Brian Milakovsky arbeitete für Entwicklungsprojekte in der Ostukraine und lebte in Sjewjerodonezk

»Städte werden in Trümmerlandschaften verwandelt«

Interview Von Paul Simon

Vor acht Jahren begann im Donbas der Krieg in der Ukraine. Ein Gespräch über die Vorgeschichte der russischen Invasion

Die russische Armee rückt im Donbass Stadt für Stadt vor. Es gibt Bilder immenser Zerstörung, dennoch sind einige Bewohner nicht ge­flohen. Was sind die Gründe dafür?

Es stimmt, einige sind geblieben, aber insgesamt war die Evakuierung sehr erfolgreich. Ich sammele Spenden für Freiwilligengruppen, die Menschen an der Front Hilfe bringen und viele herausholen. Die ukrainische Regierung hat Hunderttausende allein aus dem Donbass evakuiert.

Und warum sind einige geblieben?

Selbst in Sjewjerodonezk, eine der am stärksten zerstörten Städte, sind um die zehn Prozent geblieben. Bei einigen ist es ihre politische Einstellung. Die Freiwilligen erzählten mir, dass Leute ihnen sagten: »Wir warten darauf, dass unsere Jungs endlich hier sind«, während die Artillerie schon überall einschlug. Wie man in einem Bunker sitzen kann, während die russische Armee die ganze Stadt zerstört, und immer noch Sympathien für Russland empfinden kann, ist mir ein Rätsel, aber das gibt es. Andere haben einfach Angst zu fliehen. Einige der Evakuierungsbusse wurden von Artillerie getroffen.

»Mariupol hat sicher nicht danach gerufen, unter russische Kontrolle zu kommen. Und dafür hat Russland die Stadt bestraft.«

Was für eine Stadt ist Sjewjero­donezk?

Es fällt schwer, noch im Präsens über Sjewjerodonezk zu sprechen, 90 Prozent aller Gebäude sollen zerstört sein. Ich habe dort sechs Jahre lang gelebt und eine Familie gegründet. Es war eine typische sowjetische Fabrikstadt für Arbeiter des Chemiewerkes Azot. Die Front war nie mehr als 25 oder 30 Kilometer entfernt, aber man hatte nicht das Gefühl, im Krieg zu leben, obwohl man oft Artillerie hörte.

Sjewjerodonezk war die neue Oblast-Hauptstadt, weil die Stadt Luhansk ­unter russischer Kontrolle geraten war. Viele Binnenflüchtlinge siedelten sich an. Es war keine sehr aufregende Stadt, aber sie starb auch nicht aus, sie entwickelte sich. Der Krieg hatte die regionale Wirtschaft stark geschädigt, aber einige Städte wie Sjewjerodonezk, Kramatorsk und Bachmut, die auf der ukrai­nischen Seite lagen, wurden dynamischer. Und besonders Mariupol. Das war einfach eine so coole Stadt, sie hat sich sehr gut entwickelt, bevor sie jetzt zerstört wurde.

Warum hat sich Mariupol gut entwickelt?

Der Schwerindustrie ging es gut, anders als in den von Russland kontrollierten Gebieten, wo unter anderem ein fast koloniales Missmanagement und die von der Ukraine verhängte Wirtschaftsblockade die Industrie ruinierten. Mariupol hat auch wie andere Städte in der Ostukraine von der Dezentralisierungsreform nach dem Euromaidan pro­fitiert. Die Verwaltung der Stadt lag in der Hand des Teams des Oligarchen Rinat Achmetow. Das hat vielen nicht gefallen, aber sie waren kompetent. Die Stadt sah phantastisch aus, es gab Optimismus, sie war ein Erfolg in der Ukraine. Sie hat sicher nicht danach gerufen, unter russische Kontrolle zu kommen. Und dafür hat Russland die Stadt bestraft.

Warum hat Russland in der Indus­trieregion Donbass den Krieg ­begonnen?

Für die russische Führung ist das angestammtes russisches Territorium, und der Donbass hat einen bedeutenden Anteil an Menschen, die das auch so sehen, sogar heute noch. Ich habe mich in den vergangenen Wochen heftig mit einigen Menschen gestritten, die ich aus Sjewjerodonezk kenne und die beispielsweise eine Massen-E-Mail geschickt haben, in der sie sinngemäß sagten: Wenn ihr nicht die Nazis unterstützt hättet, dann hätte Russland nicht kommen und die Ukraine bestrafen müssen. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der das immer noch so sieht.

