Die Friedrich-Engels-Konferenz des Jobcenters Wuppertal

Störung der Totenruhe

Das Jobcenter Wuppertal veranstaltete in der vorigen Woche eine Kon­-ferenz mit dem Titel »Friedrich Engels und die ›Arbeitsfrage‹. Kommunale Sozialpolitik, bürgerschaftlicher Sozialraum und die Überwindung von Armut wie Prekarität«. Diese war ein Lehrstück über das, was man sozialdemokratische Ideologie nennen kann.

Die Stadt Wuppertal hat ein sehr flexibles Verhältnis zu Friedrich Engels. Dieser wurde 1820 in Barmen geboren, einer der fünf Städte, aus deren Vereinigung 1929 das heutige Wuppertal hervorging. 1981 sorgte Alfred Hrdlickas Engels gewidmete Plastik »Die starke Linke« noch für einen Eklat und Protest der CDU-Ratsfraktion. Als 2013 die Volksrepublik China der Stadt eine überlebensgroße Engels-Bronzestatue schenkte, wurde diese hingegen von einer CDU-geführten Ratskoalition im Frühjahr 2014 feierlich eingeweiht. Auf deren Podest steht ein Zitat aus Engels’ unvollendetem Werk »Dialektik der Natur«: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.«

Dass ein Jobcenter sich auf einen der Begründer des wissenschaft­lichen Sozialismus und Stichwort­geber der revolutionären Arbei­terbewegung beruft, ist gelinde gesagt wider­sprüchlich.

Das Zitat liefert seitdem einen hervorragenden Ausgangspunkt für einen unbefangenen und entpolitisierten Umgang mit Engels. Es findet sich daher auch in der Ankündigung einer Konferenz, die das Jobcenter Wuppertal am 16. November unter dem Titel »Friedrich Engels und die ›Arbeitsfrage‹. Kommunale Sozialpolitik, bürgerschaftlicher Sozialraum und die Überwindung von Armut wie Prekarität« ausrichtete. »Angesichts steigender sozialer Spaltungen wie prekärer Arbeitsbedingungen«, verlautete die Ankündigung in routiniert kaputtem Deutsch, wolle man die »Grundlagen emanzipatorischer Sozialpolitik« diskutieren. Dazu beschwor der Vorstandsvorsitzende des Jobcenters Wuppertal, Thomas Lenz, in seiner Eröffnungsrede die Nähe zu Engels. Das berühmte Zitat gebe er all seinen Mitarbeitenden mit auf den Weg, da es »die Grundphilosophie seiner Behörde bestens zusammenfasse«. Dass eine Institution, die wie kaum eine andere für prekarisierte Arbeit und Sozialstaatsabbau steht, sich auf einen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und Stichwortgeber der revolutionären Arbeiterbewegung beruft, ist gelinde gesagt widersprüchlich.

Diesen Widerspruch zu übergehen, erfordert einiges an ideologischen Verrenkungen. Folglich war die Konferenz, die Diskussionen über soziale Gerechtigkeit, Hartz IV und Konzepte der Sozialpolitik im Programm hatte, ein Lehrstück über etwas, das man sozialdemokratische Ideologie nennen kann. Ihr erster Grundsatz lautet, dass die Klassengesellschaft überwunden sei. Zumindest für westliche Gesellschaften müsse anerkannt werden, wie der Wuppertaler Oberbürgermeister Uwe Schneidewind (Bündnis 90/Die Grünen) in seiner Begrüßungsrede sagte, »dass sich die Brutalität ökonomischer Mechanismen nicht mehr im Sozialen, sondern im Ökologischen niederschlägt«. Wenn zwischen Ungleichheit und Ökonomie kein Zusammenhang mehr besteht, dann wird die soziale Frage zu einer der möglichst effektiven Verwaltung. So werden Widersprüche zum Ausdruck von Vielfalt und sub­stantielle Interessenkonflikte zu bloßen Meinungsverschiedenheiten.

Im Sinne solcher Vielfalt stand die Konferenz des Jobcenters am Ende eines Veranstaltungsjahrs, das die Stadt Wuppertal zum 200. Geburtstag ihres berühmtesten Sohns ausrichtete. Unter dem vermutlich nicht mal hämisch gemeinten Motto »Engels. Denker, Macher, Wuppertaler« ging es entsprechend weniger um den konkreten Gehalt seines politischen Denkens als um Engels’ biographische Facetten als »Textilunternehmer, Philosoph, Kommunist, Journalist und Lebemann«. Bei dieser Vielfalt verbieten sich selbstverständlich eindeutige politische Urteile.

Es ist ja gar nicht mal verkehrt, das Jobcenter als eine Institution der sozialen Gerechtigkeit zu verstehen – insofern im Kapitalismus eben die Prinzipien von Privateigentum und Äquivalententausch definieren, was gerecht ist. Nur hätte Engels eben die Vorstellung der »sozialen Gerechtigkeit« zurückgewiesen, weil diese im Kapitalismus nur dazu dienen kann, den Widerspruch der Klasseninteressen zu verschleiern.

