Ein Besuch in der spanischen Exklave Melilla

Abgeschottet in Nordafrika

Reportage Von Jan Marot

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie sind die spanischen Exklaven in Nordafrika, Melilla und Ceuta, vom Nachbarland Marokko für den Personen- und Frachtverkehr abgeschottet. Sie sind zudem Bollwerke gegen Asylsuchende und Migranten, die die EU erreichen wollen. Ein Besuch in Melilla.

Nur langsam lichtet sich der typische Nebel, der in den Wintermonaten allmorgendlich die mediterrane Stadt Melilla unter dem markant geformten Gipfel des Monte Gurugú dicht einhüllt. An dem Berg auf marokkanischem Territorium befanden bis vor wenigen Jahren noch behelfsmäßig zusammengeflickte Unterkünfte von Flüchtlingen und Migranten, die auf ihre Chance zum Sprung über die bis zu zehn Meter hohen Grenzwallanlagen der spanischen Exklave warteten. In Melilla, einem stark befestigten Außenposten Europas, fühlt man sich angesichts der hohen Zäune und der stets großen Militär- und Polizeipräsenz immer ein ­wenig, als stünde die Stadt unter Quarantäne.

In ganz Spanien hat die Covid-19-Pandemie zu einer Fülle von Schließungen geführt, in erster Linie in der Gastronomie, aber auch im Einzelhandel. Im Zentrum Melillas prägen Schilder, die den Verkauf oder die Übernahme der Ladenlokale ankündigen, ganze Straßenzüge. Die Innenstadt kennzeichnen Prachtbauten im Stil des katalanischen Jugendstils, des modernisme català, die eine dicke, aber charmante Patina ­bedeckt.

»Ohne unsere Präsenz hier, die von Migrations- und Menschen­­rechtlerinnen und -rechtlern, würden Verletzungen der Grund- und Men­­schen­rechte nicht dokumentiert werden.« Alba Díez, Flüchtlings­helferin

»Die Stadt verfällt, man spürt und sieht die Tristesse so gut wie überall«, sagt die Flüchtlingshelferin Alba Díez, die für Solidary Wheels und zuvor für No Name Kitchen über drei Jahre in Griechenland und auf dem Balkan tätig war. Seit dem Beginn der Pandemie im März 2020 arbeitet die 28jährige in Melilla, sie stammt jedoch aus der nordspanischen Region La Rioja. Sie sitzt in einem beliebten Kaffee- und Teehaus unweit der Stierkampfarena Melillas.

Díez ist in erster Linie mit der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Migranten betraut, in letzter Zeit mehrheitlich minderjährige, männliche Marokkaner. Sie unterstützt unter anderem Menschen, die im Auffanglager Centro de Estancia Temporal para Inmigrantes (CETI) untergebracht sind, und in einem alten, baufälligen Fort aus dem 19. Jahrhundert, dem Fuerte de la Purísima Concepción, internierte Minderjährige. Sobald sie volljährig sind, steht ihnen das Bleiberecht gesetzlich zu.

Drei junge Migranten, Wassin, Moustafa und Ismael, alle 17 Jahre alt, sind gerade auf dem Weg vom Supermarkt im arabisch geprägten, marginalisierten Viertel Barrio El Real zurück ins Auffanglager im Fort. Fast fünf Kilometer müssen sie in der selbst im ­Winter schweißtreibenden Sonne bergan gehen, an kargen Olivenhainen ­vorbei bis zum Stadtrand. Wassin ist seit über zwei Jahren in Melilla und hat ­etwas Spanisch gelernt, sonst spricht er marokkanisches Arabisch. Er macht eine Ausbildung zum Mechaniker, träumt von Arbeit im europäischen Teil Spaniens und von einem Auto. »In drei Monaten habe ich endlich Geburtstag«, sagt er voller Vorfreude, auch wenn sein verstauchter Knöchel ihm gerade Schmerzen bereitet und er sich auf Krücken voranschleppt. »Ist beim Klettern auf eine Pinie passiert«, erzählt er. Alle drei kommen aus dem grenznahen Umland von Melilla. Auf die Frage, wie Wassin nach Melilla gelangt sei, sagt er: »Ganz normal.« Über den Wall sei er jedenfalls nicht gesprungen, sonst hätte er tiefe Narben an den Händen – vom Nato-Draht.

