Das Vorsorgeprinzip soll Mensch und Natur vor Schäden bewahren

Im Zweifel für den Zweifel

Das Vorsorgeprinzip soll negative Folgen vor allem von technischen Entwicklungen vorbeugen: Bestimmte Methoden können verboten werden, bis ihre Unschädlichkeit bewiesen ist, Maßnahmen können ergriffen werden, obwohl ein Phänomen noch nicht untersucht ist.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Mitte Januar die Verlängerung des Lockdowns verkündete, begründete sie den entsprechenden Beschluss von Bund und Ländern mit der »ernsthaften Gefahr«, die von den neuen Varianten von Sars-CoV-2 ausgehe. »Es ist hart, was wir jetzt den Menschen noch einmal zumuten müssen, aber das Vorsorgeprinzip hat für uns Vorrang, und dem müssen wir jetzt auch Rechnung tragen«, so Merkel. Das Vorsorgeprinzip kann angewendet werden, wenn Schäden befürchtet werden, obwohl wissenschaftliche Belege dafür noch fehlen. Im Fall einer neuen Technologie liegt die Beweislast für deren Unschädlichkeit bei den Herstellern.

In der BSE-Krise der neunziger Jahre verhängte die EU ein Importverbot für britisches Rindfleisch, da unklar war, ob die Krankheit durch den Verzehr von infiziertem Fleisch auf Menschen übertragbar ist.

»Umweltschutz darf nicht nur auf bereits eingetretene Schäden reagieren, sondern muss durch Vorsorge und Planung verhindern, dass in Zukunft Schäden überhaupt entstehen«, schrieb die Bundesregierung unter Willy Brandt in ihrem Umweltprogramm 1971. Das Vorsorgeprinzip wurde nach dem Antritt der sozialliberalen Koalition Mitte der siebziger Jahren in deutsches Recht eingeführt. Die Umweltbewegung hatte ein Bewusstsein dafür erzeugt, dass Umweltschäden nicht nur natur­zerstörend, sondern auch gesundheitsgefährdend für Menschen und teuer für die Wirtschaft sein können.

Seit seiner Konzeption wurde das Vorsorgeprinzip von der Umwelt- auf die Gesundheitspolitik ausgeweitet. Heutzutage beeinflusst es Entscheidungen zu Klimawandel, Biodiversität, Atomenergie, Medikamenten, Lebensmitteln – und in Zeiten der Covid-19-Pandemie auch den Infektionsschutz. Dabei geht es teilweise um globale Risiken. Kaum Anwendung findet das Prinzip, wenn Individuen freiwillig Risiken eingehen, in die sie eine informierte Einwilligung geben können, wie bei der Eizellspende.

In den USA und Kanada hingegen gilt das Nachsorge- oder Risikoprinzip. Dort muss wissenschaftlich erwiesen sein, dass eine bestimmte Technologie Schäden verursacht, damit der Staat regulatorisch aktiv werden kann. Dann könnte es allerdings zu spät sein, um Schäden für Menschen oder Umwelt noch auszugleichen.

Seit den achtziger Jahren findet das Vorsorgeprinzip Eingang in internationale Abkommen: In der von den Vereinten Nationen (UN) 1982 beschlossenen World Charter for Nature heißt es, Aktivitäten mit Umwelteinfluss seien zu unterlassen, wenn »potentielle negative Effekte nicht gänzlich verstanden werden«. Die zehn Jahre später verabschiedete Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung formuliert: »Drohen schwerwiegende oder bleibende Schäden, so darf ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame Maßnahmen zur Vermeidung von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.«

Wie sowohl Kritikerinnen als auch Befürworter anmerken, ist das Vorsorgeprinzip in diesen vagen Formulierungen uneindeutig und interpretationsbedürftig. In den verschiedenen nationalen und internationalen Vereinbarungen findet sich dementsprechend eine Vielzahl von mal strengeren, mal schwächeren Ausformulierungen des Prinzips.

