Die vierte Staffel der Anthologieserie »Fargo« von den Coen-Brüdern

Nichts, was zu kontrollieren ist

Die vierte Staffel der Anthologieserie »Fargo« bleibt dem Erzählprinzip der Coen-Brüder treu und lässt sämtliche Figuren scheitern. Aber sonst ist alles anders in der von Mafiafilmen beeinflussten Geschichte zweier rivalisierender Clans im Kansas der fünfziger Jahre.

»Alle glücklichen Familien sind einander gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.« Mit diesem Satz beginnt Lew Tolstoi seinen epochalen Roman »Anna Karenina«, er könnte genauso gut als Motto über der vierten Staffel der Fernsehserie »Fargo« von Noah Hawley stehen.

Serien können wie »Breaking Bad« oder »Game of Thrones« die Form von Großerzählungen annehmen, die über viele Staffeln ihre Protagonisten weiterentwickeln, oder das Format der Anthologie, das Staffel für Staffel abgeschlossene Plots mit jeweils neuen Figurenensembles bietet, die lediglich über ihr Design und die Erzählhaltung als Serie zusammengehalten werden. »Fargo« ist ein Anthologieformat, das auf dem gleichnamigen Film der Brüder Joel und Ethan Coen aus dem Jahr 1996 beruht.

Trotz eruptiver Komik geht es bei den Coens stockfinster zu. Getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben oder viel Geld bemühen sich die Protagonisten stets nach Kräften, ihre häufig kläglichen Existenzen inmitten auswegloser gewalttätiger Kettenreaktionen zu behaupten. Statt, wie es das Format eigentlich fordert, Helden zu präsentieren, mit denen man sich identifizieren kann, statten die Coens ihre Figuren mit Eigenschaften wie Habgier, Überheblichkeit oder Jähzorn aus und zeigen sie in einer von Ungerechtigkeit und Kriminalität geprägten Umgebung. Schonungslos fördern sie Schwächen und charakterliche Deformationen zutage, die sie vielfach in körperliche oder stilistische Abnormitäten übersetzen. Die Bewertung der dargestellten Ereignisse überlassen sie den ­Betrachtern. Neben grellen Effekten haben ihre Filme eines gemeinsam: Sie erzählen davon, wie Charaktere, die überzeugt sind, alles im Griff zu haben, ihr meist schmerzhaftes Scheitern durch falsche Entscheidungen selbst verschulden.

Während Scorseses »The Irishman« im vorver­gangenen Jahr eher zu einem faden Abklatsch geraten ist, gelingt es »Fargo«-Serienentwickler Hawley, das Mafia-Sujet aus seinem katholischen Hintergrund von Schuld und Sühne zu lösen und in den eher von jüdischen Erzähltraditionen beeinflussten Kosmos der Coens zu integrieren.

So ist »Fargo«, das Meisterwerk der Coens, eine Reise ins Herz menschlicher Finsternis, die im Stil eines blutrünstigen Heimatfilms inszeniert ist und, wie der Vorspann fälschlich behauptet, »eine wahre Geschichte« ­erzählt. Während die Kamera ruhig über das weite, verschneite Land und seine ruhigen Bewohner gleitet, zeigt sie beiläufig ein Panoptikum an Verlierern und Exzentrikern, allesamt von Hybris angetrieben und zu explosiver Gewalt neigend, die einander begegnen und so zwangsläufig wie in einer griechischen Tragödie gemeinsam untergehen. Ebenso wie die großartigen Bilder von in verschneiter Landschaft verloren liegenden Körpern, die nackt erfrieren oder blutig zerhäckselt sind, hat sich die Figur der schwangeren Polizistin Marge in die jüngere Filmgeschichte eingeschrieben, eine Figur, die nach mit großer Beharrlichkeit getaner Arbeit versucht, vor den Schrecken ­ihres Berufs zurück ins private Glück zu fliehen.

In Szene gesetzt ist das mit Sorgfalt und Finesse, so dass selbst ­Momente, die zu akzeptieren sich die Sinne eigentlich weigern müssten, erschrocken staunend hingenommen werden. Die mit Wucht einbrechende Gewalt wird nie für ästhetischen Lustgewinn bagatellisiert wie im Kino Quentin Tarantinos und seiner Epigonen. Zwar ergibt sich aus der Überzeichnung von Situationen auch hier eine eigene Komik, aber nicht, weil die Schrecken belacht, sondern weil sie in ihrer ganzen überwältigenden Absurdität gezeigt werden. Schon der Kinofilm gleicht einer ­comédie humaine.

