A Summary of 2021: ein Jahr ohne Konzerte, Clubbing und Partys

Nur geträumt? Leider nicht!

Selbst der Weltretter James Bond hat das vergangene Jahr nicht überlebt. Dafür sind Abba auferstanden. Und Nena ist als Impfgegnerin in der Timeline aufgetaucht. Ein Rückblick auf 2021.

Die krassesten Bilder des Jahres kamen 2021 weder aus Hollywood noch aus Babelsberg. Es waren die Aufnahmen vom Sturm aufs US-Kapitol am Tag der Heiligen Drei Könige. Vor allem der Qanon-Jünger Jake Angeli in seinem surreal-karnevalistischen Aufzug, irgendwo zwischen Mad Max und Jamiroquai, ließ dem Publikum weltweit den Atem stocken: Geschieht das gerade wirklich?! Ist dies das Ende der Welt?! Das Ende Amerikas?!

»There once was a ship that put to sea / The name of the ship was the Billy of Tea«, lauten die ersten Zeilen des aus Neuseeland stammenden Walfängerlieds »Soon May the Wellerman Come«, das in der Version des britischen Sängers Nathan Evans etwa zur selben Zeit auf Tiktok einen unfasslichen Hype auslöste und im Januar die europäischen Radiocharts dominierte. Statt packender Live-Events gab’s also wenigstens ein unwirkliches Medienprogramm: Willkommen im Popjahr 2021, in dem James Bond nach zigfach verschobenen Kinostarts in dem Film »Keine Zeit zu sterben« antrat, um genau dies zu tun. Hasta la vista, Daniel Craig!

Wem Danger Dan nicht gefiel, der hing stattdessen womöglich in Michael Wendlers Telegram-Gruppe ab. Der Schlagerstar folgte anderen Chef­schwurblern wie Xavier Naidoo auf ihrem Weg in den kompletten Irrsinn.

Hi Corona, this is Nano

Ein raffiniertes Nanorobotervirus aus russischer Produktion zwingt den infizierten James Bond dazu, sich von Frau und Tochter fernzuhalten, weil der Kontakt mit dem Erreger für die beiden tödlich wäre. Och nee, schon wieder so ein doofes Virus mit nervtötendem Maßnahmenkatalog! Auch der 80jährige (Schwieger-)Vater, mit dem die Autoren dieser Zeilen im Herbst endlich mal wieder ins Kino gehen durften, meinte, die Bond-Filme seien früher viel lustiger gewesen, worauf die Tochter der Verfasser nur die Augen verdrehte und entgegnete, dass die Streifen damals nicht witziger, sondern einfach nur mega­sexistisch gewesen seien.

Die überzeugendste Action-Heldin des Jahres war sowieso eine Frau: Natasha Romanoff alias »Black Widow«. Der Mavel-Film startete im Sommer nach etlichen Anläufen im Kino sowie bei jenem kostenpflichtigen Streaming-Portal, das in diesem Jahr Filmklassiker wie »Das Dschungelbuch« wegen rassistischer Stereotype hinter eine Kindersicherung verbannte. The times they are a-changing.

Viele Teenager fühlten sich in den Blockbuster-tauglichen Gefühls­welten von Olivia Rodrigo, Billy Eilish oder Lana Del Ray (mit gleich zwei Alben) gut aufgehoben. Dabei mussten die Teens auf Discord oder Twitch auch noch die komplette Gamer-Welt im Auge behalten.

Die von Scarlett Johansson dargestellte Natasha, bislang nur sexy Sidekick im Marvel-Universum, erhielt endlich ihre eigene Geschichte. Als Mitglied einer herrlich dysfunktionalen Schläfer-Familie legte sie gemeinsam mit ihrer vermeintlichen Schwester Yelena (großartig: Florence Pugh) ihrem Peiniger das Handwerk. Die »Schwarzen Witwen« wurden wie eh und je von den Russen unfreiwillig zu Kampfmaschinen herangezüchtet. Klar, von wem sonst?!

Davon abgesehen überzeugte Regisseurin Cate Shortland mit einem mehr als blendend aufgelegten Cast, bondwürdigen Action-Szenen und staubtrockenem Humor. Merksatz: »The best part of my life was fake and none of you told me.«

Hello again

Ähnlich erging es womöglich der britischen Soulsängerin Adele. Zwischen ihrem vorigen Album »25« und dem neuen Album »30« hat sie eine Scheidung durchlebt und lässt uns alle daran teilhaben.

