftierte ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, hat ebenfalls die Aussage verweigert.

Abgesehen von der Arbeit des Untersuchungsausschusses will der Bundestag noch über gesetzgeberische Konsequenzen aus dem Betrugsskandal ­be­raten. Mitte Dezember legte Finanzminister Scholz den Entwurf eines Gesetzes vor, das einen Fall wie Wirecard künftig verhindern soll. Wirtschaftsprüfer sollen demzufolge in Deutschland in Zukunft alle zehn Jahre ausgetauscht werden. Bei falschen Beglaubigungen würden künftig statt drei ­Jahren fünf Jahre Gefängnis drohen. Außerdem soll die Haftungssumme steigen, wenn die Prüfer Fehler machen. Die Finanzaufsicht Bafin soll größere Befugnisse erhalten, sie soll bei Verdachtsfällen früher tätig werden können. Die umstrittene privatrechtlich organisierte Deutsche Prüfstelle für Rechnungs­legung, die im Fall Wirecard ebenfalls versagt hat, soll aber weiterhin an der Bilanzkontrolle beteiligt bleiben. Im Juni hatten das Bundesfinanz- und das Bundesjustizministerium den Vertrag mit der Prüfstelle gekündigt – als erste Konsequenz aus dem Skandal.

»Die Aufsicht bekommt mehr Biss«, so charakterisierte Scholz seinen Gesetzentwurf. Das sehen Linkspartei, Grüne und FDP nicht so. Den drei Opposi­tionsparteien gehen die geplanten Änderungen nicht weit genug. »Das ist eine Eilmaßnahme zum Selbstschutz des Kanzlerkandidaten«, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Florian Toncar, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die Grünen bemängeln unter anderem das Fehlen strengerer Vorgaben für die Wirtschaftsprüfer. De Masi fordert, dass künftig die Finanzaufsicht selbst die Wirtschaftsprüfung von Aktiengesellschaften übernimmt und dafür mit genug Personal ausgestattet wird.

Wie der Spiegel in der vergangenen Woche berichtete, hatte auch Friedrich Merz, der Kandidat für den Parteivorsitz der CDU, in seiner Zeit als Aufsichtsratschef des deutschen Ablegers der US-amerikanischen Vermögensverwaltungsfirma Blackrock zwei Mal Markus Braun getroffen. Inhaltlich sei es lediglich um allgemeine Kapitalmarktthemen gegangen; private Einladungen oder Gespräche von Merz mit der Bundesregierung oder mit Aufsichtsbehörden über Wirecard habe es nicht gegeben. De Masi regte dennoch an, mögliche Zweifel an Merz’ Integrität wegen des Kontakts zu Braun im Unter­suchungsausschuss auszuräumen.