Vivian Liska untersucht den Umgang mit jüdischen Denktraditionen in der G­egenwart

Tatort Postmoderne

Anhand zahlreicher Beispiel zeigt die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Vivian Liska, wie jüdische Denktraditionen aus den intellektuellen Debatten der Gegenwart verdrängt wurden.

Das Umschlagbild des Buchs »Prekäres Erbe« von Vivian Liska wurde mit Bedacht gewählt. Es handelt sich um eine abstrakte Variation der berühmten Zeichnung »Angelus Novus« von Paul Klee, die zum Sinnbild für Walter Benjamins Geschichtsphilosophie wurde. Das Bild der in New York lebenden Künstlerin Rebecca H. Quaytmans mit dem Titel »חקק, Chapter 29« zeigt jedoch keine Engels­figur, sondern eine leere Fläche vor einem blauen Rahmen, der an ein geöffnetes Fenster erinnert; der Angelus Novus ist entschwunden. Für Aufsehen sorgte 2015 die Entdeckung der Künstlerin, dass Klee für seinen »Angelus Novus« ein Bild aus dem 19. Jahrhundert übermalt hatte. Als Malgrund soll Klee ein Bildnis Martin Luthers gedient haben.

Mit Benjamins »Engel der Geschichte« beschäftigt sich Liska im Epilog ihrer literaturwissenschaft­lichen Studie über (so der Untertitel) »deutsch-jüdisches Denken und sein Fortleben«. Unzweifelhaft ist der Angelus Novus zu »Benjamins Logo« geworden, wie Geoffrey Hartman bemerkte. In Benjamins »Über den ­Begriff der Geschichte«, insbesondere in der neunten These über den Engel, lässt sich in der Zerstörung, auf die der Engel blickt, eine Fortschrittskritik erkennen. In dekons­truktivistischen Lesarten wurde die »schweigende Erstarrung des Engels« positiv als »Ermöglichung neuer und potentiell unendlicher Bedeutungen« gedeutet. Judith Butler gilt die Zerstörung gar als ein »potentieller Vorbote der Erlösung«.

Liska blickt kritisch auf heutige Interpretationen des Engels, wie sie sich bei Giorgio Agamben, Alain Badiou oder Slavoj Žižek finden. Bei Letzterem verschwindet in der Deutung des Engels die jüdische Tradi­tion, auf die Benjamin sich noch bezieht, zugunsten einer christlichen. Ausgehend von Udi Alonis Dokumentarfilm »Local Angel« (2002) über die theologischen Dimension des israelisch-palästinensischen Konflikts kommt Žižek zu dem Schluss, »dass dieser berühmte Engel Benjamins, auf den sich der Titel des Films bezieht, Christus selber ist«. Dieser Interpretation kann man mit Verweis auf die Entstehungsgeschichte des »Angelus Novus« entgegenhalten, dass es gerade ein christliches Emblem – Luthers Porträt – ist, das übermalt zur Allegorie für messianisches jüdisches Denken der Moderne wurde.

Wo Agamben, Žižek und Badiou behaupten, das »radikal Neue« hervorbringen zu wollen, nehmen sie eine uralte Unterscheidung wieder auf, die im Antijudaismus verwurzelt ist.

Das zentrale Thema von Liskas Buch ist, wie das deutsch-jüdische Denken der Moderne fortlebte, dann aber in der Postmoderne, die die Gegenwart bestimmt, verändert, verzerrt oder getilgt wurde. Aus­gehend von Hannah Arendt, Walter Benjamin, Frank Kafka, Gershom Scholem und Paul Celan zeigt sie, wie bestimmte jüdische Traditionen, Themen und Motive in die Moderne überführt wurden. Sie blickt dabei weniger auf eine kabbalistische als vielmehr eine talmudische Denk­tradition, die sich Fragen des Gesetzes, der Überlieferung, des Messianismus und des Exils widmet. Obwohl diese Denktradition in der Moderne brüchig geworden ist, bildet sie doch ein Erbe, das die genannten Autoren prägte und das sie zu bewahren versuchten. Auch werden viele dieser Themen – Überlieferung, Geschichte, Transzendenz – in der Moderne beinahe säkularisiert.

Gerade der Bezug zur jüdischen Tradition ermöglicht es Benjamin, Kafka und Arendt, den Traditionsbruch der Moderne auf je unterschiedliche Weise zu fassen. Liska erkennt bei all diesen Autoren »un­gelöste Spannungen zwischen jüdischem Partikularismus und aufgeklärtem Universalismus«. Sie analysiert, wie poststrukturalistische Theoretiker jene »ungelösten Spannungen« zum Prinzip erheben, »zur konstitutiven Unmöglichkeit der Aufhebung von Widersprüchlichkeit als Charakteristik der (Post-)Moderne«. Butler und andere griffen die Themen der jüdischen Tradition zwar auf, tilgten aber ihren Gehalt, so Liska.
»Giorgio Agambens leerer Messianismus« beschäftigte die Autorin bereits in dem 2008 erschienenen gleichnamigen Buch. Agambens Lektüren von Arendt, Kafka und Benjamin nehmen auch in der neuen Studie den größten Raum ein. Dort zeigt Liska »unverkennbar Heideg­ger’sche Untertöne« in Agambens Benjamin-Interpretation auf und belegt, dass Agamben Benjamins Ausführungen »christologisch zurechtgerückt« hat.