Also gab es 2014 auch Unterstützung für die Separatisten?

Viele Menschen im Donbass waren damals angesichts des Sieges des Euromaidans, der Umfragen zufolge hier nur um die 20 bis 30 Prozent Unterstützung hatte, sehr beunruhigt. Russland hat diese Leute weiter aufgewiegelt und sie als Hilfstruppen für seine Invasion instrumentalisiert. Viele haben sich am Separatismus beteiligt, sei es in der Verwaltung oder als Soldaten, wie auch heute die Männer aus den sogenannten Volksrepubliken der russischen Armee als Kanonenfutter dienen. Viele von uns vermuteten bei den Separatisten damals wahrscheinlich mehr autonome Handlungsfreiheit, als sie tatsächlich hatten, obwohl wir wussten, dass sie aus Russland bewaffnet wurden. Heute spreche ich von Hilfstruppen der russischen Armee.

Was waren die Gründe, aus denen Menschen im Donbass den Euromaidan ablehnten?

Der Euromaidan war ein enormer gesellschaftlicher Konflikt, der die große Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der Ukraine und der Regierung Wiktor Janukowytschs an die Oberfläche brachte. Viele verschiedene politischen Kräfte gingen auf die Straße. Das waren viele liberale und selbst einige linke Bewegungen, aber auch Kräfte, die vielen im Osten der Ukraine nicht geheuer waren. Nationalisten, von moderat bis furchteinflößend. Ich bin jüdisch, meine Vorfahren lebten im Grenz­gebiet von Belarus und Litauen. Bezüge zum extremen Nationalismus des mittleren 20. Jahrhunderts lösen in mir auch Abscheu aus. Und das war es im Grunde, was viele Menschen im Donbass sahen, wenn sie auf den Maidan blickten.

Aber wurde ihnen nicht eine pro­pagandistische Version der Maidan-Bewegung gezeigt?

Schon, ja. Ich lebte damals in Russland, wo die Medien ein sehr verengtes und inszeniertes Bild zeigten. Die Regierung wollte, dass die Leute nur ganz bestimmte Aspekte der Bewegung wahrnahmen, und so war es auch im Donbass. Aber sie sahen da Dinge, die sie wirklich beunruhigten. Und viele lehnten es ab, dass Janukowytsch gestürzt ­wurde. Er war zwar schon vor dem Maidan sehr un­beliebt, selbst im Osten, wo immer seine politische Basis gewesen war. Aber das heißt nicht, dass die Leute wollten, dass er von einer politischen Koalition gestürzt wird, für die sie selbst nie gestimmt hätten.

Auch wirtschaftliche Fragen spielten eine Rolle. Für Regionen mit Schwerindustrie aus der Sowjetzeit kann die In­tegration in den EU-Markt sehr problematisch sein. Und daraus wurde Gruselpropaganda gemacht: »Sie werden alle unsere Bergwerke und Fabriken schließen.« Eine Mehrheit im Donbass hat den Euromaidan abgelehnt, obwohl es auch Maidan-Proteste in Donezk und Luhansk gab.

In welchem Maß gingen die separatistischen Bestrebungen 2014 auf ­lokale Initiative zurück?

Ich bemühe dafür eine Metapher: Nach dem Euromaidan lag im Donbass überall trockener Zunder herum. Viele waren wütend. Hätte da ein lokaler separatis­tischer Agitator ein Streichholz hineingeschmissen, hätte es gebrannt, aber die ukrainische Regierung hätte das Feuer kontrollieren können. Russland aber hat diesen trockenen Zunder genommen, Propaganda, Söldner, Freiwillige, militärische Berater, Waffen und schließlich russische Soldaten darauf geworfen, ihn also mit Benzin übergossen und angezündet.

Die Unzufriedenheit allein hätte ohne die russische Intervention nie diesen Großbrand ausgelöst, aus dem ein acht Jahre langer Krieg wurde. Es fing damit an, dass sie Igor »Strelkow« ­Girkin, Reserveoffizier des russischen Inlandsgeheimdienstes, der schon an der Annexion der Krim beteiligt gewesen war, in den Donbass schickten, um die erste bewaffnete Erhebung anzuführen. Also ja, viele waren wütend, einige waren bereit, zu den Waffen zu greifen, aber diese quasistaatlichen Strukturen wären ohne Russland nie entstanden.

