Ein Gespräch mit Simon Schaupp über digital gesteuerte Arbeitsprozesse und deren Folgen

»Manuelle Arbeit bleibt und verdichtet sich«

Interview Von Julia Hoffmann

Im Rhythmus des Algorithmus. Der Soziologe Simon Schaupp spricht über die digitale Steuerung von Arbeitsprozessen

Sie bezeichnen die von Ihnen untersuchten Prozesse als »kybernetische Proletarisierung«. Was bedeutet das?

Momentan versuchen viele Studien zu berechnen, wie viele Arbeitsplätze durch Automatisierung in Zukunft wegfallen werden. Dem liegen technikdeterministische Annahmen zugrunde, empirisch bestätigt sich das allerdings nicht. Es kommt nämlich gar nicht zu diesen Automatisierungsschüben, auch wenn es technisch möglich wäre. Das liegt an sinkenden Investitionsquoten insbesondere in derart teuren Technologien wie Robotik. Weil aber die Produktion dennoch rationalisiert werden muss, geschieht das durch algorithmische Arbeitssteuerung, weil die flexibler einsetzbar und billiger ist. Das setzt einen Prozess in Gange, der Arbeit abwertet und prekarisiert, anstatt sie komplett zu verdrängen. Es kommt vielmehr zu einer Reinteg­ration von menschlicher Arbeitskraft und nicht zu einer technologisch induzierten Arbeitslosigkeit.

»Die Vorstellung, dass Maschinen uns die Arbeit abnehmen, verwirklicht sich nicht. Im Gegenteil wird niedrig qualifizierte Arbeit ausgeweitet.«

Nicht alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen, sind Proletarierinnen und Proletarier. Entstehen nicht gerade durch die Digitalisierung auch Beschäftigungsformen, die nicht abgewertet werden?

Man kann sich die algorithmische ­Arbeitssteuerung vorstellen wie eine Trennwand. Auf der einen Seite der Wand wird die Arbeit aufgewertet, weil es anspruchsvolle Ingenieurs- und Managementtätigkeiten sind, auf der anderen Seite wird sie abgewertet. Das ist also eine Polarisierung. Die Proletarisierung beziehe ich auf die manuelle Arbeit, die abgewertet wird. Dabei geht es neben der materiellen auch um eine subjektive Abwertung. Das zeigt sich in allen Fällen, die ich untersucht habe, auch in einer proletarischen Subkultur in den Unternehmen, die sich in Abgrenzung zum Management definiert.

Welche Rolle spielen migrantische Menschen in dieser untersuchten Gruppe?

Eine ganz zentrale. Das explizite Ziel vieler Managerinnen und Manager, die ich interviewt habe, ist, durch die Arbeitsleitsysteme verstärkt billige mi­grantische Arbeitskraft in die Betriebsabläufe zu integrieren. Da werden dann sprachlich konfigurierbare oder rein bildbasierte Arbeitsleitsysteme eingesetzt. Dadurch können die Unternehmen den Pool potentiell verfügbarer Arbeitskraft deutlich erweitern und so die Lohnkosten weiter drücken. Bei vielen Plattformunternehmen sind in­folgedessen Migrantinnen und Migranten in der Mehrheit. Das hat auch wichtige Implikationen für die Selbstorganisierung der Beschäftigten.

Digitalisierung und Automatisierung bedeuten für die Arbeitswelt nicht dasselbe. Was macht den »kybernetischen Arbeiter« denn aus?

Die manuelle Arbeit bleibt und verdichtet sich. Die Vorstellung, dass Maschinen uns die Arbeit abnehmen, verwirklicht sich nicht. Im Gegenteil wird niedrig qualifizierte Arbeit ausgeweitet. Der »kybernetische Arbeiter« hat es mit einer neuen Art von Rationalisierung zu tun, die auf einem Selbstoptimierungsimperativ basiert.

Dabei gab es ja diese Utopie: Die Roboter nehmen uns die Drecksarbeit ab, während wir uns dann den schönen Dingen widmen können.

Das ist natürlich eine naive Vorstellung. Denn die Frage ist keine technische. Unter kapitalistischen Bedingungen ist das Ausbleiben von Arbeit eine Kata­strophe und keine Emanzipation. Und die Maschinen machen ja nicht die Revolution für uns.

Kann man die Hoffnung auf Emanzipation dann in die Hände der Gewerkschaften legen?