Auch die Europäischen Union (EU) hat sich dem Vorsorgeprinzip verpflichtet. Gemäß Artikel 191 des EU-Vertrags beruht die Umweltpolitik der Union »auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung«. In der BSE-Krise der neunziger Jahre verhängte die EU ein Importverbot für britisches Rindfleisch, da unklar war, ob die Krankheit, umgangssprachlich als Rinderwahnsinn bekannt, durch den Verzehr von infiziertem Fleisch auf Menschen übertragbar ist. Erst nach diesem Verbot wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit die menschliche Form von BSE darstellt, BSE also auf den Menschen übertragbar ist.

Die EU-Kommission führte im Jahr 2000 in einer Mitteilung zur »Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips« aus, dass die Grundlage für Entscheidungen eine »möglichst umfassende wissenschaftliche Bewertung« sein und »in jeder Phase das Niveau der wissenschaftlichen Unsicherheit« bestimmt werden solle. Die daraufhin getroffenen Maßnahmen sollen »überprüft werden, sobald neue wissenschaftliche Daten vorliegen«, und nur dann beibehalten werden, »wenn das Risiko der Gesellschaft gemessen an dem gewählten Schutzniveau nach wie vor nicht zugemutet werden kann«.

Doch trotz solcher Bezüge auf Wissenschaftlichkeit bleibt das Vorsorgeprinzip zwangsläufig vage. Durch wissenschaftliche Methoden erlangtes Wissen ist niemals absolut, sondern höchstens sehr wahrscheinlich richtig, es verändert sich durch neue Methoden und zusätzliche Daten. Auch können verschiedene Wissenschaftlerinnen und Experten dieselben Forschungsergebnisse unterschiedlich bewerten. Da das Vorsorgeprinzip bereits dann zum Einsatz kommen soll, wenn es erste Hinweise auf Gefahren, statt vielfach bestätigtes Wissen, gibt, ist seine wissenschaftliche Basis schwach.

Ein weiterer Angriffspunkt für Kritikerinnen und Kritiker ist die Unklarheit darüber, wie ein Schaden bewiesen werden muss. Zudem ist es gar nicht möglich zu beweisen, dass ein neues Produkt unschädlich ist. Welche wissenschaftlichen Belege braucht es, um zum Beispiel den Verzehr eines neuartigen Lebensmittels für den Menschen als langfristig ungefährlich einzustufen? Ebenso ist wissenschaftlich kaum belegbar, dass der Anbau einer genetisch modifizierten Pflanze keinen negativen Effekt auf das Ökosystem hat, da dies eben nicht ausprobiert werden kann.

Das Vorsorgeprinzip als unwissenschaftlich abzulehnen, wäre jedoch fehlgeleitet. In der Wissenschaft geht es vorrangig um Wissensgewinn – ein falsch negatives Ergebnis ist dabei nicht schlechter als ein falsch positives. Außerhalb des Labors drohen jedoch ernsthafte Konsequenzen: Wenn eine Chemikalie als ungiftig klassifiziert und eingesetzt wird und sich dies im Nachhi­nein als falsch herausstellt, ist das ein viel größeres Problem, als wenn sie ­zunächst fälschlicherweise als giftig eingeschätzt wird.

Der Philosoph Rupert Read und der Umweltwissenschafter Tim O’Riordan empfehlen daher in ihrem 2017 veröffentlichten Text »The Precautionary Principle Under Fire«, man solle man sich nicht an der »wissenschaftlichen Gepflogenheit, die Belege abzuwarten und einen falschen Alarm zu vermeiden«, orientieren. Zudem kann die Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Ereignisses wissenschaftlich gesehen zwar verschwindend gering, seine Konsequenz aber so gravierend sein, dass auch ein geringes Risiko nicht hinnehmbar ist. Das Vorsorgeprinzip ist also ein notwendiges politisches Instrument, um die Gesellschaft dort schützen zu können, wo die Wissenschaft Grenzen hat. In welchen Bereichen das Prinzip wie streng angewendet wird, hängt von wirtschaftlichen Interessen und den Kräfteverhältnissen zwischen den verschiedenen interessierten Gruppen ab.