»Risky« (riskant) werde der Sprung über den Grenzwall genannt, erzählt Díez. Auch über unterirdische Tunnel, Rohre und Kanäle wie diejenigen, die Starkregen ins Mittelmeer leiten, kämen einige Menschen. »Fünf junge Marokkaner kamen im Vorjahr bei so einem Versuch ums Leben, wir haben mit einem der Überlebenden gesprochen. Es muss die Hölle gewesen sein«, berichtet Díez.

Die Geflüchtetenunterkunft für Erwachsene (CETI)

Interniert in der Exklave. Die Geflüchtetenunterkunft für Erwachsene (CETI)

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Jan Marot

Umkämpftes Fleckchen
1497 eroberten spanische Truppen die Exklave, die mittlerweile knapp 87 000 Einwohner zählt. Spanien verteidigte das Fleckchen Erde auch in mehreren Kriegen im 19. und 20. Jahrhundert, den spanisch-marokkanischen Kriegen beziehungsweise Rif-Kriegen. Von der blutigen Vergangenheit zeugen Hunderte Gräber von Gefallenen auf dem Gemeindefriedhof in Melilla, dem »Pantheon der Helden und Märtyrer«, mit Massengräbern und Gräbern von Namenlosen, die bis in die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs (1936 bis 1939) reichen.

Der spanische Diktator Francisco Franco war in Melilla mit der Fremdenlegion stationiert. Und die marokkanischen Truppen des spanischen Protektorats, damals 80 000 Mann, waren für die Putschisten unter Franco essentiell, um in den ersten Kriegsmonaten 1936 auf der Iberischen Halbinsel erhebliche Gebietsgewinne zu erzielen – mit Kriegsverbrechen und Massenhinrichtungen in Andalusien und der ­Extremadura. Die Franco-Statue, die Ankommende am Fährterminal in Melilla begrüßte, wurde erst Ende Februar 2021 als eine der letzten derartigen Statuen in Spanien entfernt, dank des »Gesetzes zur historischen Erinnerung«. Am einstigen Wohnhaus des Diktators ehrt diesen aber nach wie vor eine Plakette für seine »glorreichen Leistungen zur Rettung Melillas«.

Das Wort patria (Vaterland, Heimat) schmückt in Melilla nicht nur Denkmäler für die Gefallenen und die Helden der Kriege. Auch Cafés, Tapas-Bars und Bäckereien nennen sich kurzerhand »Patria«. Von diesem überwiegend eher harmlosen »Patriotismus« konnte die rechts­extreme spanische Partei Vox hier bisher nur sehr bedingt profitieren. Sie hält zwei Sitze im Regionalparlament, steigt jedoch Umfragen zufolge in der Wählergunst. An den Auftritten des Parteivorsitzenden von Vox, Santiago Abascal, liegt das nicht unbedingt. Er hatte in Trump’scher Manier statt des Walls um Melilla hohe Betonmauern ge­fordert.

Zwar hält sich ein harter Kern alt­faschistischer Familien, die seit Generationen in Melilla leben, viel mehr hat zum langsamen Erstarken von Vox aber die Diskreditierung des rechtskonservativen Partido Popular (PP) unter der Ägide des ehemaligen Präsidenten von Melilla, Juan José Imbroda (2000 bis 2019), wegen Korruptionsvorwürfen beigetragen. Díez meint, auch die migrantenfeindliche Berichterstattung lokal einflussreicher Medien wie der Lokalzeitung El Faro spiele eine Rolle: »Auf der Titelseite wird dort lieber berichtet, dass ein paar im Lager internierte Jugendliche sich betrunken hätten und wegen Vandalismus festgenommen worden seien. Aber dass Migranten im Polizeiquartier verprügelt wurden oder Dokumente unterschreiben mussten, ohne dass man ihnen ­einen Übersetzer oder Anwalt zur Seite stellte, wird nicht zum Tagesthema der Stadt«, moniert sie. »Ohne unsere Präsenz hier, die von Migrations- und Menschenrechtlerinnen und -rechtlern, würden Verletzungen der Grund- und Menschenrechte nicht dokumentiert werden, als ob hier nichts geschehen würde.«

Derzeit regiert in der Stadt, die zugleich eine spanische Autonomieregion ist, eine Koalition aus dem sozialdemokratischen PSOE und dem linken Bündnis Coalición por Melilla (CpM). Bei Neuwahlen könnten aktuellen Umfragen zufolge jedoch PP und Vox eine knappe Mehrheit erlangen.

