Die Netflix-Serie »Filme – Das waren unsere Kinojahre« nimmt ihr Thema nicht ernst

Boshafte Sentimentalität

Die Netflix-Dokuserie »Filme – Das waren unsere Kinojahre« bereitet Blockbuster aus den achtziger und neunziger Jahren für ein junges Publikum in Making-ofs neu auf. Den Film an sich nimmt sie allerdings nicht ernst und die Frage nach der Entstehung der großen Kinoproduktionen stellt sie erst gar nicht.

»Es hängt mit der Technik des Films genau wie mit der des Sports zusammen, dass jeder den Leistungen, die sie ausstellen, als halber Fachmann beiwohnt«, heißt es bei Walter Benjamin. Das ist eine mögliche Erklärung dafür, was für das Publikum die Faszination an den sogenannten Making-ofs ausmacht, die Einblick in das Produktionsgeschehen eines Films gewähren. Denn die dabei für gewöhnlich Interviewten sind selbst nicht selten über Umwege »zum Film« gekommen. Das, was sie von ihrer Arbeit preisgeben, handelt oft vom Ausprobieren und Scheitern, von Umwegen und Improvisation. Nicht selten führt das wiederum zu den besten Momenten des Kinos.

Dass eine Filmproduktion so gut wie nie glatt und reibungslos verläuft, sieht man vielen Filmen bei genauerer Betrachtung durchaus an. Alle Rückschlüsse auf ihren Herstellungsprozess und Entstehungskontext aus dem Material zu tilgen, ist beschwerlich, geschweige denn wünschenswert. So scheint auch das ­Making-of gar nicht vornehmlich auf eine Auflösung des ästhetischen Scheins hinzuarbeiten.

Um sich nicht der Häme auszusetzen, mit der junge Netflix-Nutzer allem Älteren begegnen, macht sich die Dokuserie den Ton gegenwärtiger digitaler Medienkultur vorauseilend zu eigen.

Zumindest dem Titel nach ein Vorgänger des Making-of ist François Truffauts Buch »Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?«, das im Original 1966 unter dem Titel »Le Cinéma selon Hitchcock« erschien – »Kino nach Hitchcock«. Es hat weniger entzaubernden denn manifesthaften Charakter: Anstatt exakt nachzuvollziehen, wie eine bestimmte Einstellung des Films komponiert wurde, lässt das Buch eher durchscheinen, welche Grundhaltung beim Filmemachen in welchen Einstellungen resultiert; eine Art Begleittext, der selbst eine bestimmte Einstellung zum Kino offenbart.

Auch die Netflix-Dokuserie »Filme – Das waren unsere Kinojahre« (Originaltitel: »The Movies That Made Us«) offenbart eine bestimmte Einstellung. Die Titelübersetzung setzt in der Manier eines pathetischen Epilogs voraus, dass das Kino passé ist. Der Ton der Serie, dessen zweite Staffel (in der sich die einzelnen Folgen mit den Filmen »Zurück in die Zukunft«, »Pretty Woman«, »Jurassic Park« und »Forrest Gump« beschäftigen) seit kurzem abrufbar ist, ist wiederum weniger pathetisch, sondern weist eine kumpelhafte Aggressivität auf. Der Serienschöpfer Brian Volk-Weiss wirft Interviews und animierte Fotocollagen durcheinander, streut Filmschnipsel ein, reduziert die Einstellungsdauer eisern auf höchstens drei Sekunden und lässt das Ganze mit einem gewitzt-stupiden Voice-over garnieren. Das wirkt dann so, als hätte Netflix eine Riege bemüht frecher Videoessays aus der Youtube-Gemeinde ins Programm gehievt.