Die ukrainische Regierung reagierte, indem sie ihrerseits Armee und Freiwilligenbataillone mobilisierte. Wie denken Sie heute darüber?

Zunächst muss man sagen, dass das eine verzweifelte Verteidigung gegen einen viel größeren Gegner war, der im Hintergrund stand und die Souveränität der Ukraine angriff. Im Kern war das ein Krieg, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat. Als ich 2015 in den Donbass kam, war gerade das Minsker Abkommen unterzeichnet worden und die Phase der sehr intensiven Kämpfe vorbei. Ich sah überall traumatisierte Menschen. Selbst auf der von der ukrainischen Regierung kontrollierten Seite waren viele wütend über diese heftige Militäroperation. Sie sahen beide Kriegsparteien mit Verbitterung, auch die ukrainische Armee. Da spielte auch Ideologie eine Rolle, aber viele waren einfach traumatisiert. Mit etwas Abstand, und nachdem sie mehr darüber gelernt hatten, wie Russland den Krieg führte, hat sich bei vielen die Sicht auf die ukrainische Regierung wieder gemildert.

Und was dachten die Menschen auf der separatistischen Seite?

Dort war die Entfremdung noch größer, und sie ist es bis heute. Über die Gewalt, die viele Zivilisten in den von Russland kontrollierten Gebieten aufgrund der ukrainischen Militäroperation durchlitten, ist nie so offen in der Ukraine diskutiert worden, wie man es hätte tun müssen. Zum Teil, weil die Ukraine ihr eigenes nationales Trauma durchlitt. Für jede Gesellschaft ist es schwer, gegen eine Invasion anzukämpfen und gleichzeitig darüber zu reflektieren, welchen Schaden das eigene Militär anrichtet.

Viele Menschen im Donbass hatten aber das Gefühl, dass das, was sie acht Jahre lang durchgemacht haben, für die meisten anderen Ukrainer unsichtbar blieb. Doch nichts von alldem wäre überhaupt passiert, wenn Russland nicht diesen bewaffneten Aufstand ausgelöst und seine Truppen in die Ukraine geschickt hätte. Das ändert nichts an der Wut, die viele Menschen fühlten, aber es ist ein wichtiger Kontext.

In der russischen Propaganda heißt es oft, die ukrainische Armee hätte die Städte des Donbass bombardiert. Was ist da dran?

Die meisten Städte waren unter russischer Kontrolle. In den Worten eines der separatistischen Anführer: »Unsere Strategie ist es, unsere Städte als na­türliche Festungen zu benutzen.« Es gibt auch Fälle, in denen viel darauf hindeutet, dass Russland false flag-Angriffe durchgeführt hat. Aber einige Ukrainer sagten dann, es sei alles »Selbstbeschuss« gewesen. Das ist offensichtlich ein Abwehrmechanismus. Man kommt nicht um die Tatsache herum, dass bei den Kämpfen Schätzungen der UN zufolge ungefähr 80 Prozent aller zivilen Opfer auf der separatistischen Seite gestorben sind (bis Februar 2022 starben im Donbass-Krieg Schätzungen zufolge etwa 3 100 ukrainische Zivilisten, 283 Passagiere des Flugzeuges MH17 sowie 4 150 ukrainische und 5 700 se­paratistische oder russische Soldaten, Anm. d. Red.).

Das wurde in der Ukraine einfach nicht so anerkannt, wie viele Menschen im Donbass es erwarteten. Einzelne in der ukrainischen Zivilgesellschaft sagten sogar, dass die Menschen im Donbass es nicht anders verdient hätten, weil sie den Separatismus unterstützten – es war nicht schwer, solche Meinungen zu finden. Nach 2015 starben viel weniger Menschen, aber in einigen Jahren immer noch zwischen 25 und 100, oft durch Minen – genug Leiden, um die Wunde offen zu halten. Das ist ein Grund, aus dem ich immer für den Minsker Friedensprozess eintrat, so miserabel der auch war, weil das zumindest die Gewalt reduzierte und die Hoffnung darauf bot, diese Traumata und den gegenseitigen Hass zu überwinden.

Russland nennt jetzt den Schutz der Menschen im Donbass als einen der Gründe für die Invasion.

