Trotz militärischer Probleme und harter Sanktionen setzt Putin die Ukraine-­Invasion fort

Putin bleibt stur

Der russische Angriff auf die Ukraine stockt, die westlichen Sanktionen sind härter als erwartet. Es gibt jedoch bislang keine Anzeichen dafür, dass der russische Präsident nachgeben wird.

Wenn alles nach Plan läuft, muss es wohl einen Plan geben. Eine Woche nach Beginn des Angriffs russischer Truppen auf die Ukraine verlautbarte der russische Präsident Wladimir Putin, dass die »Sonderoperation« zeitlich wie vorgesehen verlaufe und alle Ziele erreicht würden. Aber in einem Krieg läuft nie alles nach Plan: Zunächst hieß es aus dem Kreml, die Armee sei angehalten, einzig die Wehrfähigkeit der Ukraine zu schwächen, indem sie strategisch wichtige Objekte, Flughäfen und Militärstützpunkte, zerstöre oder unbrauchbar mache. Dabei wurden vielfach der Beschuss und die Bombardierung von Wohnvierteln nachgewiesen, sogar der Einsatz international geächteter Streubomben. Die Vereinten Nationen sprachen am Dienstag von 406 zivilen Todesopfern im Donbass und anderen umkämpften ukrainischen Gebieten.

Die Taktik der russischen Armee hat sich innerhalb kürzester Zeit verändert, wie der Raketenbeschuss der Großstadt Charkiw und anderer ukrainischer Ortschaften zeigt. Der Grund dafür ist der entschlossene Widerstand der ukrainischen Bevölkerung. Nur langsam arbeitet sich die russische Armee voran, doch kontrolliert sie mittlerweile einen Teil der wichtigen Infrastruktur, darunter das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl und Saporischschja, die größte Atomanlage Europas, im Süden der Ukraine gelegen. Während der Kampfhandlungen kam es dort in einem der Gebäude zu einem Brand. Zwar verursachte dieser nach bisherigen Kenntnissen keine sicherheitsrelevanten Schäden, aber allein die Möglichkeit, radioaktive Strahlung freizusetzen, gibt den russischen Befehlshabern ein zusätzliches Druckmittel in die Hand.

Selbst wenn die russische Regierung einen Führungswechsel in Kiew durchsetzen könnte, wäre das nicht gleichzusetzen mit einer Befriedung.

Immerhin gibt es kleine Fortschritte bei den Verhandlungen russischer Unterhändler mit Vertretern der ukrainischen Regierung über die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus umkämpften Städten. Nachdem Flüchtende beschossen worden waren und die russische Seite zunächst nur »humanitäre Korridore« in Richtung Russland und Belarus offenhalten wollte, konnten Zivilisten nun offenbar Sumy und Irpin in südlicher Richtung verlassen. Doch bleibt die Frage, ab welchem Punkt es zu weiterreichenden Verhandlungen kommen könnte.

In einem Gespräch mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Wochenende sagte Putin, er sei grundsätzlich zum Dialog mit der Ukraine und dem Westen über eine Beilegung des Konflikts bereit. Aber zugleich bekräftigte er, dass eine Beendigung der »Sonderoperation« zum Schutz des Donbass nur in Frage komme, wenn die ukrainische Seite die Kampfhandlungen einstelle und allen Forderungen Russlands akzeptiere. Kurzum: Der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte besteht auf einer bedingungslosen Kapitulation der Ukraine.

Um diesem Ziel nahe zu kommen, müsste zumindest Kiew besetzt und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gefangengenommen oder getötet werden. Das hieße nach gegenwärtigem Stand, dass heftige Kämpfe in der Hauptstadt bevorstehen. Und selbst wenn die russische Regierung einen Führungswechsel in Kiew durchsetzen könnte, wäre das nicht gleichzusetzen mit einer Befriedung. In Tschetschenien kostete es die russische Führung neun Jahre, den bewaffneten ­Widerstand in den Griff zu bekommen – mit dem gewalttätigen Autokraten Ramsan Kadyrow an der Spitze der Republik, brutaler Repression gegen die Bevölkerung und enormen Geldtransfers. In der Ukraine wären dafür immense Ressourcen erforderlich. Aber es wäre genug, um trotz des angerichteten unfassbaren Desasters den Sieg für sich in Anspruch zu nehmen.

Mit extrem düsteren Aussichten wartet Christo Grozev auf, ein Journalist des investigativen Recherchenetzwerks Bellingcat. Die russische Journalistin Julija Latynina interviewte ihn vorige Woche auf ihrem Youtube-Kanal. Grozev berichtete in dem Gespräch davon, er habe bereits im April vergangenen Jahres erste Hinweise aus dem russischen Sicherheitsapparat darüber erhalten, dass im März 2022 schreckliche ­Ereignisse bevorstünden. Russland werde sich von der Außenwelt abkoppeln und die Armee das Sagen bekommen. Im Dezember habe es weitere Vorwarnungen gegeben, aus denen hervorgegangen sei, dass Putin einen Krieg anzetteln und selbst vor der Anwendung taktischer Atomwaffen nicht zurückschrecken werde, sollten konventionelle Waffen nicht die gewünschte Wirkung zeitigen. Ein Atomangriff könnte zur Abschreckung auf maritime Ziele stattfinden oder sich sogar gegen einen der nahegelegenen Nato-Mitgliedsstaaten richten. Hintergrund sei die sich verschlechternde innenpolitische Lage, die auch als Gefahr für einen geregelten Machttransfer nach den Wünschen der politischen Führungsschicht gesehen werde.