Mit den Coen-Brüdern als ausführenden Produzenten hat Noah Hawley »Fargo« 2014 in eine Serie überführt, die sich stilistisch wie thematisch eng an die Vorlage hielt und sie behutsam ausbaut. Hawley gelang es überzeugend, das Mehr an Zeit, das das Serienformat bietet, für die Ausgestaltung der Figuren in all ihrer Ambivalenz zu nutzen. Dafür erhielt »Fargo« zahlreiche Fernsehpreise.

Bereits 2015 folgte die zweite Staffel, und der zweite Wurf erwies sich als noch größerer Erfolg. Mit neuem Figurenensemble und starker Besetzung siedelte er die Geschichte in der Zeit von Ronald Reagans erstem Präsidentschaftswahlkampf mit ihrer wirtschaftlichen und moralischen Stagnation an. Vietnam-Krieg und Ölkrise haben das Vertrauen in den Amerikanischen Traum erschüttert. Erneut diente der winterliche Mittlere Westen der USA als Kulisse für ein Gemetzel, das auf der bewährten Kombination aus Gier, Missverständnissen und Fehlern beruht; aber auch familiäre Fürsorge, krebskranke Ehepartner und stoische Schwiegerväter kamen vor. Als neues filmisches Element wurde der Splitscreen eingesetzt.

2017 folgte Staffel drei. Sie spielte im Jahr 2010 ebenfalls in Minnesota, griff aber in der Zeit bis 1975 zurück und reichte in der Eingangsszene sogar bis in ein Stasi-Büro in Ostberlin. Ewan McGregor war in einer Doppelhauptrolle zu sehen. Diese Staffel zeigte erste Anzeichen von ­Ermüdung: Die grotesken Elemente erschienen überstrapaziert, auch wenn sich aus den zugrundeliegenden Elementen immer noch Handlungs­twists, Überraschungen und Dialoge über die Ungewissheit der Vergangenheit und die Gewissheit der Zukunft destillieren ließen. Mit dem Einbruch des großen Kapitals in die Welt der kleinen Gauner wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht.

Nun gibt es nach drei Jahren Warte­zeit die vierte Staffel. Bereits der ­Prolog macht klar, dass es Noah Hawley, der hier als Produzent, Regisseur und Drehbuchautor fungiert, nicht um ein »Weiter so« geht. Über kontrastreich düsteren Bildern in gleichmäßig fließendem Rhythmus erzählt die Schülerin Ethelrida Pearl Smutny (E’myri Crutchfield) die Geschichte der Gangstersyndikate in Kansas City von 1900 bis in die fünfziger Jahre. Die Erzählerin wird als »eine Schwarze mit exzellenten Manieren« vorgestellt, sie ist Tochter eines weißen Leichenbestatters und seiner afroamerikanischen Frau. Erzählt wird der immergleiche Kampf um Aufstieg und Respekt für die eigene Community innerhalb der sich gegen Neuankömmlinge abschottenden Einwan­derungsgesellschaft. »Diejenigen, die als Letzte das Schiff verlassen hatten und die Türen des ehrlichen Kapitals verschlossen vorfanden, krempelten die Ärmel hoch und machten sich an die Arbeit, um auf altmodische ­Weise reich zu werden«, kommentiert Ethelrida aus dem Off das Geschehen.

Es beginnt mit dem Treiben eines jüdischen Verbrechersyndikats in den zwanziger Jahren. Abgelöst wird es von einem irischen Kartell, das wiederum blutig von der italienischen Mafia verdrängt wird. Zu Beginn der eigentlichen Handlung, die in den fünfziger Jahren angesiedelt ist, fordert eine schwarze Gang die italienischen Platzhirsche heraus. Um das Blutvergießen zwischen den verfeindeten Clans zu beenden, treffen deren Oberhäupter eine Vereinbarung: Durch den Austausch ­ihrer Söhne sollen die Fehden beendet werden. Selbstverständlich führt auch dies nur tiefer ins Unglück.

