Sven Gring­muths Studie »Was war die proletarische Wende?« enthält ein paar Lehren für die Linke der Gegenwart 

Als chinesische Chöre die Doors ersetzten

In einer lesenswerten Studie beschäftigt sich der Sozialwissenschaftler Sven Gringmuth mit der Begeisterung für die Geschichte und Kultur der Arbeiterschaft, die die intellektuelle Linke Ende der sechziger Jahre erfasste.

Seltsam entrückt scheint die Zeit, als Tausende angehende linke Akademiker die Weltrevolution vorantreiben wollten. Und doch ist die »Proletarische Wende« in der außerparlamentarischen Opposition der Bundesrepublik und Westberlins gerade mal 50 Jahre her. Vor allem jüngere Leser werden sich fragen: »Was war die Proletarische Wende?« So lautet auch der Titel eines Buchs, das der Sozialwissenschaftler Sven Gringmuth kürzlich im Verlag Westfälisches Dampfboot veröffentlicht hat.

Der im Untertitel versprochene »Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Linken« konzentriert sich vor allem auf die Ereignisse in Westberlin, obwohl es in dem knapp 450seitigen Kompendium durchaus Verweise auf die Situation an Hochschulstandorten in Westdeutschland gibt. Gringmuth ist eine gut lesbare und materialreiche Studie über ein linkes Milieu gelungen, das sich 1969 auf den kurzen Marsch von Adorno zu Mao begeben hat.

Den studentischen Solidaritätsdelegationen, die zu den Streikenden geeilt waren, begegneten die Arbeiter zumeist distanziert, gelegentlich sogar feindselig. Diese Erfahrungen verfestigten bei vielen Aktivisten die Überzeugung, dass der Parteiaufbau keinen Aufschub dulde.

Wieso begeisterten sich junge Intellektuelle, die die Marx’schen Schriften durch die Brille der Frankfurter Schule gelesen und sich mit der Rolle der Kulturindustrie und den Strukturgesetzen im Spätkapitalismus auseinandergesetzt hatten, für einen chinesischen Staatsmann, der eine autoritäre Ideologie vertrat? Was sich damals abspielte, fasst Gringmuth stichwortartig zusammen: »Auszug aus studentisch-­alternativen WGs und Wohnprojekten im Umfeld der Protestbewegung, Einzug in Mietwohnungen, oft auch in Arbeitersiedlungen. Bei Männern häufig: Das Abschneiden der längeren und langen Haare als symbolischer Akt: Es folgen praktische und an der Arbeitsstelle beziehungsweise von den Kollegen akzeptierte Kurzhaarfrisuren. Ablehnung verschiedener Ausprägungen von Boheme- und Decadence-Verweisen/-Stilen in Kunst und Kultur beziehungsweise Ablehnung großer Teile der zeitgenössischen Popkultur.«

Besonders erschütternd: »Statt der Rolling Stones oder den Doors rotieren nun Ton Steine Scherben, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader oder gar Ernst Busch, Erich Weinert und chinesische Massenchöre auf den Plattentellern; statt Pop-Art und Underground-Kunst, im Sinne des Anknüpfens an die Abstraktion der ästhetischen Avantgarden, kommt es im Bereich Bildgestaltung, Malerei, Bildende Kunst, Design teils zur Wiederbelebung von Formen des sozialistischen Realismus. Gegen rigide gesellschaftliche Moralvorstellungen erkämpfte Umsetzungen einer ›sexuellen Revolution‹ in der Folge des Protests von 1968 ff. weichen in diesem Milieu wieder/erneut monogamer Zweierbeziehung und (teils auch) Heirat und Ehe. Es kommt zur (Re-)Etablierung der bürgerlichen Klein­familie als idealisierter Form des menschlichen Zusammenlebens, teils auch zur Ablehnung der, in der studentischen Bewegung zuvor äußerst populären, Idee einer antiautoritären Erziehung als besonders ‚unproletarischer’ Form der Kindererziehung.«

Die Frage, wieso es zu diesem Umbruch gekommen war, beschäftigt einige der damaligen Linken immer wieder. So auch Christian Semler, vor der »Proletarischen Wende« zentrale Figur – neben Rudi Dutschke und Bernd Rabehl – im Westberliner SDS und später Redakteur der Taz. In den Siebzigern war er hingegen Vorsitzender der pekingtreuen KPD/A0. Eingeleitet wird die Studie mit einem Zitat von Semler aus dem 1989 von Anne Dudek, Rainer Marbach und Michael Vester herausgegebenen Buch »Greifen nach Sternen und Steinen: Zum Lernprozess und zur Selbstreflexion der Neuen Sozialen Bewegungen (1968–1988)«. »Die Sponti-Legende«, so Semler, »besteht darin zu sagen, es gab damals eine ganz ab­ strakte Hinwendung zum Proletariat und zum internationalen Klassenkampf und zur Weltrevolution von einigen Idioten, das heißt, sie können vorher ganz intelligent gewesen sein, aber irgendwann hat es ausgehakt bei ihnen. Jetzt wäre es aber eigentlich, falls sie nicht auf der Erklärung beharren, es waren eben nur ein paar Idioten, die Aufgabe dieser Leute, diesen Punkt aufzusuchen, bei dem es ausgehakt hat.«

Mehr als 30 Jahre später sind nicht nur die Versuche, eine kommunistische Partei aufzubauen, Geschichte, sondern auch die Neuen Sozialen Bewegungen. Den von Semler gesuchten Punkt, an dem es »ausgehakt« hat, hat es wohl nie gegeben. Vielmehr kamen viele Faktoren zusammen, die die »Proletarische Wende« begünstigten. Gringmuth geht bei der Strukturanalyse bis in die Anfänge der Außerparlamentarischen Opposition in Westdeutschland und Westberlin in den fünfziger Jahren zurück. Er bezieht sich auf das Milieu, das den poststalinistischen Kommunistischen Parteien distanziert gegenüberstand. Spätestens mit dem 1961 verkündeten Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD gegen den SDS waren die letzten Brücken zur parteiförmigen Sozialdemokratie abgebrochen.

