Für US-amerikanische Rechte ist Ungarn zur Projektionsfläche geworden

Autoritäre Sehnsüchte

Ungarn ist der einzige Mitgliedstaat der EU, den US-Präsident Joe Biden nicht zu seiner Demokratiekonferenz eingeladen hatte. Einigen US-amerikanischen Konservativen erscheint die autoritäre Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hingegen attraktiv.

Die vom US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden organisierte Konferenz für Demokratie sollte weltweit ein Zeichen gegen autokratische Tendenzen setzen. Doch zeigte sich vorige Woche indirekt, dass auch manche US-Repu­blikaner inzwischen mit der liberalen Demokratie fremdeln. Zu der Konferenz, die am Donnerstag und Freitag voriger Woche als Online-Veranstaltung stattfand, waren alle EU-Mitgliedstaaten eingeladen, mit Ausnahme Ungarns – und gerade der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kann mittlerweile namhafte US-Konservative zu seinen Fans zählen.

Anfang August sendete Tucker Carlson, der prominenteste Moderator des konservativen Fernsehsenders Fox News, eine Woche lang aus Budapest – inklusive eines geradezu unterwürfig geführten Interviews mit Orbán. Carlsons Show »Tucker Carlson Tonight« läuft montags bis freitags jeden Abend zur besten Sendezeit auf Fox News, es ist die meistgeschaute Politiksendung in den USA. Auf die Basis der republikanischen Partei hat Carlson wohl mehr Einfluss als jeder republikanische Poli­tiker – abgesehen vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump natürlich.

Bei den US-amerikanischen Republikanern gibt es inzwischen eine fest etablierte illiberale Strömung.

Man müsse nach Ungarn schauen, sagte Carlson in seiner Show, »wenn einem die westliche Zivilisation und Demokratie und Familie wichtig« seien. Orbán habe den Zorn der USA auf sich gezogen, weil er den »Neoliberalismus ablehnt« und weil er glaube, dass »Familien wichtiger sind als Banken« und dass »Länder Grenzen brauchen«. »Warum können wir das nicht in Amerika haben?«, fragt Carlson in einer der in Budapest gedrehten Folgen, und antwortet: »Weil unsere Anführer das nicht wollen. Sie profitieren von dem Chaos und dem Schmerz der illegalen Einwanderung.« Deshalb, so Carlson, reagierten die Demokraten so hysterisch, wenn man darauf verweise, wie erfolgreich Ungarn seine Grenzen »schützt«: »Sie wollen nicht, dass ihr wisst, dass es eine Alternative zu dem ganzen Chaos und Schmutz und der Kriminalität gibt.« Es folgt ein Kameraschwenk über die pittoreske Innenstadt von Budapest: Hier gebe es keinen Müll auf den Straßen, so Carlson, keine mordenden illegalen Einwanderer, keine »Black Lives Matter«-Demonstrationen.

Mike Pence, der unter Trump US-Vizepräsident war, besuchte Budapest Ende September. Dort sprach er auf dem vierten Budapest Demographic Summit, einer unter anderem von der ungarischen Regierung organisierten Konferenz über Familien- und Bevölkerungspolitik, die seit 2015 alle zwei Jahre stattfindet. Im selben Monat hielt Trumps ehemaliger Justizminister Jeff Sessions in Budapest eine Rede über Einwanderungspolitik. Das geschah auf Einladung des Danube Institute, eines indirekt von der ungarischen Regierung finanzierten Think Tanks, den John O’Sullivan leitet. Dieser war während Margaret Thatchers Amtszeit als britische Premierministerin für sie als Berater und Redenschreiber tätig.

Das Danube Institute lud dieses Jahr den reaktionären christlichen US-Autor Rod Dreher für einige Monate als Gastforscher nach Budapest ein. Dreher lobte nicht nur Orbáns Regierung in den höchsten Tönen, sondern half auch, Carlson nach Budapest zu bringen. Sein Aufenthalt in Ungarn war Anlass für zwei lange Artikel im Magazin der New York Times und im New Yorker. »Wie die amerikanische Rechte sich in Ungarn verliebte«, lautete der Titel des Artikels in der New York Times.

Im Frühling kommenden Jahres soll die Conservative Political Action Conference (CPAC) in Budapest stattfinden. Die CPAC ist eine wichtige, jährlich stattfindende Veranstaltung der US-amerikanischen Konservativen; Trump hält dort seit Jahren regelmäßig Reden. In Budapest kooperiert die CPAC mit dem Think Tank Center for Fundamental Rights, der ebenfalls indirekt von der ungarischen Regierung finanziert wird.

Ungarn ist zur Projektionsfläche für US-Rechte geworden, die autoritäre Sehnsüchte hegen, denn Orbán hat vieles verwirklicht, wovon Republikaner sogar unter Trump nur träumen konnten. Er nutzte seine Regierungsmacht, um öffentliche Institutionen auf Regierungslinie zu bringen und eine reak­tionäre Gesellschaftspolitik voranzutreiben. Diese illiberale Politik erscheint einigen US-amerikanischen Rechten attraktiv. »Was ist die einzige Macht, die sich den woken Kapitalisten entgegenstellen kann sowie diesen illiberalen Linken in den Uni­versitäten, den Medien, dem Sport, den kulturellen Institutionen und so weiter? Der Staat«, schrieb Dreher auf seinem Blog, der auf der Website der Zeitschrift The American Conservative erscheint. Deshalb sollten US-ame­rikanische Konservative nach Ungarn schauen.

