Politiker nutzen den russischen Angriffskrieg, um Atomenergie zu protegieren

Lass laufen

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges fordern zahlreiche deutsche Politiker, die Laufzeit der letzten deutschen Atomkraftwerke zu verlängern. Zahlreiche Gründe sprechen dagegen, nicht zuletzt Sicherheits­bedenken. Doch sogar über nukleare Aufrüstung wird nun diskutiert.

Putins Krieg gegen die Ukraine war nicht mal einen Tag alt, als er hier­zulande schon als Argument für ein Comeback der Atomenergie genutzt wurde. Nur wenige Stunden nach dem russischen Einmarsch forderte Berthold Kohler, einer der Herausgeber der FAZ, die deutsche Energiepolitik müsse sofort überdacht werden. »Können wir in dieser Lage wirklich auch noch die letzten Atomkraftwerke abschalten?« fragte er, um zwei Tage später zu antworten: Die Ampelkoalition werde in der Energiepolitik »ihre Prämissen und Prioritäten ändern« müssen.

Garniert mit Umfragen über einen angeblichen Meinungsumschwung in der Bevölkerung geisterte das Thema durch die Medien, um alsbald bei einschlägig bekannten Politikern zu landen. Allen voran platzte der bayerische ­Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit dem Vorschlag heraus, die Atomkraftwerke drei bis fünf Jahre länger zu betreiben, um »billigen Strom zu produzieren, der gleichzeitig auch keine Klimabelastung bringt«.

Die noch laufenden drei Kraftwerke tragen nur fünf Prozent der deutschen Stromproduktion bei.

Derzeit laufen noch drei Atomkraftwerke in Deutschland, sie sollen Ende dieses Jahres stillgelegt werden. Atomkraft kann nur Strom erzeugen und nicht dort eingesetzt werden, wo russisches Erdgas besonders dringend ersetzt werden müsste, nämlich beim Heizen oder für industrielle Prozesse. Im vergangenen Jahr, als noch sechs Atomkraftwerke in Betrieb waren, wurden durch Atomkraft nur sechs Prozent des deutschen Primärenergieverbrauchs gedeckt, das entsprach 13 Prozent der inländischen Stromerzeugung. Die noch laufenden drei Kraftwerke tragen nur fünf Prozent der deutschen Stromproduktion bei, wie das Bundeswirtschaftsministerium kürzlich mitteilte.

Trotzdem war die Diskussion nicht mehr zu bremsen. In der FDP forderten der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Andreas Pinkwart, und der niedersächsische Landesvorsitzende der Partei, Stefan Birkner, eine Verlängerung der Laufzeiten für die verbliebenen drei Kraftwerke. Schließlich erklärten sich auch der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz (CDU) und Christian Lindner (FDP) in diesem Sinn, wobei es der Bundesfinanzminister bei der Forderung nach einer Debatte beließ, wohl weil er einstweilen noch nicht gegen den Koalitionsvertrag verstoßen will.

Das Ziel scheint zu sein, dass die Grünen, nachdem sie »schon in der Rüstungspolitik eine 180-Grad-Wende hingelegt haben«, so die Diktion von Alexander Neubacher im Spiegel, nun auch in der Energiepolitik alte Positionen aufgeben sollen. Schließlich seien auch die verbliebenen drei Atomkraftwerke »drei Waffen gegen Putin«, so Neubacher.

Die Angesprochenen versuchten dagegenzuhalten. Der umweltpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Stefan Wenzel, sagte dem Tagesspiegel, es handele sich um eine Phantomde­batte. Forderungen nach einer Laufzeitverlängerung würden nicht zuletzt die rechtlich vorgesehenen Sicherheitsanforderungen ignorieren.

Gleichwohl haben die Ministerien von Robert Habeck (Wirtschaft) und Steffi Lemke (Umwelt), beide Grüne, die Vor- und Nachteile einer Laufzeitverlängerung umgehend geprüft. Sie stellten fest, dass der Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung sehr begrenzt wäre, »und dies zu sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken«.

Es lohnt sich, die ministeriellen Einwände genauer zu betrachten. Dann erfährt man nämlich, dass seit den letzten großen Sicherheitsprüfungen in den AKW schon 13 Jahre vergangen sind. Eigentlich sind solche umfassenden Wartungen im Zehnjahresrhythmus vorgesehen. 2019 wären sie zuletzt fällig gewesen, aber wegen der bevorstehenden Abschaltung hatte man darauf verzichtet. Diese Tatsache müsste vielen peinlich sein. Sie konterkariert die tausendfach gegebene Versicherung, wonach es in Fragen der nuklearen ­Sicherheit keinen Rabatt geben dürfe.

Das nonchalante Vorgehen gibt Anlass zur Frage, ob der laufende AKW-Betrieb überhaupt noch rechtlich zuläs­sig ist. Ein penibler Sicherheitscheck würde womöglich ähnliche Probleme wie in Frankreich ans Licht bringen, dort weisen einige Reaktoren bedenkliche Rohrverschleißerscheinungen an kritischen Stellen auf. Der gesamte franzö­sische Nuklearpark muss sukzessive untersucht werden, bei jedem zweiten Reaktor sind teure und zeitraubende Reparaturen erforderlich. Frankreich ist deshalb auf Stromimporte angewiesen.