Den Auszug aus dem gemeinsamen Haus hat im Video zur ersten Single-Auskoppelung mit dem Titel »Hello« Xavier Dolan gefühlvoll inszeniert. Über 500 000 Schallplatten hat Sony Music allein für die Startauflage von Adeles viertem Studioalbum gepresst. Das sorgte für weiteren Produktionsstau in den hoffnungslos überlasten Presswerken. Der Absatz von Vinyl hat sich während der Pandemie weltweit tatsächlich mehr als verdoppelt! Der mittlerweile im Homeoffice sein Dasein fristende Mensch hat anscheinend verstärkt Lust auf analoge Kontemplation. Da passt es, dass Adele bei Spotify bewirkt hat, den Zufallsabspielmodus als Standardeinstellung bei Alben zu eliminieren.

Die Werke werden also wieder automatisch in der von den Künstlerinnen und Künstlern festgelegten Reihenfolge abgespielt. Das hilft gegen das ungute Gefühl, schon wieder weiterskippen zu müssen. Schließlich erscheinen täglich 60 000 neue Tracks! Das macht locker 22 Millionen Songs im Jahr. Gerade mal zehn davon gehören zum neuen Album »Voyage« von Abba, die 2021 das Pop-Comeback des Jahrtausends für sich beanspruchten. Live soll es, falls die Pandemie es irgendwann wieder zulässt, zu Hologramm-Auftritten kommen – eine interessante Verknüpfung von Retromanie und Zukunftsvision.

Das könnte man auch über die phantastische Serie »Wanda Vision« sagen: Realitätsmanipulationsmeisterin Wanda und ihre große Liebe, der ultraschlaue Android Vision, nahmen uns mit auf einen atemberaubenden und zuweilen irre komischen Ritt durch die US-amerikanischen Sitcoms der vergangenen Jahrzehnte. Eingespielte Lacher inklusive.

Konzerte mit Maske

In Popdeutschland durfte man sich über das Album eines Künstlers aus Fleisch und Blut freuen: »Alles von der Kunstfreiheit gedeckt« von Danger Dan. Vor allem das juristisch-abgeklärte Titelstück, in dem der Bruce Hornsby des Deutschrap seine Gewaltphantasien in Richtung Kubitschek, Gauland und Co. artikuliert, war zumindest einen Moment lang ein medialer Triumph über Neonazideutschland. Noch nie waren sich Slime und Randy Newman so nahe.

Wem Danger Dan nicht gefiel, der hing stattdessen womöglich in Michael Wendlers Telegram-Gruppe ab. Der Schlagerstar folgte anderen Chefschwurblern wie Xavier Naidoo auf ihrem Weg in den kompletten Irrsinn.

»Pure Vernunft muss diesmal siegen« – das selbstironische Posting der Gruppe Tocotronic im Zuge einer Impfkampagne – erreichte über die eigene Bubble hinaus wohl leider kaum jemanden.

Bereits 2020 ließ die Hamburger Power-MC-Lady Shirin David einen gemeinsamen Track mit Xavier Naidoo ob seiner Coronaleugnung aus dem Internet löschen. Hat auch nichts genützt. Im November dieses Jahres veröffentlichte sie mit »Bitches brauchen Rap« ein Album gegen Machos und Peniswahn im deutschen Rap-Mainstream. Apropos Rap-Game: Kanye West brach mit seinem neuen Album »Donda« mal wieder alle Streaming-Rekorde.

Überhaupt gab es neue Rekorde aus Virtualien zu vermelden: unser schönes neues Leben zwischen Inzidenzwerten, Klickzahlen und Kontoständen.

Und zwischendrin taucht ausgerechnet Nena in der eigenen Timeline auf. Sie hatte bei ersten möglichen Konzerten unter 3G- und AHA-Bedingungen ihr Publikum dazu aufgerufen, sich tunlichst nicht an die Vorgaben zu halten, und fiel später in den sozialen Medien äußerst unangenehm auf. Nur geträumt?! Leider nicht.

Helge Schneider, der zu Beginn der Pandemie verkündet hatte, unter solchen Bedingungen nicht aufzutreten, tat es im Juli dann doch, brach sein Konzert in Augsburg jedoch wieder ab. Die geplante Tour danach fiel auch aus: »Helge Schneider sagt Strandkorbkonzert ab«, so lautete eine beliebte Sommer-Schlagzeile 2021.