Der Originaltitel wirft unweigerlich die Frage auf, wer mit »us«, uns, gemeint ist. Brian Volk-Weiß und der Netflix-Konzern oder seine Kunden? Mit dem Titellogo, einer Videokassette, gerät ein historisches Indiz in das Bildfeld. Der 1976 geborene Volk-Weiss ist alt genug, um die meisten der Blockbuster, um die es hier geht, noch als Kind oder Teenager im Kino gesehen zu haben. Die Netflix-Kundschaft hingegen besteht laut einer Studie aus dem Jahr 2020 zu zwei Dritteln aus 18- bis 29jährigen. Diese dürften »Jurassic Park« und »Stirb Langsam« (dem in der ersten Staffel eine Folge gewidmet ist) nur aus dem familieneigenen Videoregal kennen.

Das »Uns«, auf das hier hingearbeitet wird, wäre demzufolge eines, das Netflix-Produzenten wie Netflix-Konsumenten generationsübergreifend aufeinander einschwört und das sich nicht in Kauf und Verkauf von Netflix-Abonnements erschöpft. Es schwört auch auf eine spezifische Haltung zum Kino ein. Das erinnert an Adornos Feststellung, dass jedes Generationenverhältnis unterm ­Kapitalismus ökonomischer Konkurrenz unterliege, »hinter der die nack­te Gewalt steht«.

Um sich nicht der Häme auszusetzen, mit der junge Netflix-Nutzer ­allem Älteren begegnen, macht sich die Serie den Ton gegenwärtiger ­digitaler Medienkultur vorauseilend zu eigen und wendet ihn gegen ihren Gegenstand, das Kino. Die egalitäre Größe des Kinos, das jedem Zuschauer als halber Fachfrau oder halbem Fachmann einen Platz gewährt, dürfte Serienmachern wie -konsumenten ein Dorn im Auge sein. Wiederholt wird in der Serie im Jargon von heute hervorgehoben, wie naiv, »awkward«, oder »cringy« das damals alles gewesen sein muss.

Ein weißhaariger Tricktechniker, der wegen der sprunghaften Entwicklung der Möglichkeiten digitaler Animationen am Set von Steven Spielbergs »Jurassic Park« plötzlich nicht mehr gebraucht wurde, wird gebeten, sich und seine Tätigkeitsbereiche vorzustellen. Er beginnt, sie aufzuzählen, und das Voice-over unterbricht ihn nahezu sofort: »Bist du endlich fertig?« Derart rangiert man eine Generation Filmschaffender aus, denen die Industrie nicht nur die ökonomische Grundlage entzog, sondern die auch in ihrem am Kino der Siebziger geschulten Arbeitsethos und Selbstverständnis heutzutage unzeitgemäß und verdächtig erscheinen.

So denkt freilich nur, wer das Kino ahistorisch betrachtet. Selbst das in der Serie thematisierte Blockbusterkino entstand nicht aus einer Laune Hollywoods heraus. Pauline Kael, der aufmerksamsten und meinungsstärksten Kritikerin des US-amerikanischen Kinos des vergangenen Jahrhunderts, schwante schon im Juni 1981 nichts Gutes. 14 Jahre zuvor hat­te sie mit ihrer Besprechung von Arthur Penns »Bonnie and Clyde« dem New Hollywood maßgeblich den Weg geebnet. Jetzt spürte sie, dass dieses Kino Gefahr lief, von seinen erfolgreichsten Vorkämpfern verdrängt zu werden. Kael stand kurz vor ihrem 61. Geburtstag und hatte gerade Steven Spielbergs »Jäger des verlorenen Schatzes« für den New Yorker besprochen. Ein Film, der, genauso wie George Lucas‘ »Star Wars« zuvor, den neuen familienfreundlichen Blockbuster einläuten sollte.

Lucas und Spielberg: Es sind vor allem diese beiden, deren Filme Kael zu jener Zeit nachhaltig alarmieren. Denn anstatt mit jugendlicher Unbekümmertheit gegen Konventionen anzugehen, begnügen sie sich vornehmlich mit Jugendsentimentalitäten. »Die wahren Filmliebhaber« seien »im Herzen immer Kind geblieben«, behauptet Spielberg plötzlich und Kael kontert in ihrem Text: »Der denkt wirklich, das sei ein Kompliment«. »Es ist schockierend, wenn große Filmemacher sich den Marketingabteilungen andienen«, fährt sie fort und meint damit vor allem Lucas, den sie einen Spielzeugverkäufer nennt, der hoffnungslos auf dem »Dreck seiner Kindheit hängengeblieben« sei.