Eine Laufzeitverlängerung würden deutsche Energieunternehmen wohl trotzdem gerne mitmachen – wenn der Staat dafür zahlt und die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Für einen Teil der Meinungsmacher und für die zahllosen Militär- und Strategieexperten, die derzeit wie Pilze aus dem ­Boden schießen, sind die Probleme der Energiewirtschaft ohnehin nur untergeordnete Details. Für sie zählt seit dem 24. Februar nur noch der Krieg und wie er für nationale Interessen genutzt werden kann. Sie wollen ihre nuklearen Obsessionen in die Politik einbringen und nennen sie »das Undenkbare«. Obwohl es angeblich nicht gedacht werden kann, weiß jeder, was damit gemeint ist. Das »Undenkbare« ist das Codewort für den deutschen Erwerb von Atomwaffen.

Schon der eingangs erwähnte FAZ-Herausgeber Kohler koppelte seine Forderung nach einer Revision der Energiepolitik mit dem Aufruf, die EU müsse Atommacht werden. Weil es keine Garantie für den sogenannten Schutzschirm der USA gebe und Frankreichs Arsenal zu schwach sei, müsse sich Deutschland mit der nuklearen Frage befassen.

Im Spiegel übersetzte Kolumnist Nikolaus Blome die hochfliegenden Pläne in populäre Sprache. »So darf nicht undenkbar bleiben, dass Deutschland sich atomar bewaffnet.« Und: »Ich denke nicht, dass die dunkle Seite der deutschen Geschichte es politisch erzwingt oder moralisch gebietet, für ewig auf Atomwaffen zu verzichten.« Dass dieser Verzicht eine Bedingung für die deutsche Vereinigung war und vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl bereitwillig eingegangen wurde, kommt in dieser Argumentation schon gar nicht mehr vor. Blome ist konsequent genug, auch den Atomwaffensperrvertrag in Frage zu stellen – passenderweise zu einem Zeitpunkt, wo man den Iran zur Einhaltung desselben bewegen möchte.

Auch Friedrich Merz träumte Anfang Mai von den militärpolitischen Möglichkeiten, die der russische Angriffskrieg für Deutschland eröffnet hat. Der Krieg in der Ukraine könne »ein Quantensprung in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sein – mit eigenen, integrierten Streitkräften, die wir dann auch einsetzen können«, sagte Merz der Rheinischen Post. Bei der atomaren Abschreckung verlasse man sich noch auf die USA. Über eine eigene europäische Nuklearabschreckung »muss jetzt gesprochen und verhandelt werden,« so Merz.

Gern lässt man sich die eigene Meinung von Fachleuten bestätigen, wofür die FAZ einen Spezialisten für Geo­politik namens Maximilian Terhalle gefunden hat. Sein Befund lautet, dass die USA Russland nicht glaubwürdig abschrecken könnten, weil sie ihr ganzes Arsenal für China benötigten. »3 750 US-Sprengköpfe müssen alle großen Städte und Militäreinrichtungen Chinas durch eine Zweitschlag­option auslöschen können«, und da sei Nordkorea noch nicht berücksichtigt. Also müsse die EU »zwingend« einen vergleichbaren eigenen Nuklearschirm errichten, um einen russischen Erstschlag abzuschrecken, falls die USA militärisch in Ostasien »vereinnahmt« seien. Offenbar gibt es bei nichtkonventionellen Waffen auch unkonventionelle Maßstäbe: China besitzt nach Einschätzung des Pentagon derzeit etwa 200 Atombomben. Terhalle will ein Gleichgewicht des Schreckens durch 20fache Überlegenheit herstellen.

Der Geostratege hat auch eine Idee, wie der deutsche Beitrag zur europäischen Nuklearmacht aussehen könnte. Berlin solle in Kiel produzierte U-Boote von Israel atomar bestücken lassen, um sie dann im Mittelmeer zu stationieren. »Und zur Stärkung Polens sollte Berlin taktische amerikanische Nukle­arwaffen aus dem Fliegerhorst Büchel übereignen.« Jeder bekäme, was er will, bei diesem raffinierten Ringtausch, der allerdings antisemitische Züge aufweist. Israel kann gar keine Atombomben exportieren, es würde sich also, wenn überhaupt, um US-amerikanische Waffen handeln. Aber sie sollen natürlich über Jerusalem in deutsche Hände gelangen, ein feines Alibi, das den deutschen Planern zudem erlauben würde, die Verantwortung für die atomare Aufrüstung auf den jüdischen Staat zu schieben. Es wäre ein ganz neuer Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit, einer, bei dem die Nuklearfanatiker laut zum Aufbruch blasen und im Stillen Putin danken würden.

Der Hamburger Autor Günther Jacob gab zahlreiche Hinweise zum Thema.