Der Linkspopulist Castillo wird vorraussichtlich der neue Präsident Perus

Populismus aus den Anden

Der Linkspopulist Pedro Castillo hat sich bei den Präsidentschafts­wahlen in Peru gegen die rechte Kandidatin Keiko Fujimori durchgesetzt. Doch diese will ihre Niederlage nicht anerkennen.

Inzwischen sind alle Stimmen aus­gezählt: Nach Angaben der Wahlkom­mission landete Pedro Castillo mit 50,125 Prozent der Stimmen knapp vor Keiko Fujimori mit 49,875 Prozent beider Stichwahl um die Präsidentschaft in Peru vom 6. Juni. Der voraussichtliche nächste Präsident Perus stammt aus einem kleinen Ort in den nördlichen ­Anden im Department Cajamarca. Castillo ist Landwirt, Grundschullehrer und Gewerkschafter. Er wuchs in Armut auf und lebt bis heute in ein­fachen Verhältnissen.

Castillo vertritt einen »Andinen Populismus«, der Patriotismus und religiös-konservative Vorstellungen mit traditionellem Antiimpe­rialis­mus und Versatzstücken des Marxismus vermischt.

Doch trotz des inzwischen amtlichen Wahlsiegs zieht sich die Auszählung seit über zwei Wochen hin. Castillos Widersacherin will den Wahlausgang nicht akzeptieren und hat ein Team von Anwälten beauftragt, das Ergebnis anzufechten. Die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori möchte im mittlerweile dritten Anlauf endlich Präsidentin werden. Sie verbreitet die Mär vom großen Wahlbetrug. Ihren Rückstand von etwa 44 058 Stimmen möchte sie durch die Annullierung von bis zu 200 000 Stimmen wettmachen. Internationale Wahlbeobachter sind sich allerdings einig, dass es bei der Wahl zu keinen Unregelmäßigkeiten kam. Bislang ging Fujimoris Kalkül nicht auf, weshalb sie inzwischen die Forderung nach Neuwahlen in den Mittelpunkt ihrer Strategie rückt.

Die Stimmung ist angespannt und die Gefahr größerer Unruhen steigt von Tag zu Tag. Am Samstag gingen in Lima erneut Tausende Anhängerinnen und Anhänger beider Seiten auf die Straße. In den vergangen Wochen ist es in Peru zu einer enormen politischen Polarisierung gekommen. Auf der einen Seite stehen die wirtschaftliche Führungsschicht und ein großer Teil der städtischen Bevölkerung, die Fujimori unterstützen. Ihnen gegenüber stehen die große Mehrheit der Bevölkerung in den Andenregionen sowie linke und sozialliberale Städter, sozialökologische und feministische Kollektive und ­sogar Teile der konservativen Mittelschicht, die eine Neuauflage der Diktatur fürchten, die Fujimoris Vater von 1990 bis 2000 führte.

Keiko Fujimori war zunächst nicht gerade beliebt, ihr Name wurde mit Kriminalität und Autoritarismus in Verbindung gebracht. Doch die hegemoni­alen Medien haben sie zur letzten Hoffnung der peruanischen Demokratie umgedeutet, der sie Castillo als marxistischen Totengräber der Zivilisation ­gegenüberstellen. Diese Propaganda unterstützte sogar der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der einst ein erbitterter Gegner des fujimorismo war, Keiko Fujimori aber als »kleineres Übel« bezeichnete. Die traditionelle Führungsschicht des Landes scheint angesichts einer imaginierten kommunistischen Gefahr in Hysterie verfallen zu sein. Dahinter verbirgt sich die auch rassistisch geprägte Angst der Oberschicht vor dem Verlust ihrer ­Privilegien.

Gegen Keiko Fujimori wird seit Jahren wegen Korruption ermittelt. Ihr drohen mindestens 30 Jahre Gefängnis. Sie war bereits 16 Monate in Unter­suchungshaft und stand zuletzt unter Hausarrest. Staatsanwälte stufen ihre Partei Fuerza Popular als kriminelle Vereinigung ein. Dementsprechend schlecht sah auch ihr Wahlergebnis in der ersten Runde vom 11. April aus: ­Fujimori erhielt als Zweitplatzierte gerade einmal 13,5 Prozent der Stimmen. Doch auch Castillo erreichte nur 19,09 Prozent.

Das Wahlergebnis offenbarte einmal mehr die tiefe politische Krise Perus. Außer der Präsidentschaft wurden auch die 130 Sitze des Kongresses neu ­besetzt. Trotz der Wahlpflicht blieben 29,8 Prozent der Wahlberechtigten der Abstimmung fern, so viele wie noch nie; zudem wurden noch nie so viele Stimmzettel leer oder ungültig abge­geben. Umfragen verdeutlichen das stetig sinkende Ansehen des Parlaments und der politischen Parteien mit Ablehnungswerten von bis zu 80 Prozent. Seit 2016 sind fünf Präsidenten in ­Folge wegen Korruption angeklagt, abgesetzt oder verurteilt worden.

Der neu gewählte Kongress ist stark zersplittert, zehn Parteien schafften den Einzug. Kein Präsidentschaftskandidat könnte sich auf eine stabile par­lamentarische Mehrheitskoalition stützen, vor allem nicht Pedro Castillo. Etwa 60 Prozent der Abgeordneten sind dem konservativen bis rechtsextremen Lager zuzuordnen. Ein knappes Drittel entfallen auf den »Andinen Populismus« von Castillo oder auf an­dere linke Parteien. Die restlichen Abgeordneten sind gemäßigte Konservativen, Liberale oder Linksliberale oder gehören einer gemäßigt ­populistisch-religiösen Strömung an.