Dahinter steckt die Erkenntnis, dass die Konservativen in den USA zwar Wahlen gewinnen können, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen aber bereits seit Jahrzehnten gegen sie stehen. Die US-amerikanische Gesellschaft wird immer toleranter und säkularer, und in den seriösen Medien, der Kulturbranche und an den Hochschulen ist der Einfluss der Konservativen erheblich zurückgegangen. Manche Konservative in den USA meinen deshalb, der US-Rechten bleibe nur übrig, staatliche Macht zu nutzen, um gesellschaftspolitische Fragen in ihrem Sinne zu entscheiden.

Ein womöglich erster Testfall dieser Strategie war der Konflikt um die Critical Race Theory – eigentlich nicht eine kohärente Theorie, sondern ein Bündel von antirassistischen Theorieansätzen – von der Republikaner behaupten, sie werde an US-amerikanischen Schulen unterrichtet. Die republikanische Partei betrieb eine öffentliche Kampagne gegen die Critical Race Theory, was vorigen Monat vermutlich zum Sieg des republikanischen Kandidaten Glenn Youngkin bei der Gouverneurswahl in Virginia beitrug. Mehrere republikanisch regierte Bundesstaaten haben zudem Gesetze verabschiedet, die es verbieten, die Critical Race Theory an Schulen zu unterrichten. Kritiker argumentieren, dass Lehrkräfte sich deshalb womöglich nicht mehr trauten, die Rolle des Rassismus in der Geschichte der USA zu thematisieren.

In den vergangenen Jahren haben Intellektuelle und Ideologieproduzenten der US-amerikanischen Rechten die von Trump durchgesetzte Wandlung des US-Konservatismus nachvollzogen. Inzwischen scheinen manche eine »illiberale Demokratie« anzustreben, wie Orbán sie vertritt. Der an der Harvard University lehrende Jurist Adrian Vermeule und der an der University of Notre Dame tätige Politikwissenschaftler Patrick Deneen vertreten mit unterschiedlichen Akzenten einen sogenannten postliberalen Konservatismus. In ihrem gemeinsamen Newsletter »Postliberal Order« schrieb Deneen kürzlich, in den USA herrsche bereits ein »liberaler Totalitarismus«. Der bisherige US-Konservatismus – grob gesagt: die Republikaner vor Trump – hätte dies zugelassen. Diese »Establishment-Konservativen« seien nur ein »nützlicher Kontrast – ›kontrollierte Opposition‹ – für die echten Mächte hinter der Macht – der Oligarchen, der Konzerne, der Machtelite«, weil sie sich für liberale Werte wie religiöse und akademische Freiheit, Meinungsfreiheit und die freie Marktwirtschaft einsetzten. Diese Fesseln müsse man endlich abwerfen, nur so könne man den »liberalen Totalitarismus« besiegen.

Einem explizit illiberalen Konservatismus wird auch bei der seit 2019 jährlich stattfindenden National Conservatism Conference das Wort geredet. Sie versucht, dem Trumpismus eine intellektuell respektable Form zu geben und ihn vom traditionellen US-Konservatismus abzugrenzen. Voriges Jahr fand die Konferenz in Rom statt, mit Orbán sowie dem Vorsitzenden der rechtsextremen italienischen Partei Lega und ehemaligen italienischen ­Innenminister Matteo Salvini als Gästen. An der jüngsten National Conser­vatism Conference, die vor knapp zwei Monaten in Orlando, Florida, stattfand, nahmen drei prominente republikanische Senatoren als Redner teil, die wohl alle anstreben, einmal US-Präsident zu werden: Ted Cruz, Marco ­Rubio und Josh Hawley. Auch das zeigt, wie fest etabliert die illiberale Strömung inzwischen bei den Republikanern ist.

Die Senatoren zeichneten auf der Konferenz ein düsteres Bild der USA: Alle Institutionen seien von der radi­kalen Linken unterwandert, sagte Cruz. Sogar big business und die Unternehmen, die zu den Fortune 500 gezählt werden, den 500 umsatzstärksten Firmen der Welt, seien zu »ökonomischen Vollstreckern der harten Linken« geworden. Die Linke »hasst Amerika«, sie nutze »Kultur als ein Werkzeug, um Amerika zu zerstören«. Rubio sieht dar­in den »systematischen Versuch, un­sere Gesellschaft, unsere Traditionen, unsere Wirtschaft und unsere Lebensweise auseinanderzunehmen«. Hawley zufolge habe die US-Linke »die große Absicht, die Vereinigten Staaten von Amerika zu dekonstruieren«. Wer seinen politischen Gegner als dermaßen ruchlos, totalitär und allmächtig beschreibt, dem, so muss man wohl befürchten, gelten im Kampf gegen ihn fast alle Mittel als legitim.