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Auf dem diesjährigen österreichischen Filmfestival Diagonale widmet sich die Werkschau »Zur Person« dem Regie-Duo Tizza Covi und Rainer Frimmel. In ihren zahlreichen dokufiktionalen Filmen zeichnen sie ein Porträt der gesellschaftlichen Außenseiter, im Zirkus, auf dem Land oder im Wiener Untergrund.
Ein Auto fährt bei trübem Wetter durch eine fast menschenleere Kleinstadt und macht Werbung für eine anstehende Zirkusattraktion. »Fürchten Sie die Kälte nicht«, beruhigt die Lautsprecheransage und verspricht neben einer modernen Beheizung eine junge und dynamische Vorstellung mit Clowns, Jongleuren, Akrobaten und allerhand Getier. Am Ende des Tages aber werden nur wenige Menschen den Weg in das Zirkuszelt gefunden haben.
»Babooska« von 2005, benannt nach der jungen Artistin mit der »sympathischen Hula-Hoop-Nummer«, bildete den Auftakt einer Reihe von Filmen, in denen Tizza Covi und Rainer Frimmel aus dem prekären Milieu eines kleinen Wanderzirkus aus Italien erzählen. Von der Manege ist jedoch kaum etwas zu sehen. Schauplatz des Films sind die Hinterbühne des Zirkus und die engen Wohnwagen, in denen das Gefühl, in ihnen ein stabiles Zuhause zu besitzen, alle paar Tage aufs Neue wiederhergestellt werden muss. Immer wieder sieht man Babooskas Familie beim Ein- und Ausräumen, Auf- und Abbauen und beim Aushandeln von Stellplätzen. Die schwere Arbeit wirft nicht viel ab, bei der 20jährigen Protagonistin ist der Gedanke an Ausstieg allgegenwärtig. Eine aus der Zeit gefallene Lebensform trifft hier auf die Gegenwart eines Landes, in dem sich schon Jahre vor der Finanz- und Wirtschaftskrise die wirtschaftliche Rezession abzeichnete.
Die Filme entstehen in enger Absprache mit den Darstellerinnen und Darstellern, die Dialoge sind improvisiert, auf künstliches Licht und zusätzlichen Sound wird verzichtet.
Seit »Das ist alles« (2001), ihrem ersten gemeinsamen Film, widmen sich Tizza Covi und Rainer Frimmel Menschen und Existenzformen an der gesellschaftlichen Peripherie: in einem russischen Dorf gestrandete Minderheitenangehörige, nomadisch lebende Zirkusleute oder das Milieu der Strizzis, also der Kleinkriminellen und Zuhälter, im Wien der sechziger Jahre. Die Filme entstehen in enger Absprache mit den Darstellerinnen und Darstellern, die Dialoge sind improvisiert, auf künstliches Licht und zusätzlichen Sound wird verzichtet. Von ihren oft dokumentarischen Ursprüngen ausgehend entwickeln sich die Filme bald zu einem Kino, das in die Wirklichkeit eingreift, dem Sozialrealismus dabei jedoch treu bleibt. Einfach gesagt: In erfundenen Geschichten spielen Menschen sich selbst. Das Österreichische Filmfestival Diagonale zeigt die vielfach ausgezeichneten Arbeiten des italienisch-österreichischen Regie-Duos nun im Rahmen einer Werkschau. Begleitet wird die Reihe von einer umfangreichen Fotoausstellung in der Grazer Camera Austria.
Die aus dem italienischen Bozen stammende Tizza Covi und der Wiener Rainer Frimmel haben sich an der Graphischen Lehranstalt in Wien kennengelernt und sind ein Paar. Beide kommen von der Fotografie. Die Street Photography hat es ihnen angetan, das Rausgehen, das Unterwegssein, die direkte Interaktion mit den Menschen. In »Das ist alles« sind die Bilder noch welche, die Momente festhalten wollen, die Einstellungen sind statisch. Doch auch wenn sich die Bilder erst mit dem nächsten Film so richtig in Bewegung setzen werden, sind die Grundlagen der Arbeit des Duos bereits etabliert: der den Figuren zugewandte Blick, die genaue Beobachtung von Menschen in Räumen und Umgebungen, die Aufmerksamkeit für Sprechweisen und eine Wirklichkeitsnähe, die bei aller Direktheit einen deutlich poetischen Impetus hat.
