Irrtümer sind Voraussetzungen des Fortschritts

Und manchmal liegt man daneben

Wer etwas vorhergesehen hat, das dann tatsächlich eintritt, lag richtig. Auf diesem Prinzip beruhen die Naturwissenschaften. Irren ist menschlich, Irrtümer als solche zu erkennen, Voraussetzung für Fortschritt. Auch in der Politik wird sich gerne mal geirrt, das haben deutsche Linke zuletzt wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Ein wichtiges Kriterium für die Güte einer Theorie ist ihre Vorhersagekraft. Das ist praktisch: Die Astronomie sagt zuverlässig die nächste Sonnenfinsternis voraus. Ohne Physik könnte die Panzerhaubitze 2000 den Einschlagspunkt ihrer Geschosse nicht berechnen.

Glanzpunkte einer Theorie sind es, wenn sich Jahre später Voraussagen bestätigen, die lange nicht überprüfbar waren. Jahrzehnte bevor die ersten Satelliten in die Erdumlaufbahn geschickt wurden, sagte die allgemeinen Relativitätstheorie vorher, dass die Uhren dort oben schneller gehen. Und siehe da: Ohne die Relativitätskorrektur bei den Uhren der GPS-Satelliten würden die Navis schon nach einer Stunde um fast 500 Meter danebenliegen.

Umgekehrt gilt eine naturwissenschaftliche Theorie als falsch, wenn sich ihre Vorhersagen nicht bestätigen. Ein Beispiel ist die Äthertheorie. Das Licht hat, wie der Schall, Welleneigenschaften. Da lag der Gedanke nahe, auch das Licht brauche, wie der Schall die Luft, ein Medium, in dem es sich ausbreitet. Bis ins 20. Jahrhundert bezeichnete die Physik diese mysteriöse Substanz als »Äther«. Er sollte den ganzen Weltraum durchziehen und somit ein festes Bezugsystem darstellen. Doch zahlreiche Experimente bestätigten: Das Licht schert sich um kein Bezugssystem, es breitet sich immer auf die gleiche Weise aus. Schließlich löste die Relativitätstheorie die Äthertheorie endgültig ab. Ihre Voraussagen treten ein, sie gilt insofern als »wahr«.

In der Alltagssprache ist »Wahrheit« ein schillernder Begriff. Tritt ein Fußballer seinem Gegenspieler gegen das Schienbein, dann ist das ein Foul. Ein wahrer Fan aber weiß, dass der Spieler »in Wahrheit« nur den Ball treffen wollte. Bei solchen »Wahrheiten« geht es gerade nicht um überprüfbare Tatsachen, sondern darum, diese in einem milderen Licht erscheinen zu lassen.

Aber sehen wir mal von grobem Unsinn und bewussten Lügen ab. Gehen wir davon aus, wir können uns auf Tatsachen einigen, wie zum Beispiel: »Russische Truppen stehen in der Ukraine«. Dann könnte die »Wahrheit« eine Theorie sein, die diese erklärt, ähnlich wie eine naturwissenschaftliche Theorie die Messdaten. Wäre es da nicht sinnvoll, auch sie an ihrer Voraussagekraft zu messen? Zugegeben, in der Politik ist es kompliziert mit den Experimenten. Das macht es schwierig, Voraussagen zu überprüfen.

Nur manchmal können falsche Voraussagen doch zum Nachdenken anregen. Kurz nach dem russischen Angriff schrieb Volodymyr Artiukh, ein linker Intellektueller aus der Ukraine: »Ich habe alles gelesen, was die Linke über den im letzten Jahr eskalierenden Konflikt zwischen den USA, Russland und der Ukraine zu sagen hatte. Die meisten Einschätzungen von Linken lagen grotesk daneben (…). Sie entbehrten jeder Voraussagekraft.«

Auch manche deutsche Linke schienen angesichts ihrer offensichtlichen Fehleinschätzung innezuhalten: »Wir, die Friedensbewegung, linke Gruppen und Parteien und fortschrittliche Publikationen, lagen falsch«, schrieb Winfried Wolf kurz nach dem Beginn des Kriegs, und weiter: »Ein großer Teil der traditionellen Antikriegsbewegung – darunter (…) ich als Person – hat sich getäuscht, als wir bis wenige Stunden vor Beginn des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine davon ausgingen, dass die russische Regierung nicht den Krieg sucht.«

Das Innehalten hielt nicht lange an. Die meisten wollen sich die eigene Theorie von deren mangelnder Voraussagekraft nicht zu sehr erschüttern lassen. Putin habe zwar den Einmarsch befohlen und der sei eindeutig zu verurteilen, ist beim selben Autor zu lesen. Dennoch, so fährt er fort, sei Putin in eine von den USA aufgestellte Falle gelaufen. Bezugssystem gerettet!

»Verabschiedet euch von eurem Äther!«, möchte ich da rufen. Aber ich weiß ja: Naturwissenschaftliche Analogien haben enge Grenzen. In Wahrheit ist alles viel komplizierter.