Rudi Dutschke habe bei der »Proletarischen Wende« eine wichtige Rolle gespielt. Bereits 1965 hatte er auf dem Konzil der Gruppe »Subversive Aktion« verkündet, dass man eine radikale proletarische Partei oder Kaderorganisation aufbauen müsse, die »im Austausch mit internationalen revolutionären Organisationen« eine »umfassende Weltrevolutionstheorie« anstrebe, welche »die Internationalisierung der Strategie der revolutionären Kräfte und die Herausbildung einer selbständigen Avantgarde forcieren werde«. Hier scheint schon die Rhetorik der späteren kommunistischen Kleinstparteien mit Avantgardeanspruch anzuklingen. Doch zugleich traf sich der umtriebige Dutschke auch über längere Zeit mit Westberliner Sozialdemokraten in einem Gesprächskreis, dem auch der Bausenator Harry Ristock angehörte.

Es waren aber vor allem die Septemberstreiks des Jahres 1969, die der »Proletarischen Wende« Schwung verliehen, die unabhängig von der DGB-Führung an verschiedenen Standorten der westdeutschen Schwerindustrie geführt wurden. »Der Schock bestand vor allem darin, dass die Theorie von der manipulierten und vollkommen ins System integrierten Arbeiterklasse durch die Ereignisse praktisch widerlegt wurde«, schreibt Gringmuth. Zudem streikten die Proletarier, während die Jungkommunisten noch darüber stritten, wie und ob sich die ins System integrierten Arbeiter po­litisieren ließen.

Den studentischen Solidaritätsdelegationen, die zu den Streikenden geeilt waren, begegneten die Arbeiter zumeist distanziert, gelegentlich sogar feindselig. Diese Erfahrungen verfestigten bei vielen Aktivisten die Überzeugung, dass der Parteiaufbau keinen Aufschub dulde. Doch zunächst drückten die akademischen Linken noch einmal die Schulbank. Schulung in den Schriften von Marx bis Mao wurde zur Losung des Jahres 1969.

Eine wichtige Quelle ist für Gringmuth die Rote Presse-Korrespondenz. Sie war das gemeinsame Medium zur Diskussion und zum Erfahrungsaustausch, bis sie immer mehr zum Verlautbarungsorgan der KPD/AO wurde (das Kürzel für »Aufbauorganisation« wurde bald gestrichen). Die Partei agierte vor allem in Westberlin, sicherlich auch weil dort im Unter­-
schied zur BRD das 1956 vom Bundesverfassungsgericht erlassene Verbot der KPD, das auch für die Gründung von Nachfolgeorganisationen galt, keine Anwendung fand. Viele aktive Mitglieder waren Studierende, auch einige Dozenten des Fachbereichs Germanistik der FU Berlin gehörten der Partei an. Das spöttisch gemeinte Etikett »Germanisten-KP« erhielt die KPD also nicht ganz unverdient.

Der Partei gelang es in den knapp zehn Jahren ihres Bestehens nicht, sich über Westberlin hinaus auszudehnen. Auch die vielbeschworene Verankerung im Proletariat blieb reines Wunschdenken. Wo sie sich an Wahlen beteiligte, lagen die Ergebnisse im Promillebereich. Durch ihr sektiererisches Auftreten in Universitätsseminaren war sie auch in der studentische Linken bald isoliert und blieb es bis zu ihrer Auflösung. Manche der verhinderten Revolutionäre machten später Karriere bei den Grünen, in den Medien oder der Wirtschaft. Als langjährige Funktionäre waren sie Disziplin gewöhnt und konnten sich mit den im Parteileben erworbenen Fähigkeiten später gut am kapitalistischen Markt bewähren.

Gringmuth beschreibt nicht nur die Irrtümer und politischen Dummheiten jener Jahre. Er benennt auch die Utopien und den Glauben an die Veränderbarkeit der Welt, der die Jungkommunisten einige Jahre lang motivierte. Zudem widmet sich der Autor auch der sich wandelnden Lektüre jener Jahre. Zahleiche Abbildungen zeigen Cover der angesagten linken Literatur von Jürgen Habermas über Marx bis Mao. Zudem untersucht er die zahlreichen Kleinanzeigen jener Jahre, die mehr über die Mentalitätsgeschichte der Protagonisten ­verraten als Reden oder Flugschriften. Gringmuths Buch könnte ein Ansporn sein, über die »Proletarische Wende« weiter zu forschen. Besonders über die im Ruhrgebiet und in Hamburg für kurze Zeit aktive Gruppe Proletarischer Kampf, die sich am Operaismus orientierte, ist wenig bekannt.

 

Sven Gringmuth: Was war die Proletarische Wende? Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Linken. Verlag Westfälisches Dampfboot 2021, 442 Seiten, 44 Euro