In Berlin gab es 2021 durchschnittlich knapp drei antisemitische Übergriffe pro Tag

Eine bedrohliche Dimension

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin hat ihren Bericht zu antisemitischen Vorfällen im Jahr 2021 vorgestellt. Die Zahlen und Taten sind erschreckend, vor allem beim israelbezogenen Antisemitismus und bei der Bagatellisierung der Shoah durch Coronaleugner.

Berlin-Mitte, 22. April 2021: Am Denkmal für die ermordeten Juden Europas werden 22 Aufkleber verschwörungsgläubiger Gruppierungen entdeckt und entfernt. Auf ihnen werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie mit der Shoah und dem Nationalsozialismus gleichgesetzt.

Neukölln, 14. Mai 2021: Bei einer israelfeindlichen Kundgebung rufen Teilnehmende antisemitische Parolen wie »Kindermörder Israel« und zur Gewalt gegen jüdische Israelis auf. Am Rande der Versammlung beschimpft ein Mann eine Gruppe von Journalisten als »Juden« und filmt sie.

Westend, 30. September 2021: Beim Fußballeuropapokalspiel zwischen Union Berlin und Maccabi Haifa im Olympiastadion beleidigen Union-Fans einige Unterstützer des israelischen Clubs als »Scheißjuden« und rempeln sie an.

Spandau, 25. Oktober 2021: Ein Passant wird von drei Männern aufgefordert, »Free Palestine« zu rufen. Als er sich weigert, wird er von den Männern getreten und geschlagen. Er erleidet lebensbedrohliche Kopfverletzungen, die Angreifer fliehen. Rettungskräfte bringen den Betroffenen in ein Krankenhaus.

Das sind nur vier Beispiele für antisemitische Übergriffe in der Bundeshauptstadt im vergangenen Jahr. Insgesamt zählte und dokumentierte die Berliner Zweigstelle der bundesweit tätigen Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) 1 052 Fälle, das sind im Durchschnitt knapp drei pro Tag, wie aus dem Jahresbericht 2021 hervorgeht, den das zivilgesellschaftliche Projekt Ende Mai auf einer Pressekonferenz vorstellte. Sie unterteilen sich in zwei Fälle extremer Gewalt, 22 weitere physische Angriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen, 28 Bedrohungen, 895 Fälle verletzenden Verhaltens und 62 Massenzuschriften.

Im Mai 2021 gingen bei Rias Berlin besonders viele Meldungen ein – das war der Monat, in dem die Hamas unzählige Raketen auf Israel schoss.

Mit Sicherheit gab es sogar noch mehr Vorfälle. Rias wird längst nicht jeder Übergriff bekannt. Überdies kann die Organisation die eingehenden Meldungen zu antisemitischen Äußerungen und Handlungen neuerdings nicht mehr mit den Daten abgleichen, die ihr bislang vom Landeskriminalamt übermittelt wurden. Denn der Datenschutzbeauftragte der Berliner Strafverfolgungsbehörden sieht dafür keine Rechtsgrundlage mehr. Deshalb konnte die Meldestelle nicht herausfinden, wie viele der 422 antisemitischen Straftaten, die in der Polizeistatistik zur politisch motivierten Kriminalität für das Jahr 2021 in Berlin erfasst wurden, in den 1 052 von Rias Berlin verzeichneten Vorfällen enthalten sind – und wie viele noch addiert werden müssten.

Trotz dieser Hindernisse liefert der Rias-Bericht ein Lagebild zum Antisemitismus in der Bundeshauptstadt, das aussagekräftiger ist als die Berichte der Behörden. Er ist analytisch genauer und erfasst die Problematik des Anti­semitismus besser, als das etwa beim Verfassungsschutz der Fall ist. Denn Rias registriert auch antisemitische Äußerungen und Taten unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Schließlich beginnt Antisemitismus als gesellschaft­liches Problem nicht erst dort, wo er sich in strafbaren Handlungen manifestiert. Dass es Rias mit seinen mittlerweile bundesweiten Meldestrukturen überhaupt gibt und geben muss, ist auch eine Folge staatlicher Versäumnisse, Verharmlosungen und Verfehlungen.

Erstmals seit ihrer Gründung im Januar 2015 registrierte Rias Berlin zwei Vorfälle, bei denen Gewalt in extremer Form eingesetzt wurde. Neben der erwähnten brutalen Attacke auf einen Mann in Spandau im Oktober 2021 gab es den Beschuss eines jüdischen Gemeindehauses in Berlin-Mitte mit einer Gewehr- oder Pistolenkugel, die am 16. August 2021 unter einem Fenster zum Empfangsraum gefunden wurde. Die Fensterscheibe wurde dabei zerstört, kein Mensch kam zu Schaden. Solche Vorfälle »dokumentieren die potentiell tödliche Gewalt des Antisemitismus«, sagte der Geschäftsführer von Rias, Benjamin Steinitz, auf der Pressekonferenz.