Die wenigen kleinen Konzerte, die von Sommer bis Herbst unter 3G-Bedingungen stattfinden durften, waren oft so aufregend wie ein Besuch des ZDF-Fernsehgartens. Das Clubpublikum saß mit Maske und viel Abstand im Discolicht, während die PA-Lautsprecher nur auf halber Lautstärke dröhnten. Zwischendrin zog man kurz den Schnutenpulli runter, um mit schlechtem Gewissen von seinem Bierchen zu nippen. Ohne staatliche Subventionen hätte keines dieser Konzerte überhaupt jemals stattfinden können, aber die Bazooka des Finanzministers hatte Power! So wurden 2021 nicht nur unzählige Album-Produktionen, sondern auch viele Live-Konzerte unter der Flagge »Neustart Kultur« gefördert. Zu den erhofften Neustarts kam es aber leider nie. Immerhin sorgte das Erreichen des Bonus-Levels »2G+« für ein paar Wochen für Hoffnung.

Veranstaltungen mussten trotzdem weiter abgesagt oder verschoben werden – kein Wunder bei komplett unterschiedlichen Regeln in nahezu jedem Bundesland. Das brachte alle Booking-Agentinnen und Konzertveranstalter an den Rand des Wahnsinns. Dagegen galt in diesem Land bis Ende November an den vielen anderen Arbeitsplätzen nicht mal die 3G-Regel, und die Menschen aus weiter florierenden Branchen im Freundes- und Bekanntenkreis verabschiedeten sich im Sommer im bumsvollen Flieger in den wohlverdienten Erholungsurlaub nach Griechenland oder Kroatien. An dieser Stelle auch nochmal ein großes Dankeschön für eure tollen Bilder auf Instagram und Co.!

Bingewatching und Arthouse-Glotzing

Einige Menschen entkamen der Pandemierepublik Deutschland in diesem Jahr jedoch nur noch auf Laptop oder Leinwand. Chloé Zhaos hochgelobter und mit Preisen überhäufter Roadmovie »Nomadland« mit einer großartigen Frances McDormand in der Hauptrolle und phantastischen Landschaftspanoramen war dafür ein Paradebeispiel. Der hauptsächlich mit Laiendarstellern gedrehte Film über die Arbeitsnomaden, die seit der großen Rezession 2007 in den USA zwischen Amazon-Lager und Burgerbratbuden durch das Land pendeln, wirkte zwar auf den ersten Blick beinahe dokumentarisch, letztlich wurde das Leben der Wanderarbeiter jedoch zu sehr romantisiert.

Weitaus realistischer als »Nomadland« war die Netflix-Miniserie »Maid«, die auf dem gleichnamigen autobiographischen Roman von Stephanie Land beruht: Eine junge Frau flieht mit ihrer Tochter aus einer toxischen Beziehung und strampelt sich fortan als unterbezahlte Putzfrau ab, um sich und ihr Kind vor einem Leben auf der Straße zu bewahren. Dennoch hat sie kaum eine Chance, dem Teufelskreis der Armut zu entkommen.

Stream des Geldes

Um die Perspektivlosigkeit ging es auch in der vielleicht erfolgreichsten Serie des Jahres: »Squid Game« von Hwang Dong-hyuk. Nach der Serie »Haus des Geldes«, deren endgültiges Finale soeben erschienen ist, warf Netflix somit eine weitere Produktion auf den Markt, die dem kollabierenden Kapitalismus den Spiegel vorhält – und macht damit unfassbar viel Kohle. Derweil diskutieren Schulpsychologen immer noch, ob Grundschulkinder Spiele aus der ultra­brutalen Serie, die eigentlich erst ab 16 freigegeben ist, auf ihrem Schulhof nachstellen dürfen. Jugendgefährdende Netflix-Serien?! Das hat gerade noch gefehlt.

Uneingeschränkt zu empfehlen ist Dennis Villeneuves düster-melancholische Neuverfilmung von »Dune«. Der Regisseur hat aus dem als unverfilmbar geltenden Romanstoff, an dem bereits David Lynch 1984 grandios gescheitert ist, ein überwältigenden Science-Fiction-Epos geformt: Das Publikum wird im ersten Teil einer geplanten Trilogie auf den trostlosen Wüstenplaneten katapultiert, wo Hans Zimmers bombastischer Soundtrack ihm gewohnt zuverlässig das Hirn wegbläst. Wir haben statt des Erlösers Paul Atreides jetzt immerhin Karl Lauterbach.

Pegel der Liebe

Manch einer floh in diesem Jahr gern in den privaten Rausch, genau wie ein paar Lehrer im gleichnamigen Film von Thomas Vinterberg.

Long-Isolation-Drinks genehmigte man sich im Pandemiejahr auch gern zu »Summer of Soul«. Questlove, der Drummer von The Roots, stellte den großartigen Musikfilm über das weitgehend unbekannte New Yorker Festival »Black Woodstock« von 1969 fertig. Unfassbar, dass man das Material der spektakulären Auftritte von Bands wie Sly & The Family Stone, dem blutjungen Stevie Wonder, Gospelkönigin Mahalia Jackson und vielen anderen über 50 Jahre nicht anfasste.

