Bücher über Depressionen haben Konjunktur

Wie schlechtes Wetter

Bücher über Depressionen sind beliebt und erfolgreich, auch die zwei kürzlich erschienenen von Ronja von Rönne und Kurt Krömer gehören dazu. Zur Aufklärung über die psychische Erkrankung und vor allem über ihre Ursachen tragen sie aber nicht bei.

Schwarze Tiere, dunkle Schatten – was mussten Generationen von Schülern, Studentinnen und Rezensenten nicht alles interpretieren, um auf den Geisteszustand eines Autors schließen zu können. Aber üblicherweise versteckten Schriftstellerinnen und Musiker ihre Trübsinnigkeit in einer kunstvoll gestalteten Figur und mit metaphernreicher Sprache.

Die gegenwärtige Schriftstellergeneration ist da aufgeklärter, reflektierter – scheinbar. Niemand muss sich mehr die Mühe machen, sein Gemüt in facettenreiche Figuren und Dialogen zu verpacken. »Du darfst nicht alles glauben, was du denkst«, der Titel des neuen Buchs des Komikers Kurt Krömer, ist ein typisches Beispiel für diese ultimative Selbstreflektiertheit, in welcher der eigene Verstand als etwas Fremdes, Seltsames, mitunter Feindseliges erscheint. Der Untertitel des Buches lautet schlicht »Meine Depression«.

Es hat beinahe etwas Komisches, wie haarscharf sowohl Krömer als auch von Rönne an der Wahrheit vorbeidenken, wenn sie sich in einem regelrechten Strudel von Idealbildern als gescheitert betrachten, aber nicht auf die Idee kommen, dass diese Ideal­bilder fragwürdig sein könnten.

Das Depressionsbuch ist in den vergangenen Jahren zu einer Art Genre geworden. Zu den ersten erfolgreichen Vertretern gehörten ­Sarah Kuttners »Mängelexemplar« (2009), Charlotte Roches »Schoß­gebete« (2011) und Kathrin Weßlings »Drüberleben« (2012). In jüngerer Zeit folgten einige mehr: »Morgen ist leider auch noch ein Tag« (Tobi Katze, 2015), »Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein« (Benjamin Maack, 2020), »Depression« (Zoë Beck, 2021). Auch im englischen Sprachraum werden Bücher über die (eigene) Depression zu Bestsellern, wie etwa Matt Haigs »Reasons to Stay Alive« (2015) beweist, das sich auch in der deutschen Übersetzung (»Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben«, 2016) gut verkaufte.

Allein die Verbreitung von Depressionen zeigt, warum das Thema wichtig ist und bleibt: Nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind in Deutschland etwa acht Prozent der Bevölkerung an der Depression erkrankt, das sind über fünf Millionen Menschen. Psychotherapeuten gehen davon aus, dass sich während der Pandemie dieser Zustand noch verschlimmert hat. Das Interesse an mental health ist aber noch viel schneller gewachsen als die tatsächliche Prävalenz psychischer Beeinträchtigungen.

Und so ist es nur folgerichtig, dass die Schriftstellerin Ronja von Rönne, laut eigenen Angaben ebenfalls an Depression erkrankt, für ihren neuen Roman »Ende in Sicht« zwei Figuren erfunden hat – Juli, jung; Hella, etwas älter –, die zu sterben beschließen. Hella, eine in die Jahre gekommene Schlagersängerin, möchte ihrem ­Leben in der Schweiz ein Ende setzen. Juli ist depressiv, schwankt zwischen Selbsthass und Panikattacken und führt ihren Zustand auf eine kaputte Familiengeschichte zurück.

