In einem Krieg sind auch die ukrainischen Atomanlagen gefährdet

Atomkraft in der Schusslinie

In der Ukraine stehen 15 Atomkraftwerke, darunter das größte Europas. Dessen Nähe zur Front in der Ostukraine weckt Befürchtungen, dass es angegriffen werden könnte.

In der Ukraine sind derzeit 15 Atomkraftwerke in Betrieb, und es gibt auch eine radioaktive Sperrzone, weil dabei schon einmal etwas schiefgegangen ist, 1986 in Tschernobyl. Weniger bekannt als Tschernobyl ist Enerhodar, zu Deutsch »Energiegeschenk« oder »die Energie Schenkende«, wie seine Erbauer den Standort des Atomkraftwerks (AKW) Saporischschja genannt haben, das rund 70 Kilometer südwestlich der Großstadt Saporischschja am Ufer des Dnjepr liegt. Ein passenderer Name für das mit sechs russischen Druckwasserreaktoren vom Typ WWER1000/320 bestückte AKW, die noch aus der Zeit der Sowjetunion stammen, wäre wohl Danaergeschenk.

Die leistungsstärkste Atomkraftwerksanlage Europas ist rund 200 Kilometer von der sogenannten Kontakt­linie in der Ostukraine entfernt, an der sich prorussische Separatisten und ukrainische Streitkräfte jederzeit schussbereit gegenüberstehen. Immer wieder werfen sich beide Seiten Verstöße gegen den Waffenstillstand vor. Seit ­einigen Tagen gibt es vermehrt Angriffe auf ostukrainische Dörfer, prorussische Separatisten berichten von Todesopfern. Die Kämpfe könnten weiter ­eskalieren.

Schon 2014 sprachen Vertreter der ukrainischen Atomaufsicht offen über die bedrohliche Lage des AKW, das nicht gegen militärische Angriffe gesichert sei.

Schon 2014 sprachen Vertreter der ukrainischen Atomaufsicht offen über die bedrohliche Lage des Kraftwerks, das – wie weltweit üblich – nicht gegen militärische Angriffe gesichert sei. »Ein Krieg mit konventionellen Waffen in einem Gebiet mit Atomkraftwerken«, sagte damals der Nuklearexperte Nikolai Steinberg, »wird früher oder später unweigerlich zu einem ›nuklearen‹ Krieg.« An dieser kurzen Lunte zündeln die Krieger paramilitärischer Milizen auf beiden Seiten der Front. Wenn Enerhodar zum Schauplatz von Kämpfen werde, könne es zu einer Ka­tastrophe kommen, schrieb der Guardian bereits 2015 und zeigte sich vor allem schockiert über die Lagerung des Atommülls direkt neben den Reaktoren. Sie könnten auch versehentlich unter Beschuss geraten, beispielsweise durch die Explosion eines Munitionsdepots.

Ende vergangenen Jahres entdeckte auch das US-Magazin Forbes, dass es problematisch wird, sollte das AKW von einer Rakete getroffen werden. Ein derart großes Atomkraftwerk könne eine Strahlenmenge freisetzen, wie sie die Welt noch nicht erlebt habe, zumal es so gut wie unmöglich sei, in einer Zone mit Kriegshandlungen unverzüglich Notfall- und Schutzmaßnahmen zu organisieren. Forbes teilt die Einschätzung, besonders gefährlich seien die Abklingbecken für verbrauchte Brennelemente und die derzeit 167 Beton­zylinder, in denen diese anschließend zwischengelagert werden. Sie stehen auf einer Freifläche des Werkgeländes und können auf Fotos und Satellitenbildern bestaunt werden, ein echtes Geschenk der Atomenergie.

Wenngleich der Artikel in Forbes ein bisschen zu deutlich demonstrieren möchte, was russische Truppen noch alles anstellen könnten, kommt er unweigerlich zur gleichen Schlussfolgerung wie der oben zitierte Steinberg. Ein nuklearer Krieg kann auch ohne den Einsatz von Atomwaffen stattfinden. Zivile Atomkraftanlagen sind somit Teil der nuklearen Abschreckung, nur anders als gedacht: Als riesige Atomminen, die man sich selbst gelegt hat, schrecken sie im Ernstfall ihre Besitzer ab statt den Feind. Die nukleare Abschreckung des Gegners ist zwangsläufig begleitet von einer Selbstabschreckung durch die nukleare Infrastruktur – eine Art Dialektik des Atomzeitalters.

Immerhin ist die Wiener Atomagentur IAEA tätig geworden. Mit dem Führungsstab von Enerhodar veranstaltete sie im Januar ein einführendes Online-Seminar, bei dem Szenarien schwerer Unfälle und ein Notfall-Management erörtert wurden.

Nach dem Workshop teilte der Leiter des staatlichen Stromlieferanten ­Energoatom, Petro Kotin, mit, die ukrainischen AKW seien auf den Fall des Eintretens einer sehr »speziellen Periode« vorbereitet. Man werde sie bei einem Bombenangriff herunterfahren und entladen, bis die Bedrohung vor­über sei. Man wisse auch, was bei einem Ausfall der externen Stromversorgung oder der Kommunikationsmittel zu tun sei, und habe vorsorglich Brennstoffvorräte für zwei Jahre angelegt.