Die Wahlen fanden vor dem Hintergrund der ­Covid-19-Pandemie statt, die in Peru die weltweit meisten Menschenleben in Relation zur Bevölkerungszahl forderte. Die Pandemie stürzte das Land in eine tiefe ökonomische und soziale Krise. Millionen Arbeitsplätze gingen verloren, Einkommen sanken erheblich, sogar Hunger und Unterernährung nahmen deutlich zu.

Nur vor diesem Hintergrund und angesichts des desolaten Zustands fast ­aller übrigen Parteien wird der Sieg von Pedro Castillo verständlich. Denn außerhalb der gewerkschaftlich organisierten Lehrerschaft war Castillo weitgehend unbekannt. Gewählt wurde er vor allem in den Andenregionen, in denen sich die Menschen seit jeher rassistisch und ökonomisch diskriminiert und vom Staat im Stich gelassen fühlen. Sie haben auf ein neuen, bisher unbescholtenen Kandidaten gebaut. ­Castillo gilt als »einer von ihnen.«

Politisch war Castillo viele Jahre in der 2017 aufgelösten Partei Perú Posible des Populisten Alejandro Toledo tätig. Dieser erlangte als Führer der Opposition gegen Alberto Fujimori Bekanntheit und gewann 2001 die erste Präsidentschaftswahl nach dessen Rücktritt im Vorjahr. Er galt als erster Präsident des andinen Peru und als politisch moderat. Einst war er die Hoffnung von breiten Bevölkerungsteilen aus den Andenregionen und den städtischen Armutsgürteln. Doch im Amt verfolgte er konsequent den wirtschaftsliberalen Kurs, welcher Peru seit 30 Jahren prägt.

Castillo ist kein traditioneller Marxist-Leninist und ebenso wenig ein Verfechter des Terrorismus von Sendero Luminoso, wie manche seiner Gegner behaupten. Vielmehr ist er bekennender Christ aus einem wertkonservativen Milieu. Er ruft die Jugend dazu auf, zuerst an die Familie zu denken, den Eltern zu gehorchen und nicht an überlieferten Werten zu zweifeln. Auch ist er ein Verfechter der bürgerlichen Arbeitsethik. »Der beste Dünger für die Erde ist der menschliche Schweiß«, sagte er. Er preist das Unternehmertum, Enteignung von Privateigentum lehnt er strikt ab.

Allerdings fordert er Solidarität und Mitbestimmung und sieht den Staat in der Pflicht zu intervenieren, besonders in Hinblick auf Gesundheit, Bildung, Armutsbekämpfung und finanzielle Förderung der Kleinbauern. Mit Feminismus und sexueller Selbstbestimmung kann er jedoch nichts anfangen, Abtreibung und gleichgeschlecht­liche Ehe lehnt er ab. Castillo vertritt einen »Andinen Populismus«, der Zu­taten aus den verschiedensten politischen Lagern mischt. Er vermischt Patriotismus und religiös-konservative Vorstellungen mit traditionellem ­Antiimperialismus und Versatzstücken des Marxismus.

Castillo gehörte weder zur Basis noch zum Führungsclan der Partei Perú Libre, die ihn als Kandidat aufstellte. Erst im letzten Moment ist er auf Ein­ladung des Parteivorsitzenden Vladimir Cerrón Parteimitglied geworden, damit Castillo ihn als Präsidentschaftskandidat ersetzen konnte. Cerrón durfte aufgrund einer zu verbüßenden Strafe nicht antreten. Er bezeichnet sich als ­einen Vertreter marxistisch-leninistischer Ideologie, sympathisiert mit dem »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in Venezuela, Bolivien und Ecuador und verteidigt Kuba als sozialistisches Mutterland Lateinamerikas.

Konflikte zwischen Castillo und Cerrón sowie der Fraktion von Perú Libre sind programmiert. Bereits vor der Stichwahl trat dies deutlich zutage. Castillo markierte eine deutliche Distanz zu den sozialistischen Anteilen der Programmatik von Perú Libre, zum Beispiel indem er technokratische Expertinnen und Experten und ehemaliges sozialliberales und teils konservatives Politpersonal in sein Beraterteam ­berief.

Unterstützung erhält Castillo von den beiden linken Bündnissen Juntos por el Perú und Frente Amplio, die ebenfalls an der Wahl teilgenommen haben. Bei Juntos por el Perú handelt es sich um ein Sammelsurium aus Resten tradi­tioneller ML-Parteien, prokubanischen sozialistischen Strömungen, humanistisch-sozialdemokratischen Gruppen und den beiden großen Gewerkschaftszentralen der Lehrer und Arbeiter. Juntos por el Perú stellte als Präsidentschaftskandidatin Verónika Mendoza auf, die einstmals zu Frente Amplio gehörte, später aber die Partei Nuevo Perú gründete.

Gemeinsam vertreten Nuevo Perú und Juntos por el Perú einen größeren Teil der aktiven Zivilgesellschaft und der peruanischen Bevölkerung als Perú Libre. Viele ihrer Grundpositionen, besonders was Feminismus, sexuelle Selbstbestimmung und individuelle Entfaltung angeht, sind jedoch weder mit dem »Andinen Populismus« noch mit tradierten ML-Dogmen vereinbar. Trotzdem wollen sie nun alle zusammenarbeiten, in der Hoffnung, den Neoliberalismus durch eine neue Verfassung zurückzudrängen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament wird sich das allerdings schwierig gestalten. Und dass damit der Sozialismus eingeführt wird, wie Castillos Gegner es fürchten, ist eher unwahrscheinlich.