Des Weiteren konnte man sich im 2G-Home-Entertainment mit mittlerweile unzähligen Premium-Abos Musikfilme über die Sparks, Velvet Underground und sogar eine sechsstündige Beatles-Doku, kuratiert von Peter Jackson, ansehen und -hören.

Bei so viel Musik aus vergangenen Tagen und Marvel-Popcorn blieb kaum mehr Zeit für musikalische Neuentdeckungen aus Indiehausen. Dabei gab es unfassbar viel zu entdecken! Allein hierzulande: Sophia Kennedy begeisterte mit ihrem zweiten Album »Monsters«, ebenso das Dream-Pop-Kollektiv »Die neue Leichtigkeit« mit diversen Singles und EPs. Albertine Sarges legte ein kunstvolles Debütalbum vor. Im ­angelsächsischen Raum gab es ein Postpunk-Update von Dry Cleaning, The Weather Station brachten ihr Album »Ignorance« heraus. Und das Popduo Dumbo Gets Mad hatte mit »Things Are Random and Time Is Speeding Up« nicht nur den genialsten Albumtitel des Jahres parat. Auch nicht schlecht gewählt war der Titel »Sprechfunk mit Toten« für die Cosmic-Disco-Kraut-EP von Hildegard Von Binge Drinking.

Viele Teenager fühlten sich in den Blockbuster-tauglichen Gefühlswelten von Olivia Rodrigo, Billy Eilish oder Lana Del Ray (mit gleich zwei Alben) gut aufgehoben. Dabei mussten die Teens auf Discord oder Twitch auch noch die komplette Gamer-Welt im Auge behalten. Im real HipHop brauchte es 2021 eigentlich nur das kunstvoll verschachtelte neue Album von Little Simz, um irgendwie mitzureden zu können: »Sometimes I Might Be Introvert«.

Das aufregendste Stück Popmusik stammte hingegen von Sarah Brand, einer Soziologin mit Hang zum absurden Popexperiment. Ihr Song »Red Dress« ist dermaßen kunstvoll daneben gesungen, dass sie das Lebensgefühl 2021 wunderbar auf den Punkt gebracht hat – die schleichende Missstimmung und den Realitätsverlust an allen Fronten.

Mutationen

Eine deprimierende Parabel auf unsere Zeit war auch die Kriminalkomödie »I Care a Lot«, für die die Hauptdarstellerin Rosamund Pike Anfang des Jahres zu Recht einen Golden Globe gewann. Die von ihr verkörperte Blondine im Stil Alfred Hitchcocks ergaunert sich die Vormundschaft für betuchte Senioren, um sie nach Strich und Faden auszunehmen.

Doch es geht auch anders. Das zeigt die Indie-Regisseurin Kelly Reichardt in einem der besten Filme des Jahres: »First Cow«. In dem Antiwestern freunden sich zwei ungleiche Männer an und setzen der brutalen Realität dieser Ära Freundlichkeit und solidarisches Verhalten entgegen. Ein nachdenklich stimmendes Drama zur Zeit.

Vom neuen Hype um Non-Fungible-Tokens (NFT) wollte Quentin Tarantino profitieren und unveröffentlichte Szenen aus »Pulp Fiction« als digitale Sammelobjekte verscherbeln. Aber seine Filmproduktionsfirma leitete rechtliche Schritte dagegen ein. Andere hatten mehr Glück und konnten Musikvideos und GIFs als Originaldateien verkaufen. Der Kapitalismus mutiert also nicht weniger schnell als das Coronavirus.

Ein paar Dateien hätte man durchaus auch aus dem etwas zu lang ­geratenen Film »Drive My Car« von Ryūsuke Hamaguchi herausschneiden können. Das Drama basiert auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami: Ein trauernder Theaterregisseur und seine traumatisierte Chauffeurin stellen sich in einem knallroten Saab den Schatten ihrer Vergangenheit. Im dahingleitenden Beichtstuhl hören sie sich Aufnahmen der verstorbenen Frau des Regisseurs an, die für ihren Mann Anton Tschechows berühmtes Drama »Onkel Wanja« auf Band gesprochen hat. Der Schlüsselsatz im vierten Akt lautet: »Man muss etwas tun!«

Wohl wahr. Insgeheim hatte man ja gehofft, dass sich demnächst irgendein Marvel-Held um all die irdischen Probleme kümmern würde. Schade. Zum Trost kann man immer noch »Barn«, das neue (!) Album von Neil Young and Crazy Horse, anhören und frisch geboostert in den Schlusschor einstimmen: »Don’t Forget Love!«