Den obersten Mafioso Josto Fadda verkörpert der der Filmgroßfamilie von Francis Ford und Sofia Coppola zugehörige Jason Schwartzman. Ebenso verschlagen wie kauzig navigiert er durch einen Plot, in dem ­jedes Detail irgendwann überraschende Wirkung entfaltet und der sich immer wieder Anspielungen auf Genre-Großwerke wie »Der Pate« (Coppola) oder »Goodfellas« (Martin Scorsese) erlaubt.

Während Scorseses »The Irishman« im vorvergangenen Jahr eher zu ­einem faden Abklatsch geraten ist, gelingt es Hawley, das Mafia-Sujet aus seinem katholischen Hintergrund von Schuld und Sühne zu lösen und in den eher von jüdischen Erzähltraditionen beeinflussten Kosmos der Coens zu integrieren. Wieder ereilt das Schicksal in akribisch arrangierten Tableaus zuletzt alle, denn alle machen Fehler, die, Sühne hin oder her, nicht vergessen werden. »Glaube nie, du hast es unter Kontrolle«, lautet denn auch ein sich immer wieder in bizarren Situationen bewahrheitender Leitsatz von Loy Cannon (Chris Rock), dem charismatischen Anführer der afroamerikanischen Gang.

Die von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus ­traumatisierten Italiener bringen eine gewisse Verachtung für die von ihrem Traum geleiteten, leicht auszunehmenden US-Amerikaner in die Neue Welt mit – die auch keineswegs bereit ist, die Neuankömmlinge vorbehaltlos zu akzeptieren. Dagegen erfahren die Afroamerikaner, dass die protestantische weiße Mehrheit ihnen jede Chance verweigert, auf legale Weise einen Platz in der Gesellschaft zu finden oder gar Erfolge zu verbuchen. »Fargo« ist dabei an keiner Stelle belehrend, sondern schwelgt zu einem jazzigen Score in einer opulenten Rekonstruktion der fünfziger Jahre, die den strukturellen Rassismus miterzählt. Parallelen zur Gegenwart der Trump-Jahre muss der Betrachter selbst ziehen.

Auf dem Weg in den Bandenkrieg wird viel gepredigt. Das ist eine Hauptaufgabe der Chefs und ihrer Berater, und im Großen und Ganzen erledigen sie diese Art des geschliffen-uneigentlichen Sprechens mit Bravour. Was nichts daran ändert, dass da, wo vehement von Loyalität die Rede ist, so illoyal wie möglich gehandelt wird. Verrat erscheint als Triebabfuhr, die mühsam aufrechterhaltene Selbstdisziplin erst erträglich macht.

Neben den zum Teil mit umwerfenden Ticks ausgestatteten Cops und Kriminellen gibt es mit der Krankenschwester Oraetta Mayflower (Jessie Buckley) und dem gesetzlosen Lesbenpaar Zelmare Roulette (Karen Aldridge) und Swanee Capps (Kelsey Asbille Chow) einige spektakuläre Frauenfiguren. Beim Rauben und Morden lassen sie sich nicht auf die Regeln der Clans verpflichten, sondern folgen einer eigenen Moral und einem eigenen Programm.

Nicht ins Unglück reißen lässt sich allein die Leichenbestattertochter Ethelrida. Mit einer gehörigen Portion Eigensinn schafft sie es, sich von keiner Partei vereinnahmen zu lassen. Stattdessen erklärt sie das Erzählte kurzerhand zu ihrer Geschichte und zeigt mit dieser Aneignung möglicherweise einen Weg auf, sich der Fatalität der Verhältnisse zu entziehen. Dass diese großartige Figur zu randständig bleibt und ausgerechnet in ihrem Handlungsstrang eine Geistererscheinung erzählerische Stereotype bedient, die weit hinter dem Anspruch des Formats zurückbleiben, zählt zu den wenigen wirklichen Mankos dieser beeindruckenden Staffel.

Fargo. Staffel 4. Buch und Regie: Noah Hawley, Darsteller: Chris Rock, Jessie Buckley, Jason Schwartzman, Ben Whishaw. Auf Joyn Plus verfügbar.