Aus den Erfahrungen mit Modernisierungsprozessen in der Arbeitswelt haben Gewerkschaften gelernt, dass sie sich beteiligen müssen. Sowohl sie als auch die Arbeitgeberverbände haben das Schlagwort »Industrie 4.0« immer mit dem Slogan verknüpft: »Der Mensch steht im Mittelpunkt.« Politisch hat man die Digitalisierung der Produktion gefördert. Das war eine staatliche Strategie, die korporatistisch begleitet wurde. Gewerkschaften waren also an der Ausarbeitung der »Industrie 4.0« beteiligt. Allerdings haben die Gewerkschaften in diesem Prozess weniger auf Arbeitsbedingungen geschaut, sondern vor ­allem auf den Erhalt von Arbeitsplätzen und auf Tarifregelungen. Gute Bezahlung und hohe Produktivität für die Kernbelegschaften waren die oberste Prämisse. Was die Veränderungen aber konkret für den Arbeitsprozess und das Arbeitserleben der Menschen bedeuten, hatten die Gewerkschafter, mit denen ich gesprochen habe, nicht wirklich präsent.

Können Sie dafür ein Beispiel ­nennen?

In einem Betrieb wurde ein Kontrollhandschuh eingeführt, der bei Fehlern des Arbeiters vibrierte. Der Betriebsrat der IG Metall hatte dem zugestimmt. Dass der Handschuh bei den Beschäftigten schlecht ankam, hat den Gewerkschafter dann total überrascht. Er konnte sich das einfach nicht vorstellen.

Behindert die kybernetische Veränderung von Arbeitsplätzen grundsätzlich die gewerkschaftliche Organisierung?

Diese Veränderung ist ein Abwertungsprozess. Das merken auch die Beschäftigten. Deswegen ist die Implementierung von algorithmischer Arbeitssteuerung immer konfliktbehaftet. Und auch an den digitalen Arbeitsplätzen kann man nicht alle Kontrolllücken schließen. In der Fabrik gibt es beispielsweise keinen menschlichen Vorgesetzten mehr, der in der Werkshalle patrouilliert. Ein Algorithmus trackt stattdessen die individuellen Arbeitsschritte, aber er kann nicht sehen, ob die Leute sich bei der Arbeit unterhalten. Das war in einer Fa­brik, in der ich gearbeitet habe, vorher wirklich verboten. Man musste dort auch einen vorgegebenen Abstand zueinander einhalten. Das hat das System dann nicht mehr überwacht. Diese Kontrolllücken sind ein zentraler Faktor für die Kommunikation bei der Arbeit. Das ist dann die Voraussetzung für Solidarisierung und Organisierung. Das gibt es auch in Prozessen ohne festen Betriebsort wie bei den Kurierdiensten. Die Beschäftigten erkennen sich in der Stadt an der Uniform und informieren neue Kolleginnen und Kollegen über gemeinsame Treffpunkte. Daran schließen sich dann oft Organisierungsversuche an.

In dieser sogenannten Digitalökonomie gibt es deshalb auch mehr Arbeitskämpfe und nicht weniger. In England gibt es dazu eine erste quantitative Untersuchung, die besagt, dass es im Vergleich zur sogenannten analogen Ökonomie rund 60 Prozent mehr Streiktage gibt.

Diese Organisierungsversuche gehen häufig von kleinen Gruppen oder Zusammenhängen aus. Spielen große Gewerkschaften in diesem Bereich noch eine Rolle?

In der Plattformökonomie gibt es in der Regel kaum gewerkschaftliche Organisierung. Das liegt an den Unternehmen, die meist gewerkschaftsfeindlich sind. Die DGB-Gewerkschaften selbst haben aber auch eine gewisse Skepsis gegenüber prekär Beschäftigten. Da gibt es ja schon in nichtdigitalisierten Branchen Schwierigkeiten, die zu organisieren. Das führt in Deutschland und Europa dazu, dass hier eher Basisgewerkschaften den Ton angeben. Nachdem die Konflikte dann viel mediale Beachtung fanden, haben auch die großen Gewerkschaften Interesse gezeigt und jetzt einige Pilotprojekte begonnen. Allerdings hat die Plattformökonomie eine ganz andere Logik. Die technokorporatistischen Muster, die die Gewerkschaften aus der Industrie bisher kennen, können sich hier nicht durchsetzen.

Gilt das auch für die Industrie?

In der Industrie leiden viele Beschäftigten unter der Technologie, die mit Zustimmung der Gewerkschaften eingeführt wurde. Das führt dann teilweise dazu, dass sie sich von den Gewerkschaften entfremden und stattdessen autonom Widerstand leisten. Da werden dann auch schon mal Bummelstreiks oder Ähnliches verabredet.

 

Simon Schaupp

Simon Schaupp ist Soziologe und hat untersucht, wie sich von Algorithmen gesteuerte Arbeit auswirkt. Er hat mit Beschäftigten und Führungskräften in Industriebetrieben, bei einem Versandhändler und einem Lieferdienst gesprochen, die jeweiligen Arbeitsprozesse ­untersucht und selbst dort gearbeitet. 2021 ist sein Buch »Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung« im Verlag Matthes & Seitz erschienen, in dem er erläutert, wie Technik menschliche Arbeit optimieren und verdichten soll.