Das ist die zynischste Reaktion, die man sich vorstellen kann, denn ohne die russische Invasion von damals wäre all das nie passiert. Abgesehen von einer kleinen Minderheit hat sich die russische Gesellschaft nie ihrer eigenen Verantwortung für diesen Krieg gestellt, oder der Tatsache, dass russische Soldaten ebenfalls Zivilisten getötet haben. Russland hätte diesen Krieg jederzeit beenden können. Jetzt stellt es sich hin und und sagt in empörtem Tonfall: »Wo wart ihr die vergangenen acht Jahre, als die Ukraine den Donbass beschossen hat?« Das ist der Gipfel des Zynismus.

Die russische Propaganda hat Teile der russischen Öffentlichkeit derart auf selbstgerechte Vergeltung getrimmt, dass sie über die viel größere Gewalt des jetzigen Einmarsches hinwegsehen oder sie sogar feiern können. Städte, die man angeblich befreit, werden in Trümmerlandschaften verwandelt. Vielen Unterstützern der Invasion geht es auch schlicht um Rache. Das sieht man oft bei Separatisten oder russischen Propagandisten: Wir rächen die Kinder des Donbass. Auf der Rakete, die am 8. April vor dem Bahnhof von Kramatorsk einschlug und 59 Zivilisten tötete, soll »Für die Kinder« gestanden haben.

Kann man die russische Verwaltung der sogenannten Volksrepubliken als eine koloniale bezeichnen?

Sie waren kein legaler Teil der russischen Wirtschaft. Stattdessen wurden vor allem industrielle Grundprodukte wie Kohle oder Roheisen nach Russland geschmuggelt, wobei die, die das System verwalteten, einen großen Teil der Profite kassierten. Zurück bekamen die Volksrepubliken gerade genug Geld, um nicht zu verhungern. Und die ukrainische Blockade machte es unmöglich, Güter anders als über Russland zu exportieren.

Wie war die politische Situation?

Republiken waren das nur dem Namen nach. Der Teil der Bevölkerung, der den Separatismus unterstützt hatte, wollte zu Russland gehören, statt in solchen international nicht anerkannten Pseudostaaten zu leben. Das heißt nicht, dass sie sich nicht mit den Herrschenden identifizieren konnten, aber Wahlen gab es nie. Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister wurden ernannt, die Führung direkt von Moskau eingesetzt. Die Verwaltung war inkompetent und korrupt, vor allem im Wirtschaftsbereich.

»Schätzungen der UN zufolge waren ungefähr 80 Prozent aller zivilen Opfer auf der separatistischen Seite gestorben.«

Wegen des wirtschaftlichen Niedergangs gab es 2020 und 2021 eine Welle von Streiks, was bemerkenswert ist in Polizeistaaten, in denen die Leute den Militärbehörden im Grunde ausgeliefert sind. Einige der Anführer dieser Streiks verschwanden in den Gefängnissen, in denen seit acht Jahren Menschenrechte verletzt werden. Die Menschen waren frustriert. Sie blickten immer noch nach Russland, aber Russland hatte nie vor, diese Gebiete zu ­annektieren, obwohl es das nie offen gesagt hätte. Der Plan war, die Volks­republiken zurück in den ukrainischen Staat zu rammen, wo sie als Einfluss­instrument Russlands dienen sollten.

War das von Anfang an das Ziel Russlands?

Wohl nicht, aber als 2014 klar wurde, dass der Separatismus auf den Donbass beschränkt bleiben würde und sie ohne eine große Invasion nicht die Kontrolle über den gesamten Südosten der Ukraine gewinnen würden, entschied sich die russische Führung für ein ­Modell wie das der Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina, nur in viel größerem Maßstab: ein Staat im Staate, mit dem man Einfluss ausüben könnte.

Die Reintegration des Gebietes der sogenannten Volksrepubliken war eines der Ziele des Minsker Abkommens, das die Ukraine nach ihren militärischen Niederlagen gegen die russische Armee 2015 unterzeich­nete. Denken Sie aus heutiger Sicht, dass es ein Fehler war, den russischen Forderungen nicht nachzugeben, die im Donbass geschaffenen Fakten hinzunehmen?