Der Grenzzaun um Melilla

Kaum zu überwinden: der Grenzzaun um Melilla

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Jan Marot

Weder rein noch raus
Schutzsuchende und all jene aus den Nachbarstaaten, die die Chance auf ein besseres Leben suchen, hält die Stadt mit einem dreifachen, sieben bis zehn Meter hohen Grenzwall fern, der bis Sommer des Vorjahrs noch überall mit sogenanntem Nato-Draht versehenen war, der mit rasiermesserscharfen Klingen gespickt ist. Mittlerweile hat man erneut Nato-Draht angebracht, jedoch »nur« an der Küste und beim Hafen, denn neben dem gewagten Überwinden des Grenzwalls, dessen Folge häufig schwere Verletzungen und selbst Querschnittslähmungen waren, versuchen immer mehr Menschen nun auch schwimmend, mit Schwimmhilfen oder ohne, über die Grenze zu kommen oder an eine der Fähren geklammert auf das europäische Festland überzu­setzen. Alljährlich kommt es dabei zu Todesfällen. Nach Europa überzusetzen, ist den in Melilla sowie in Ceuta in Auffanglagern Internierten ohne Aufenthaltsbewilligung und Papiere ­verboten.

Wegen der Pandemie ist es derzeit allerdings auch für spanische Bürgerinnen und Bürger äußerst schwierig, die Exklave in Richtung Marokko zu verlassen. »Es drückt auf das Gemüt, nicht nach Marokko fahren zu können, zum Wandern oder an die Strände und in die Medinas der Städte«, sagt Díez. Im März 2020 hat das Königreich Marokko die Landgrenzen für den Personen- und Frachtverkehr geschlossen. Voraussichtlich das ganze erste Halbjahr 2022 soll dieser Status, der beiden Seiten wirtschaftlich, aber auch ­sozial mehr Schaden als Nutzen bringt, beibehalten bleiben. Was anfangs der Eindämmung der Pandemie diente, ist längst zum politischen Druckmittel ­geworden, insbesondere im seit November 2020 neuerlich aufgeflammten Konflikt um die von Marokko beanspruchte Westsahara. Der spanische ­EU-Abgeordnete Jordi Cañas von der Partei Ciudadanos bezeichnete im Juni Marokkos Strategie als Versuch, Me­lilla und Ceuta »wirtschaftlich zu erwürgen«.

»Der Umsatz ist stark rückläufig gewesen wegen der Lockdowns, der Reisebeschränkungen auf das Festland und dem Ausbleiben der Touristen.«  Mohammed, Barbesitzer in Melilla

Melilla wird seither via Spanien primär per Schiff, aber auch per Flugzeug versorgt. Nahrungsmittel, die aus ­Marokko stammen, werden erst nach Málaga oder Motril und dann retour über das Meer nach Melilla gebracht. Das schlägt sich in den Preisen von ­Lebensmitteln und anderen Gütern nieder, hinzu kommt die spanienweit hohe Inflation. Mahmoud, Mitte 40, der einen Kebabimbiss unterhält, echauffiert sich an der Supermarktkasse lautstark über den hohen Preis für Sonnenblumenöl zum Frittieren. Lapidar ent­gegnet die Kassiererin: »Es ist, wie es ist.«

Viele der marokkanischen und marokkanischstämmigen Bewohnerinnen und Bewohner Melillas konnten seit knapp zwei Jahren Verwandte und Freunde in Marokko nicht besuchen, selbst wenn diese in der Nachbarstadt leben. In erster Linie aus Kostengründen, denn dafür wären ein Flug via Madrid oder eine Fährfahrt via Málaga ­sowie ein aktueller PCR-Test nötig. »Das kann ich mir nicht leisten, und noch weniger für meine Familie und Kinder«, sagt Mohammed, der eine Bar im Stadtzentrum betreibt, in einem kurzen Gespräch, als er Minztee serviert. »Noch dazu ist der Umsatz stark rückläufig gewesen, wegen der Lockdowns, der Reisebeschränkungen auf das Festland und dem Ausbleiben der Touristen.« Er ist wie fast die Hälfte der Bevölkerung Melillas Muslim, neben Spanisch und Arabisch spricht er wie viele der »Melillenses« die Berbersprache Tamazight fließend. Doch bis heute sind weder Arabisch noch Tamazight in ­Melilla Amtssprachen.