Das Kino, das Kael so liebte und scharfzüngig verteidigte, zum Beispiel die radikalen Filme von Sam Peckinpah, aber auch Robert Altman, selbst die eines Martin Scorsese, hatten es in jener Zeit immer schwerer. Filme hingegen, die an das Infantile in Menschen aller Altersgruppen ­appellieren, wurden fortan ungeheuer profitabel. Das Wunderkind Spielberg stellt im nächsten Teil »Indiana Jones und der Tempel des Todes« dem Archäologen gleich einen kindlichen Kompagnon zur Seite. Immerhin merkt man dem Film seine historische Zerrissenheit dieser Zeitenwende durchaus an, einerseits ist er noch ein krudes Horrorabenteuer, andererseits schon Kinderfilm. Im dem dritten Teil der Reihe schließlich, »Indiana Jones und der letzte Kreuzzug«, ist die Titelfigur selbst zum »Junior« geworden, wie ihn sein in dem Film auftauchender Vater nennt, mit dem allerlei daddy issues auszufechten sind.

Am Wandel in der Zeichnung des Helden lässt sich das Umschlagen von wagemutigem Erwachsenenkino hin zu einem Kino der kindlichen Sentimentalitäten nachvollziehen. Für Pauline Kael, so legte sie in ihrem Text zu »Bonnie and Clyde« dar, stellte die raue US-amerikanische Romantik des nicht zuletzt aus dem Western und dem Noir überkommenen Antihelden eine Art Gradmesser für gelungenes Kino dar: »Unsere besten Filme haben seit jeher Unterhaltung aus dem Antiheroismus des amerikanischen Lebens gemacht.« Zuwider waren ihr narrative Schließungen, die den Antiheroismus letztlich bekehren und zum positiven Heldendienst am Gemeinwesen verdrehen: »Die Sentimentalität liegt traditionell in dem verfälschten Schluss, wenn der Antiheld zum Helden wird. 1967 funktionierte diese Sentimentalität für das Publikum nicht mehr.«

Wie einem Zwang folgend, kehrte mit Spielberg und Lucas diese Sentimentalität ins US-amerikanische Kino zurück. Trotzdem kann man ihnen zugute halten, dass ihre Sentimentalität lediglich auf kindliches Staunen und noch nichts Ärgeres ­abzielte. Ihr Kino, so politisch insignifikant es sich gibt, besitzt dennoch eine politische Signifikanz, einen Zwang zum Positiven, zu falscher Versöhnung. Diese Tendenz ihrem Material auszutreiben, dazu ­waren auch die Kindsköpfe Spielberg und Lucas nicht fähig.

Netflix ist derweil zu keinerlei substantieller Kritik und nicht einmal zu einer interessanten Betrachtung des Blockbusterkinos der Achtziger und frühen Neunziger imstande, sondern übt sich bloß in Boshaftigkeit, die geschickt als Sentimentalität verkleidet wird. Die ausgewählten Filme sind denn eben auch jene, die den Antihelden, wie Kael es kritisierte, zum Helden stilisieren, insbesondere »Pretty Woman« und »Forrest Gump«. Richard Gere, der sich 1980 noch als »American Gigolo« durch West Hollywood treiben ließ und von Regisseur Paul Schrader dem Verfall preisgegeben wird, rettet Julia Roberts nun edelmütig aus der Straßenpros­titution; und Tom Hanks verwandelt sich vom märchenhaft-naiven Südstaatenjungen in einen wohltätigen Millionär. Bleibt zu hoffen, dass das US-amerikanische Kino noch genug halbe Fachmänner und halbe Fachfrauen stellt, die nicht dem Heldendienst am Gemeinwesen frönen, sondern Lust am Ausprobieren und Scheitern, an Umwegen und Improvisationen haben.

»Filme – Das waren unsere Kinojahre« (USA 2019 ff.) von Brian Volk-Weiss kann bei Netflix gestreamt werden.