Die Ukraine hatte damals eine schreckliche Wahl zwischen einem großen Krieg und einem miserablen Frieden. Ich habe mich lange für den miserablen Frieden eingesetzt, weil ich eine Rückkehr der Gewalt der Jahre 2014 und 2015 befürchtete. Es kam sogar noch schlimmer. Hätte die Ukraine also mehr tun sollen, um dieses Angebot eines ­miserablen Friedens zu ergreifen?

Man hätte etwa stärker versuchen können, aus ukrainischer Sicht zu de­finieren, was ein akzeptables Ergebnis des Minsker Prozesses hätte sein können. Die Ukraine und Russland gingen von einem jeweils ganz unterschiedlichen Verständnis des Abkommens aus: In Kiew dachte man an ein Gesetzespaket, das den Bewohnern dieser Gebiete besondere Rechte verleihen würde, was beispielsweise Sprachpolitik, lokale Verwaltung und externe Wirtschaftsbeziehungen betrifft. In Moskau wollte man, dass diese Quasistaaten fast so, wie sie waren, in die Ukraine eingefügt würden. Das hätte tiefgehende Folgen für die Souveränität der Ukraine gehabt. Selbst die Streitkräfte der »Volksrepubliken« hätte Russland womöglich als »Volksmilizen« erhalten wollen, von denen im Minsker Abkommen die Rede ist. Und zwischen diesen unvereinbaren Positionen hat sich sieben Jahre lang im Grunde nichts bewegt.

Also waren die Gründe der ukrai­nischen Seite, nicht auf die russischen Forderungen einzugehen, verständlich?

Es war zum Beispiel verständlich, dass die Ukraine sich weigerte, wie von Russland gefordert, mit den Vertretern der »Volksrepubliken« zu verhandeln, denn das Minsker Abkommen sah nur Konsultationen mit den Bewohnern dieser Gebiete in bestimmten Fragen vor. Aber der ukrainischen Seite widerstrebte auch, überhaupt, und sei es abseits dieser festgefahrenen Verhandlungen, zu formulieren, wie ein möglicher Deal aussehen könnte. Es gab wohl die Annahme, dass die Gefahr eines großen Krieges vorüber war und dass es möglich sein würde, in diesem Zustand des Krieges mit geringer Intensität zu verbleiben, bis sich auf russischer Seite grundsätzlich etwas ändern würde.

Ich frage mich, ob die ukrainische Seite, wenn ihr klar gewesen wäre, dass Putin bereit war, den großen Krieg doch noch zu beginnen, sich mehr bemüht hätte, in den Verhandlungen irgendein akzeptables Ergebnis zu erreichen. Nicht, weil das Minsker Abkommen gerecht war – es war immer das Angebot des Aggressors –, sondern weil die Alternative noch schlimmer gewesen wäre. Aber gleichzeitig muss man fragen, was Putin denn mit dem Minsker Abkommen letztlich bezweckt hat, wenn die Alternative dazu dieser unfassbar brutale Angriff auf die ganze Ukraine gewesen ist. Wenn diese Gewalt so nah unter der Oberfläche drohte, war ihre Entfesselung vielleicht immer das Ziel gewesen? Die Wurzel des Elends bleibt der russische Imperialismus.

Wie bewerten Sie die Politik des Westens?

Viel zu lange haben die westlichen Staaten viel mehr davon geredet, die Uk­raine in die eigenen politischen und Sicherheitsstrukturen aufzunehmen, als es diese Staaten tatsächlich vorhatten. Das hat die Hoffnungen der ukrainischen politischen Führung verstärkt und gleichzeitig Russland provoziert, denn Russland wollte diese Bestrebungen unterbinden, letztlich mit Gewalt. Aber Schutz haben die westlichen Absichtserklärungen der Ukraine nicht geboten. Der Westen hätte kaltblütiger sein und offen erklären sollen, dass er diesen Konflikt mit Russland nicht will, und die Erwartungen der Ukraine dämpfen können – oder aber er hätte sich ernsthaft daranmachen können, diese Erwartungen tatsächlich zu erfüllen. Aber der Mittelweg – starke Rhe­torik, wenig tatsächliche Integration – war die schlimmste Strategie.

 

Brian Milakovsky

Brian Milakovsky arbeitete seit 2015 im Bereich der ­humanitären und Entwicklungshilfe im ukrainischen Donbass. Er ist für die private Entwicklungsgesellschaft DAI in den USA tätig und veröffentlichte Texte in Foreign Affairs, Open Democracy und beim Kennan Institute des Wilson Centers.