Oberbürgermeister Schneidewind sieht in den Jobcentern denn auch die Tradition der »sensationellen Absicherungssysteme eines sich selbst heilenden Kapitalismus, an dem Marxisten seit jeher verzweifeln«. Wuppertal sei das historisch beste Beispiel für diese Art Autoremission. Gemeint ist, dass die Stadt seit 2012 eine der sogenannten Optionskommunen in Bezug auf die Organisation ihres Jobcenters ist, dieses ist also ein von der Bundesagentur für Arbeit unabhängiger kommunaler Träger für die Grundsicherung Arbeitssuchender. Auch wenn sie selbstverständlich dem Sozialgesetzbuch II unterstehen, haben solche optierenden Kommunen in eigener Verantwortung Spielraum beim Einsatz ihrer Mittel.

Dass das Jobcenter deshalb Sozialpolitik von unten betreibe und, um mit Engels zu sprechen, zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse beitrage, bestreitet Harald Thomé vom ortsansässigen Erwerbslosenverein Tacheles. Im Gespräch mit der Jungle World sagte er vor der Konferenz, dass die kommunale Selbständigkeit im Gegenteil einen »Raum für rechtsfreies Agieren« schaffe. Da die Kommune ihre Freiräume eher für Sparmaßnahmen und öffentlichkeitswirksame Profilierung nutze, beurteilt Thomé die Konferenz als »Unverfrorenheit«. Ihm sei »die ganze Veranstaltung unbegreiflich«.

Unbegreiflich auch deswegen, weil zu deren Diskussionen durchaus Kritiker beziehungsweise Marxisten geladen waren, wie etwa der Bildungstheoretiker und emeritierte Professor der Bergischen Universität Wuppertal, Heinz Sünker. Dieser fand scharfe Worte gegen die Programme und Akteure der Ära Schröder, deren Resultat eine Gesellschaft sei, »in der es von vornherein dummes Geschwätz bleibt, von Solidarität zu sprechen, weil sie immer totalitärer das Gegenteil verkörpert«. Sünker zeichnete eine Verfallsgeschichte des deutschen Sozialstaats seit der »neoli­beralen Konterrevolution« und setzte der Selbstinszenierung seiner Vor­redner entgegen, dass es im Kontext des Hartz-IV-Armutsregimes einer »Vergewaltigung des Freiheitsbegriffs« gleichkäme, von »Ermöglichung und Emanzipation« zu sprechen.

Sünker sieht genau in dieser desolaten Lage den Grund, an der Konferenz teilzunehmen. Angesichts »entpolitisierter Gewerkschaften«, »dämlicher Journaille« und der zu »Charaktermasken des Kapitals degenerierten Parteien« sehe er keine Alternative, als die »öffentliche und vernünftige Diskussion auf kommunaler Ebene zu suchen«. Trotz seiner Tirade über das falsche Ganze machte er dann doch nur zahme Praxisvorschläge zu »Bildung und Partizipation«, um Voraussetzungen für mündige Bürgerschaft zu schaffen. Und schließlich verstieg sich Sünker in kulturpessimistisches Wettern gegen »Verblödung« und »Wahlmüdigkeit«, als wären am Ende die betroffenen Menschen selbst schuld.

Die Sozialgesetzgebung folgt einer Eigenverantwortungs- und Aktivierungslogik, und in diesem Sinne ist der Beitrag Sünkers erwünscht, denn, wie der Oberbürgermeister einleitend sagte, das Jobcenter möchte »mit der produktiven Kraft der Kritik den Kompass klarkriegen«. Kritik wird in die Verwaltung des Bestehenden integriert. Davon zeugt auch das auf der Konferenz diskutierte Konzept der Sozialraumorientierung. Dieses soll die konkreten Lebensumstände in den Mittelpunkt stellen und entstammt durchaus progressiven Ansätzen der Sozialarbeit. Professor Fabian Kessel von der Bergischen Universität Wuppertal kritisierte aber, dass es zur paternalistischen und stigmatisierenden Praxis geworden sei. Das Jobcenter wähne sich mit diesem Ansatz nah an den Menschen und ihren Bedürfnissen. Aber den Unterschied zur Theorie und Praxis eines Engels mache eben, dass den Programmen des Jobcenters jegliche politische Rahmung fehle.

Ohne eine Perspektive, die Verhältnisse grundlegend zu verändern, bleibt jede kritische Diskussion über Emanzipation und soziales Elend so ohnmächtig, dass der Verwaltungsapparat sie schmerzlos abnicken kann. Wider diese Ohnmacht ging es bei Engels und im Marxismus, und das sollte der Begriff »Klassenkampf« ausdrücken. Selbstverständlich existiert das Proletariat aus Engels’ Zeiten so nicht mehr; es ist immer weiter integriert worden. Es macht aber einen Unterschied, ob man so tut, als ob die grundlegenden Widersprüche einer kapitalistischen Gesellschaft aufgelöst seien, oder ob man versteht, dass »Desintegration durch die anwachsende Integration hindurch« geschieht, wie Adorno schrieb. »Je integrierter die Gesellschaft ist (…), desto ohnmächtiger ist notwendigerweise ein jeder von uns diesem Ganzen gegenüber.« Diese Ohnmacht bildet den Horizont jener sozialdemokratischen Ideologie, in der alle sozialen Widersprüche und Antagonismen in einem abstrakten Bekenntnis zu Menschenwürde und Arbeit eingeebnet sind.