Grozev betonte, dass er nicht bereit sei, allen Mitteilungen Glauben zu schenken, aber aus den Reihen des Inlandsgeheimdiensts FSB hätte ihn unter anderem eine E-Mail mit Klarnamen und überprüfbaren Daten erreicht. Auch Angehörige der Streitkräfte hätten ihn kontaktiert. Auf die Frage, weshalb sie sich zu diesem riskanten Schritt durchgerungen hätten, antwortete er, diese Leute seien selbst schockiert und begriffen sehr genau die Konsequenzen für Russland und ihre persönliche Lage. Deshalb versuchten sie, jene zu informieren, von denen sie sich erhofften, sie könnten Entscheidungsträger im Westen beeinflussen.

Die Informationen, so Grozev, hätten sich im Nachhinein als glaubwürdig erwiesen, nur die Monatsangabe März sei falsch gewesen. Aber auch dafür gebe es eine Erklärung: Die USA, die vermutlich ebenfalls kontaktiert worden seien, hätten einen Termin im Februar genannt, um Putin unter Zeitdruck zu setzen und zu Fehlentscheidungen zu provozieren.

Es gibt nun viele Hinweise auf mangelnden Kampfwillen in der Armee. Dem Pentagon zufolge hätten sich aus abgehörten Gesprächen von russischen Armeeangehörigen beispielsweise in Mariupol sogar erste Anzeichen von Sabotage ausmachen lassen; sie sollen Fahrzeuge unbrauchbar gemacht haben, um nicht zum Kampf Ausrücken zu müssen.

Fehlkalkulationen der russischen Regierung zeigen sich bei der Einschätzung westlicher Sanktionen. Bis vor kurzem konnte sich vermutlich kaum jemand vorstellen, dass sich eine solche Geschlossenheit im Auftreten der westlichen Staaten herstellen ließe, die sich im Verhalten zu der russischen Führung wie so oft uneins waren. Etliche russische Oligarchen haben seit der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken im Donbass durch Russland zweistellige Prozentbeträge ihres Vermögen verloren. Selbst die russische Zentralbank kann nicht mehr frei über ihre im Westen gebunkerten Devisenreserven verfügen.

In der Sanktionspolitik fielen allerdings auch Entscheidungen, die weniger den Staat oder dessen Führungsschicht treffen, sondern auch jene, die den Krieg in der Ukraine verurteilen. Tausende Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner haben Russland innerhalb der vergangenen zwei Wochen verlassen. Wer es nicht geschafft hat, Bargeld abzuheben, muss nun überlegen, wie er an sein Geld kommen kann. Die Unternehmen Visa und Mastercard stellten ihre Arbeit in Russland ein, was bedeutet, dass über diese Karten kein Geld mehr im Ausland von russischen Konten und in Russland von ausländischen Konten abgehoben werden kann.

Einen Vorgeschmack auf die von Russland offenbar angestrebte Abkopplung vom weltweiten Internet bekamen russische Nutzerinnen und Nutzer durch die Entscheidung des in den USA angesiedelten Betreibers eines globalen Glasfasernetzwerks, Cogent Communications, seine Dienste in Russland einzustellen. Nachdem dieser die entsprechenden Großrechner abgeschaltet hatte, verlangsamte sich die Internetgeschwindigkeit spürbar. Das Nachrichtenmagazin Spiegel hingegen deaktivierte seine Paywall für User aus Russland und der Ukraine.

Mit einem jüngst unterzeichneten Gesetz sorgt Putin selbst dafür, dass Vermögenswerte von Angehörigen des Staatsapparats eingezogen werden können. Per Gerichtsverfügung erhält der Staat ab sofort Zugriff auf deren Konten, sollten diese auffällige Eingänge vorweisen, die weit über Kontobewegungen liegen, die bei der entsprechenden Gehaltsstufe zu erwarten ­wären.

Auf Russlands Straßen finden derweil weiterhin Proteste gegen den Krieg in der Ukraine statt – nun mit noch höherem Risiko für die Teilnehmer. Denn für eine sogenannte Verunglimpfung der russischen Streitkräfte drohen hohe Strafen. Protestaufrufe fallen zunächst unter das Administrativstrafgesetz, Schnellgerichte können Geld- oder Haftstrafen gemäß dem Kodex für Ordnungsverstöße verhängen. Die Verbreitung von dem, was die Regierung zu Falschinformationen erklärt, kann je nach Tatbestand mit einer Haftstrafe bis zu 15 Jahren geahndet werden. Viele Festgenommene berichteten am Wochenende davon, dass die Polizei unter Androhung von Gewalt Zugang zu Telefonen und Smartphones verlangte.