Die Geschichte im Roadtrip-Format nimmt einen etwas mühsamen Anfang, in dem beide Protagonis­tinnen oft Phrasen dreschen und sich mehr wie Abziehfiguren echter Menschen verhalten. Im Mittelteil gelingt von Rönne jedoch eine kluge Einschätzung der plakativen Pseudotherapiekultur im 21. Jahrhundert: »Sie wusste sehr wohl, wie Schriftsteller, Künstler, Tik-Toker und Wikipedia Depressionen beschrieben: als würde das Leben plötzlich ›an Farbe verlieren‹ und der Alltag ›immer grauer‹ werden. Doch für sie war es viel schlimmer. Es war bunt und leuchtete in allen Farben, nichts war grau, auch an Tagen, die eine solche Einfärbung verdient gehabt hätten.« Tatsächlich ist es die Buntheit des »Lebens der anderen«, die vielen Depressiven größte Schwierigkeiten bereitet – eben weil das Klischee von der »grauen Linse« nicht auf sie zutrifft.

In zahlreichen inneren Monologen gelangt Juli zu vielerlei Mutmaßungen, aber kaum zu Einsichten über sich selbst. Hella hingegen, die nach der in der Schweiz relativ leicht zu erlangenden Sterbehilfe schielt, wirkt kaum manifest depressiv, vielmehr im Wortsinn lebensmüde. Sie begreift das Ende ihrer einst schillernden Karriere als Ende aller sinn­stiftenden Tätigkeit für eine Frau im Rampenlicht.

Ganz falsch liegt sie damit nicht. Was selbst eine erfolgreiche künstlerische Karriere der Seele anzutun vermag, beschreibt Kurt Krömer im autobiographischen Format, und er ist sich der Merkwürdigkeit seines Unterfangens – ein Prominenter schreibt über seinen Geisteszustand – durchaus bewusst. So schreibt er einleitend: »Ich will wirklich nicht als das Leiden Christi durchs Land ziehen und meine Krankheitsgeschichte erzählen, sondern ich möchte mit ­diesem Buch Menschen helfen. Menschen, die sich in meiner Geschichte vielleicht wiederfinden. Ich bin kein Therapeut, ich habe keine therapeu­tischen Fähigkeiten, das hier ist auch kein Ratgeber, das ist einfach meine Geschichte.«

Krömer erzählt seinen Leidensweg vom Stresstrinker zum gestressten Grübler, vom gestressten Grübler zum Kranken. Dabei wird schnell deutlich, dass vor allem das Showbusiness, die ständige Performance und das Jonglieren von Privatleben, Beruf und Freizeit (Krömer hat vier Kinder, von denen er drei allein ­erzieht) der Entwicklung seiner Depression zuträglich waren.

Die in leichtem Ton daherkommende Erzählung krankt manchmal an ihrem zwanghaften Witz – schließlich ist und bleibt Krömer eine kabarettistische Kunstfigur, und das Publikum erwartet (zynischerweise) diese Performance auch in der Autobio­graphie. Krömer weiß aber doch eindrücklich vom Wahnsinn des funktionalen Menschen zu erzählen: »Es galt, keine Schwäche zu zeigen, bloß nicht über Krankheit zu reden. Es durfte niemand wissen, dass Kurt Krömer krank ist, dass er seine Tour krankheitsbedingt absagt.«

Krömers Buch avancierte innerhalb kürzester Zeit zum Verkaufsschlager und befindet sich seit 13 Wochen auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste in der Kategorie »Sachbuch«. Und seine Talksendung »Chez Krömer«, wurde für die Folge, in der Torsten Sträter zu Gast war und in der es auch um Depression ging, kürzlich mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Dass der Voyeurismus des Publikums erheblich zum Erfolg beitragen dürfte, antizipiert Krömer in seinem Buch, aber das sei ihm »egal«, denn schließlich gelte es, Menschen zu helfen. Aber hilft es denn?