Immer wieder kam es zu Protesten derjenigen, die wegen der überraschenden Grenzschließung am 14. März 2020 ihre Familien nicht besuchen konnten, sowohl in Melilla als auch auf der anderen Seite der Grenze, etwa in den Städten Nador und Beni Enzar. Und auch diejenigen, die wegen der Grenzschließung festsaßen, begehrten auf.

Wassin, Moustafa und Ismael gehen zurück ins Fort

Beschwerlicher Weg. Wassin, Moustafa und Ismael gehen zurück ins Fort

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Jan Marot

Schmuggel und Tourismus
Wie es weitergehen wird in Melilla, Ceuta, aber auch den grenznahen marokkanischen Städten, die wirtschaftlich von den spanischen Exklaven abhängig sind, ist offen. Viele Menschen, meist Frauen jeden Alters, lebten vom geduldeten Schmuggel von Waren aller Art, die sie in langen Menschenschlangen über die Grenze trugen. In der spanischen Regierung feilen derzeit nicht weniger als sieben Ministerien an der Zukunft von Ceuta und Melilla. ­Dafür soll, wie die spanische Zeitung El País Mitte Dezember berichtete, ein Consulting-Unternehmen noch dieses Jahr einen Strategieplan ausarbeiten, der allein 600 000 Euro kosten soll. Die Stadt Melilla hatte zuvor bereits 172 000 Euro für die Ausarbeitung eines Strategieplans ausgegeben.

Ziel ist, dass die Nordafrika-Exklaven wirtschaftlich wie Inseln agieren und sich auf Europa konzentrieren – und nicht auf Marokko. Zudem steht zur Debatte, dass die beiden Städte Teil des Schengen-Raums werden. Noch sind Pass- oder Personalausweiskontrollen für Bürger der 27-EU-Staaten Pflicht. Fielen diese, würde es die touris­tische Attraktivität dieser Orte zumindest ein wenig erhöhen. Die marokkanische Regierung indes will der ­Bevölkerung der wirtschaftlich schwachen Rif-Region und -Küste, die bereits vor der Pandemie immer wieder gegen die politische und wirtschaft­liche Misere aufbegehrt hat, mit Tourismusprojekten und Investitionen in ­Infrastruktur eine berufliche Zukunft bieten – beispielsweise in Castillejos (Fnideq) bei Ceuta sowie um Nador und Beni Enzar bei Melilla.

»Die Entscheidung, die Landgrenzen wieder zu öffnen, obliegt Marokko«, sagt der spanische Maghreb-Experte und langjährige Pressekorrespondent Ignacio Cembrero, der derzeit für die Online-Zeitung El Confidencial tätig ist. Doch die Regierung habe »überhaupt keine Eile, diesen Schritt zu vollziehen. Wenn die Grenzen geöffnet werden, wird der illegale, aber geduldete Grenzhandel auch nicht mehr das sein, was er war. Es wird emsig an Alternativen gearbeitet.« Wirtschaftlich wären, so Cembrero, die Folgen der Blockade für Melilla und Ceuta noch nicht so gravierend. Das liege daran, dass der spanische Staat ausgleicht, was an Einnahmen aus der Steuer auf Produktion, Dienstleistungen und Importe (IPSI) fehlt. Bei dieser handelt sich um eine indirekte und lokale Steuer, die nur in Ceuta und Melilla erhoben wird und zwischen 0,5 und zehn Prozent beträgt. »Nur deswegen ist eine ökonomische Katastrophe für Melilla und Ceuta nicht eingetreten«, so Cembrero. Sonst wäre die ­Situation eine ganz andere. Er illustriert das mit einem Vergleich: »Melilla hat dasselbe Budget wie das andalusische Granada mit 230 000 Einwohnern.«

Wie El País berichtete, umfasste der tolerierte Grenzschmuggel vor der Pandemie einer Schätzung der Autonomieregierung von Ceuta von vor über einem Jahrzehnt zufolge – der einzigen Schätzung bisher – pro Jahr einen Wert von über 700 Millionen Euro für Melilla und weitere 450 bis 500 Millionen Euro für Ceuta. Nicht eingerechnet die Tonnen an Haschisch aus dem Rif-­Gebirge, wie Cembrero anmerkt. »Nach Madrid sind laut der spanischen Nationalbank die Kontostände in Melilla und Ceuta die zweit- und dritthöchsten Spaniens, und das kommt vom illegalen Handel mit Haschisch«, sagt er.