Anhand der ersten beiden Bände von Agambens »Homer sacer«-Zyklus – »Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben« und »Ausnahmezustand« – macht Liska deutlich, dass die Werke Kafkas, Benjamins, Scholems, Adornos und Derridas für Agamben ein »Laboratorium messianischen Denkens« sind. Aber sie zeigt auch philologisch genau, wie Agamben mit »zuweilen gewaltsamen, wahrlich ›mortifizierenden‹ Mitteln« Schlüsselfiguren von Kafka aus ihren Kontexten reißt, um diese in sein messianisches Konzept einzupassen. Das steht freilich im Widerspruch zu dem von Agamben formulierten Anspruch, Kafka gegen seine Interpreten zu verteidigen. Agambens Lesart Kafkas begegnet Liska mit einer umso genaueren Kafka-Lektüre.

Ebenso philologisch akribisch verfährt sie mit Maurice Blanchots ­Benjamin-Lektüre. Anhand der Aufzeichnungen und Übersetzungen Blanchots zu Benjamins Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« demaskiert sie bei ihm ein mindestens ungenaues Verfahren im Umgang mit dem Originaltext. Bei Benjamin ist es die Aufgabe des Übersetzers, »jene reine Sprache, die in fremde (Sprachen) gebannt ist, in der eigenen zu erlösen«. Bei Blanchot dagegen ist die Sprache »gefangen« und muss »befreit« werden. Blanchot tilgt mithin den messianischen Aspekt der Erlösung. An anderer Stelle weist Liska ihm eine Verschiebung von der jüdischen Mystik Benjamins zu einer »Vereinigung des Griechischen und Deutschen« nach, einem »Heideg­ger’schen Topos par excellence«. Die kleinen Bedeutungsverschiebungen und Schreibfehler bin hin zu den »verstellten Betonungen und unverblümten Auslassungen«, so Liska, verwandelten Blanchots Notizen in einen »Tatort«, an dem Benjamins Denken »zerstückelt« und von allem Fremden »desinfiziert« wird.

Derridas und Agambens Celan-Lektüren setzen den Rahmen für die Beschäftigung mit dem Thema des jüdischen Exils. Lange galt die mit dem Namen Celan verbundene Stadt Czernowitz als Chiffre für dieses. In der Deutung Butlers, Badious und Žižeks wird das jüdische Exil zu einer universellen Metapher. Die partikulare Erfahrung wird verschoben zu einer Universalisierung »des metaphorischen ›Juden‹«. Diese Metapher wird gegen die »angebliche aktuelle zionistische Verfälschung ausgespielt«. Liska bezeichnet das, was sich bei Butler, Agamben, Badiou und Žižek als Antizionismus tarnt, als einen neuen Antijudaismus.
Wo Agamben, Žižek und Badiou behaupten, das »radikal Neue« hervorbringen zu wollen, nehmen sie eine uralte Unterscheidung wieder auf, die im Antijudaismus verwurzelt ist: Das paulinische Christentum mit der »neuen Botschaft« wird von ihnen evolutionär als Fortschritt über das Judentum begriffen; seit dem Aufkommen des Christentums sei das Judentum irrelevant und müsse überwunden werden. Liska zeigt, »dass für Žižek die jüdische Tradition nur gerettet werden kann, wo sie sich auf das reduzieren lässt, was es zu überwinden gilt«.

Während die deutsche Ausgabe von Liskas Buch das »Fortleben« des deutsch-jüdischen Denkens im ­Titel trägt, lässt sich der im Titel der englischen Ausgabe verwendete ­Begriff »Afterlife« genauer mit »Nachleben« übersetzen. Der Unterschied ist markant: Im Nachleben ist die Kontinuität unterbrochen. Zwar geht es Liska in ihrer Studie um das »Weiterleben dieser Werke und der in ihr vermittelten Tradition«. Aber sie zeigt zugleich, dass wesentliche jüdische Dimensionen im Denken von Benjamin, Kafka und anderen durch ihre Interpreten vereinnahmt oder gar geleugnet werden. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert ist die Rolle der jüdischen Tradition in den Auffassungen der Moderne höchst prekär geworden.

Buchcover

 

 

 

 

 

 

 

Vivian Liska: Prekäres Erbe. Deutsch-­jüdisches Denken und sein Fortleben. ­Wallstein-Verlag, Göttingen 2021, 263 Seiten, 28,00 Euro