Die deutsche Debatte über ein Energieembargo gegen Russland

Der Euro rollt

Nach den Massakern der russischen Armee in der Nordukraine wird auf EU-Ebene über neue Sanktionen verhandelt. In Deutschland ist eine Debatte über ein Energieembargo entbrannt.

Seit Sonntag zeigen sich Politiker und Medien in Deutschland erschüttert über die Bilder von getöteten Zivilisten aus Gebieten nördlich von Kiew, die ­zuvor von russischen Soldaten besetzt waren. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nannte die Taten »Kriegsverbrechen« und kündigte neue Sanktionen gegen Russland an. Auch Forderungen nach Beendigung der Importe von Erdgas, Erdöl und Kohle aus Russland werden wieder laut.

Tag für Tag strömt weiter russisches Erdgas in die EU. Medienberichten zufolge nutzt der russische Staatskonzern Gazprom die durch die Ukraine verlaufenden Leitungen derzeit fast bis zur Kapazitätsgrenze, um den Bedarf in der EU, wobei Deutschland der wichtigste Abnehmer ist, zu befriedigen. Aufgrund der hohen Preise schätzen Experten der Nachrichtenagentur Bloomberg, dass die russischen Einnahmen aus dem Energieexport in diesem Jahr deutlich auf 321 Milliarden US-Dollar ansteigen könnten – über ein Drittel mehr als im vorigen Jahr. Diese Devisen fließen zu einem großen Teil in den Staatshaushalt und erlauben es Russland, Importe aus dem Ausland zu finanzieren. So können die wirtschaftlichen Auswirkungen der von westlichen Staaten verhängten Sanktionen abgemildert werden.

Wenn man die gesamte Wirtschaft sanktioniere, aber nicht den Energiekomplex, dann stärke man noch die Machtposition des Regimes gegenüber der Bevölkerung, so Russland-Experte Janis Kluge.

Die EU hat als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg Maßnahmen beschlossen, um in den kommenden Jahren unabhängiger von russischen Energielieferungen zu werden. Von den bisher verhängten Sanktionen war der Energiesektor jedoch stets explizit ausgenommen. Doch nachdem die Massaker bei Butscha bekannt wurden, sprachen sich etwa Vertreter der italie­nischen Regierung für ein Energieembargo aus.

Deutschland gilt neben Ungarn und Österreich weiterhin als wichtigster Gegner von Energiesanktionen auf EU-Ebene. »Deutsche Wirtschaft. Über ­alles. Deutscher Wohlstand. Über alles. Anstand? Historische Verantwortung? Fehlanzeige«, kritisierte der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk am Dienstag auf Twitter scharf die Ablehnung eines Energieembargos durch die deutsche Bundesregierung. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) beispielsweise hatte Bild am Sonntag gesagt, Sanktionen müssten »das Putin-Regime treffen und nicht die Stabilität Deutschlands gefährden«; die höheren Energiepreise führten jetzt schon einen »Wohlstandsverlust« herbei. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte in den vergangenen ­Tagen immer wieder, es brauche Zeit, von russischer Energie unabhängig zu werden, ohne der deutschen Wirtschaft zu schaden. Die Vorgängerregierungen hätten mit ihrer Konzentration auf Energieimporte aus Russland Fehler gemacht, die sich nicht schnell beheben ließen.

Doch gibt es auch erste Gegenstimmen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte, die EU müsse auch Sanktionen für Energieexporte prüfen. In der EU wird derzeit darüber diskutiert, den Verkauf von High­tech-Gütern an Russland weiter einzuschränken und bisher unsanktionierte russische Banken vom inter­nationalen Zahlungssystem Swift auszuschließen.

Umstritten ist, was für Folgen ein Ende der russischen Energieimporte für die Wirtschaft in Deutschland hätte. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Gewerkschaftsbund IG Metall hatten die Ende Februar erlassenen Sanktionen gegen Russland zwar unterstützt, lehnen ein Energieembargo aber nach wie vor ab. Ein Gasembargo könnte das »Ende unserer Industrie bedeuten«, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm im ZDF. Es gehe dabei nicht nur um kurzfristige Einbußen, sondern auch mittel- und langfristige Nachteile für die Konkurrenzfähigkeit der energieintensiven Industrieproduktion, denn Flüssiggas aus den USA sei deutlich teurer, warnte der Vorstandschef des Chemiekonzerns BASF, Martin Brudermüller, in einem Interview mit der FAZ. Es sei »eine Tatsache, dass die russischen Gaslieferungen bisher die Basis für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie sind«. BASF ist einer der größten Energieverbraucher Deutschlands. »Die Wirtschaft könnte regelrecht implodieren«, malte die Thyssen-Krupp-Vorstandsvorsitzende Martina Merz in ­einem Interview mit dem Spiegel ein düsteres Szenario an die Wand.

Anfang März veröffentlichten acht Ökonomen eine Studie, der zufolge das deutsche Bruttoinlandprodukt bei einem Importstopp kurzfristig um 0,5 bis drei Prozent sinken würde. Die Methodologie der Studie wurde unter anderem von dem Ökonomen Tom Krebs, der derzeit als Berater des Wirtschaftsministeriums arbeitet, kritisiert. Bundeskanzler Scholz nannte es Ende März in der Fernsehsendung Anne Will »unverantwortlich«, dass Ökonomen »mit mathematischen ­Modellen vorrechnen«, dass ein Energieembargo verkraftbar sei. Dass dem nicht so sei, wisse er aus Gesprächen mit »Wirtschaftsvertretern«. Fraglich ist, ob diese tatsächlich bessere Einblicke in die über viele Jahre aufgebaute Abhängigkeit der deutschen Industrie von billigem Erdgas haben als Makroökonomen und ob die Einschätzung von »Wirtschaftsvertretern« nicht allzu interessengeleitet ist. Das Institut für Makro­ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) kam unterdessen auf einen Wert von minus sechs Prozent im Jahr 2022 im Fall eines Energieembargos.

Die »Wirtschaftsweise« Veronika Grimm sagte am Montag, die Frage eines Energieembargos dürfe nicht nur nach wirtschaftlichen Erwägungen entschieden werden. Vielmehr gebe es auch »ökonomische, sicherheitspolitische und ethische Argumente«, sagte sie dem Handelsblatt.

Ebenfalls umstritten ist die Frage, welche Auswirkungen ein Energie­embargo auf den russischen Staat und dessen Fähigkeiten hätte, den Krieg in der Ukraine fortzuführen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Kriegführung selbst nicht unmittelbar von den Devisenzuflüssen abhängig sei, wohl jedoch die Stabilität der Wirtschaft und damit auch die des politischen Systems. Hier hätten die bisher verhängten Sanktionen paradoxe Folgen gehabt, sagte der Experte für die russische Wirtschaft Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in dem Podcast Foreign Times: »Wenn man die gesamte Wirtschaft sanktioniert, aber nicht den Energiekomplex, dann stärkt man noch die Machtposition des Regimes gegenüber dem Rest des Landes oder der Bevölkerung, weil die Menschen noch abhängiger werden von den Transfers der ­Regierung, die diese Öleinnahmen kanalisiert und verteilt.« So würden auch russische Unternehmer abhängiger vom Staat werden. »Wir machen alle ­ärmer bis auf das Regime, und damit sichern wir auch die Macht des Regimes«, kritisierte Kluge.