Bei den 22 physischen Angriffen auf Menschen in Berlin handelt es sich um körperliche Übergriffe, Schläge und Tritte in der Bahn, Spuckattacken auf der Straße oder den Einsatz von Reizgas. In 14 Fällen waren die Opfer jüdisch und wurden auch als Jüdin oder Jude ausgemacht, bei den anderen acht Vorfällen wurden die Attackierten während des Angriffs antisemitisch beleidigt. So etwa am 15. Mai 2021 in Neukölln, als drei Personen, die eine Kippa oder eine Halskette mit einem Davidstern-Anhänger trugen, am Rande einer israelfeindlichen Kundgebung aus einer Gruppe heraus, die rund 50 Teilnehmer umfasste, als »Zionistenhure« und »Kindermörder« beschimpft wurden.

Die deutlich meisten antisemitischen Vorfälle bestehen aus verletzendem Verhalten, dazu zählt Rias sämtliche Fälle, »bei denen jüdische Institutionen oder Personen gezielt böswillig oder diskriminierend adressiert werden«, und »schriftliche oder verbale antisemitische Aussagen, die sich gegen nicht­jüdische Institutionen und Personen richten, sowie antisemitische Graffiti oder Aufkleber an nichtjüdischem Eigentum«. Schmierereien auf Schildern, Wahlplakaten oder Parkautomaten etwa, Parolen auf Kundgebungen, Hitlergrüße, Beleidigungen in der U-Bahn. Die schlechte Normalität des Alltags­antisemitismus eben, die eine bedrohliche Dimension hat.

Im Mai des vergangenen Jahres gingen bei Rias Berlin besonders viele Meldungen ein – das war der Monat, in dem die Hamas unzählige Raketen auf Israel schoss und der jüdische Staat militärisch dagegen vorging. Jüdinnen und Juden waren in diesem Zeitraum besonders vielen Anfeindungen ausgesetzt, der israelbezogene Antisemitismus hatte eine weitere Hochphase. 225 antisemitische Vorfälle, nicht zuletzt auf israelfeindlichen Demonstrationen, registrierte Rias Berlin seinerzeit. Mehr waren es in einem Monat nie, seit die Organisation ihre Arbeit aufgenommen hatte.

Insgesamt 375 der 1 052 gemeldeten Vorfälle hatten einen antisemitischen Bezug zum jüdischen Staat, das sind 35,6 Prozent aller verzeichneten Fälle – eine Zahl, die deutlich macht, wie virulent diese Form des Antisemitismus ist. Noch häufiger, nämlich 495 mal oder in 47,1 Prozent der Fälle, kam es zu einem antisemitischen Vorfall mit sogenannten Post-Shoah-Motiven. Dazu zählt vorrangig die Bagatellisierung des Holocaust, wie sie sich in der Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen ausdrückt, etwa durch »Judensterne« bei Demonstrationen von Coronaleugnern oder durch Schilder mit einer Aufschrift wie »Impfen macht frei«. Einmal mehr zeigt sich, dass der Antisemitismus vor allem in Zeiten von Kriegen und Krisen Hochkonjunktur hat.

Bei der Zuordnung der Vorfälle zu einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund fällt auf, dass Rias Berlin 48,8 Prozent davon keiner konkreten politischen Richtung zuweist. Das liegt unter anderem daran, dass die Täter nicht immer eindeutig aus einer bestimmten Szene kommen und ihre Taten in verschiedenen politischen Milieus verortet werden könnten. So sei etwa »das verschwörungsideologische Milieu nicht immer klar von Teilen des rechtsextremen Spektrums« abzugrenzen, heißt es im Bericht. Zahlreiche Elemente der antisemitischen Auseinandersetzung mit der Covid-19-Pandemie würden »spektrenübergreifend verwendet«.

20,2 Prozent der verzeichneten anti­semitischen Vorfälle hatten Rias Berlin zufolge einen klaren rechtsextremen oder rechtspopulistischen Hintergrund. 14,9 Prozent waren demnach verschwörungsgläubig motiviert, 9,6 Prozent werden antiisraelischen Aktivisten zugerechnet. Bei 1,3 Prozent lag eine islamistische Motivation vor, 1,2 Prozent kamen aus dem antiimperialistischen Lager, und 0,8 Prozent rechnet Rias dem christlichen Fundamentalismus zu.

Dass all diese Zahlen nur das sogenannte Hellfeld des Antisemitismus darstellen und die Dimension des Hasses gegen Jüdinnen und Juden deutlich größer ist, liegt auf der Hand. Ein »wild gewordener Datenschützer«, wie ihn das Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses Stefan Förster (FDP) nannte, trägt zusätzlich dazu bei, den Kampf gegen den Antisemitismus zu erschweren. Selbst die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses bekommen keine polizeilichen Informationen mehr zu antisemitischen Straftaten. »Täterschutz« nannte das Sigmount Königsberg, der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, auf der Pressekonferenz.