Viel zu lange hielt sich der Aberglaube, es handele sich bei Depressionen um ein Minderheitenphänomen, das nur einen bestimmten Schlag Menschen treffen könne, das recht klar umrissen sei und sich mit entsprechend eindeutigen Signalen äußere. Zu welchen fatalen Fehleinschätzungen genau dieses weitverbreitete Klischee über die Depres­sion führen kann, erläutert der Autor selbst: »Ich weiß heute, dass das die Depression war. Aber ich habe über Jahre gedacht, ich bin ein alter, verbitterter Mann, der im Leben nicht klarkommt, der verletzt worden ist und der einfach das letzte Arschloch ist.« Nicht zuletzt ist es die Unaufgeklärtheit, die so manchen bereits in den Suizid getrieben hat – noch im letzten Augenblick denkend, dass er ja rational handle und alles, aber nicht krank sei.

Zu benennen, was eine Phase von einer Krankheit unterscheidet, was also »normal« ist und was nicht, kann im Falle der Depression also Leben retten – weswegen es nie egal ist, wie über sie geschrieben und ­gesprochen wird. Bezeichnend ist aber, dass beide Bücher, das von ­Krömer wie das von Rönne, sowie die Mehrzahl aller anderen Bücher über Depressionen auf dem Markt strikt individuelle Schilderungen bleiben, die so etwas wie Aufklärung bestenfalls pantomimisch betreiben: Es hat beinahe etwas Komisches, wie haarscharf sowohl Krömers Buch-Ich als auch von Rönnes Protagonistinnen an der Wahrheit vorbeidenken, wenn sie sich im Strudel von Erwartungen (des Arbeitgebers, des Publikums, der Familie) und Idealbildern als vollständig gescheitert betrachten, aber nicht auf die Idee kommen, dass diese Erwartungen und Idealbilder an sich fragwürdig sein könnten.

Anstatt festzustellen, dass diese Gesellschaft vielen schlicht zu viel abverlangt und zudem Ruhe, Selbstzufriedenheit und Tiefstapelei sanktioniert werden, als handle es sich dabei um Verbrechen, wird stets die Wirkmächtigkeit des Ich betont: Man kann, man sollte immer etwas tun gegen die fiese Krankheit, die über die Menschen hereinbricht wie schlechtes Wetter – am besten sogar prophylaktisch. Das ist auf eine Art sicher richtig, und doch folgen ­diese Ratschläge derselben Logik, welche viele Depressive erst in ihre ­verheerende Lage gebracht hat: Ich muss »Selfcare« betreiben, ich muss einsatzfähig bleiben, ich muss schnell wieder gesund werden.

Während Rönnes Protagonistinnen schlicht die Trübseligkeit überkommt und Kurt Krömer an einem Punkt in seiner Karriere scheinbar unglücklich »in ein Loch gefallen« ist, werden die Prozesse, die dazu geführt haben, als beiläufige Notwendigkeiten geschildert. Aber ist es denn ausgemacht, dass ein beliebter Comedian nur unter Volldruck erfolgreich sein kann? Ist es so normal und unausweichlich, dass Frauen in ­dieser Gesellschaft ihr Leben vorausschauend evaluieren und schließlich bereits im Teenageralter zu der Einschätzung kommen, dass sie mit all den Erwartungen an eine »erfolgreiche« Biographie nicht mithalten können? Und wann hat man sich dar­an gewöhnt, dass Künstlerinnen ­irgendwann wie zwangsläufig ihren »Glanz« (also ihr jugendliches Aus­sehen) verlieren und dann ausbrennen, Süchten verfallen, abstürzen?

In »Du darfst nicht alles glauben, was du denkst« und »Ende in Sicht« werden diese Fragen nicht gestellt, weil sie bereits geklärt erscheinen. Die Erkenntnis, die aus ihnen zu gewinnen wäre, liegt unter dieser falschen Selbstverständlichkeit begraben. So gesehen sind moderne Depressionsbücher den Klassikern vielleicht gar nicht so unähnlich.

Kurt Krömer: Du darfst nicht alles glauben, was du denkst. Meine Depression. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 192 Seiten, 20 Euro
Ronja von Rönne: Ende in Sicht. DTV, ­München 2022, 256 Seiten, 22 Euro