»Das ist alles« porträtiert deutschstämmige, russische und armenische Bewohnerinnen und Bewohner in Jasnaja Poljana nahe Kaliningrad, einem Dorf, das durch die Umsiedlungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg multinational wurde. Die Menschen, die Covi und Frimmel in ihren spärlich eingerichteten Küchen und Kammern oder auf dem Acker filmen, kommen aus den verschiedensten vormaligen Sowjetrepubliken – Vertriebene aus Aserbaidschan, Russlanddeutsche aus Kasachstan. Eine alte Frau, die gerade genug zum Leben hat, aber zu arm ist, um in ihre alte Heimat nach Weißrussland zu fahren, hofft auf den neuen Präsidenten, er habe gerade die Pensionen erhöht. »Die Jahre, Kinder, die Jahre ziehen vorüber«, sagt sie noch. Die Frau wirkt wie aus einer fernen Zeit, kurz muss man nachrechnen, ob sie wirklich Wladimir Putin gemeint haben kann.
Auch »Babooska«, der wie alle nachfolgenden Arbeiten von Vento Film, der eigenen Produktionsfirma Covis und Frimmels, hergestellt wurde, ist ursprünglich aus einem fotografischen Projekt hervorgegangen. Covi und Frimmel fotografieren Zirkusse, zunächst in Österreich, dann in Italien. Als sie der charismatischen Titelheldin begegnen, ist sie 13 Jahre alt. Der Film beginnt an ihrem zwanzigsten Geburtstag in Rom und endet ein Jahr später in Ligurien. In dieser Zeit hat ihre kleine Schwester Azzurra 28 verschiedene Schulen besucht.
Mit den drei folgenden dokufiktionalen Spielfilmen schreiben sich die in »Babooska« etablierten Handlungen und Figuren in einer erweiterten Familiengeschichte fort. Im Zentrum von »La Pivellina« (2009) stehen Patrizia »Patti« Gerardi, Babooskas Tante, und ihr Mann Walter Saabel. Ein Paar, das ein improvisiertes Leben führt, findet ein kleines Kind und nimmt es vorübergehend bei sich auf. Zu dieser neuen Gemeinschaft zählt auch der 13jährige Nachbarsjunge Tairo, der in »Mister Universo« (2016) zur zentralen Figur wird: ein Raubtierdompteur, der sich auf die Suche nach Arthur Robin, dem ersten schwarzen Mister Universum, begibt. Der Schwertschlucker Walter Saabel wiederum trifft in »Der Glanz des Tages« (2012) auf einen »echten« Schauspieler, den Theaterstar Philipp Hochmair. Erstmals tritt zum Verhältnis von Fiktion und Dokumentation, von Inszenierung und Alltagsbeobachtung auch die Begegnung zweier völlig konträrer Spielweisen hinzu.
Mit dem Dokumentarfilm »Aufzeichnungen aus der Unterwelt« (2020) kehren Covi und Frimmel zu ihren Anfängen zurück. Die Geschichten, die Kurt Girk, ein Sänger von Wienerliedern, und sein Freund Alois Schmutzer, der »König der Wiener Unterwelt«, aus ihrem bewegten Leben erzählen, sind wild und schillernd, formal aber ist es der roheste und reduzierteste Film des Regie-Duos. Die Schwarzweißbilder sind körnig, die unbewegte Kamera beschränkt sich darauf, talking heads aufzunehmen. Frimmels Fragen, die aus dem Off zu hören sind, setzen eine Erzählung in Gang, die sich von der Kindheit im Krieg und den Härten der Nachkriegsjahre über illegale Glücksspiele und Schießereien rivalisierender Banden bis hin zur bitteren Zeit im Knast erstreckt.
Zwischen Mythos, Wahrheit und der Überzeugungskraft der eigenen Geschichte entsteht das Bild einer untergegangenen Epoche, die sich in veraltete Begriffe kleidet (Strolch, Kanaille, Reibereien et cetera). Dabei fällt der Blick in die Hinterzimmer der Wirtshäuser, wo man ein Kartenspiel namens »Stoß« spielte, und immer wieder auch auf die gesellschaftlichen Missstände dieser Zeit: die Brutalität der Polizei, die unmenschlichen Haftbedingungen sowie eine Justiz, die einen SS-Hauptsturmführer mit einer läppischen Strafe davonkommen ließ, während man »den Schmutzer« ohne stichhaltige Beweise elf Jahre hinter Gitter steckte.
»Aufzeichnungen aus der Unterwelt« ist aber auch ein Film über körperliche Präsenz und insbesondere über Gesichter und Hände. »Kurtl« ist ein dünner Mann mit feinen Gesichtszügen, »Loisl«, dessen wuchtige Pranken an Baumwurzeln erinnern, drückt die Schwerkraft nach unten. Es ist unfassbar berührend, wenn ihre an den Tischplatten festgewachsenen Körper am Ende des Films erstmals in Bewegung zu sehen sind. In Farbe und im Licht des Tages, die Unterwelt weit hinter sich gelassen.
Die Diagonale in Graz läuft noch bis zum 10. April.