Der deutschen Exportindustrie droht eine Krise

Schluss mit Überschuss

Erstmals seit über 30 Jahren verzeichnete Deutschland eine negative Handelsbilanz. Dem exportfixierten deutschen Wirtschaftsmodell droht eine Krise.

»Exportweltmeister« war einmal: Im Mai verzeichnete die deutsche Handelsbilanz zum ersten Mal seit 1991 ein Defizit, wenn auch nur in Höhe von knapp einer Milliarde Euro. Die erfolgsverwöhnte deutsche Industrie, die seit den neunziger Jahren für (fast immer große) Handelsüberschüsse gesorgt hatte, steht offenbar vor großen Pro­blemen.

Zwei Faktoren waren dabei entscheidend: Die rapide steigenden Preise für Energieträger und Rohstoffe sowie die weiterhin gestörten globalen Lieferketten, aufgrund derer Unternehmen in Deutschland Komponenten für die ­Fertigung fehlen und Preise für Importe steigen. So sind die Kosten für Importe im Vergleich zum Vorjahresmonat um 27,8 Prozent auf 126,7 Milliarden Euro gestiegen sind, während die Exporte nur um 11,7 Prozent auf 125,8 Milliarden Euro zunahmen. Im Vergleich mit dem April wird der neue Trend noch deutlicher: Der Wert der deutschen Exporte legte nur um 0,5 Prozent zu, der der Importe hingegen um 2,7 Prozent.

Erhalt und Expansion der deutschen Industrie gingen auf Kosten anderer Länder, in denen die Deindus­trialisierung enorme Ausmaße annahm und Arbeitslosigkeit sowie Verschuldung stiegen.

Deutschlands Unternehmensver­treter scheinen sich darauf einzustellen, dass die Ära der hohen deutschen ­Handelsüberschüsse, die schon pandemiebedingt zwischen 2019 und 2021 von 224 auf 173 Milliarden Euro jährlich gesunken waren, an ihr Ende zu kommen droht. Volker Treier, beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) für die ­Außenwirtschaft zuständig, sprach Anfang Juli von ­einem längerfristigen »Exportabschwung«. Ein Ende der Preissteigerungen und Lieferkettenprobleme sei nicht in Sicht. Der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) kommentierte, dass die »Folgen des russischen Angriffskriegs und die Störungen in den internationalen Lieferketten« in der deutschen Handelsbilanz noch »wesentlich stärkere Spuren hinterlassen« würden, insbesondere wenn »es zu einem Abbruch der Gaslieferungen aus Russland« käme.

Zeitungen wie die der Tagesspiegel sahen aufgrund des Handelsdefizits eine »folgenschwere Trendwende« eingeleitet, die das »deutsche Wohlstandsmodell« gefährde. Wirtschaftsjournalisten der Welt fragten gar, ob der »Abstieg Deutschlands« eine »soziale Krise« nach sich ziehen werde.

In der Tat beruhte der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert darauf, dass die seit über 60 Jahren erzielten Außenhandelsüberschüsse in dieser Zeit besondere Höhen erklommen. Für viele andere Länder war das verheerend, denn den hohen deutschen Handelsüberschüssen, die oft mehr als 200 Milliarden Euro erreichten, 2017 sogar noch 247 Milliarden Euro, entsprechen ebenso große Defizite in den Importländern. In der ideologisch geführten ökonomischen Debatte in Deutschland wird dieser ­Zusammenhang allgemein ignoriert, doch dass sich in den Außenhandelsbilanzen Überschüsse und Defizite global ausgleichen müssen, sollte jedem einleuchten. Der Wohlstand Deutschlands – dessen Ungleichverteilung ­übrigens immer ausgeprägter wird – basierte also de facto auf dem Export von Schulden in die Zielländer der deutschen Exportoffensive.

Es gilt hierzulande als großer Erfolg, dass Deutschland immer noch eines der führenden Industrieländer ist. Erhalt und Expansion der deutschen Industrie gingen auf Kosten anderer Länder, in denen die Deindustrialisierung enorme Ausmaße annahm und Arbeitslosigkeit sowie Verschuldung stiegen. Die gewaltigen Ausfuhren der deutschen Industrie hatten im Niedergang der konkurrierenden Industrie beispielsweise in Südeuropa ihre Kehrseite.

Auch die Auseinandersetzungen ­zwischen der Bundesregierung und dem US-Präsidenten Donald Trump, der seinen Wählern versprochen hatte, das gewaltige Handelsdefizit der USA zu reduzieren, resultierte aus diesem Zusammenhang. Trump war 2016 mit dem Versprechen angetreten, den im Abstieg befindlichen Teilen der US-­Gesellschaft durch die Rückverlagerung von Industrieproduktion in die USA wieder zu Wohlstand zu verhelfen, sei es durch Protektionismus oder durch Druck auf die großen Überschussländer China und Deutschland, das sich obendrein die relative Schwäche des Euro im Vergleich zum Dollar zunutze machte. Während er der deutschen Autoindus­trie mit Zöllen drohte, verhängte seine Regierung Importzölle gegen China, die von der derzeitigen US-Regierung ­unter Joe Biden bezeichnenderweise nicht zurückgenommen wurden.

Diese protektionistischen Tendenzen und handelspolitischen Konflikte, ­denen währungspolitische Abwertungswettläufe vorangingen, sind Folge der Systemkrise des Kapitals, dem ein neues Akkumulationsregime fehlt, bei dem massenhaft Lohnarbeit in der Warenproduktion profitabel auf dem ­global gegebenen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte. Stattdessen befinden sich konkurrierende Kapitale in einem immer härteren Kampf darum, sich die Auswirkungen der Krise so gut wie möglich vom Leibe zu halten. Diese Systemkrise äußert sich konkret in einer schneller als die Weltwirtschaft wachsenden globalen Verschuldung, die inzwischen mit 296 Billionen US-Dollar 350 Prozent der Weltwirtschaftsleistung beträgt. Das hyper­poduktive System läuft sozusagen auf Pump.

Die Krisenkonkurrenz zwischen den Wirtschaftsstandorten, bei der die Bundesrepublik so erfolgreich war, lief somit darauf hinaus, den Verschuldungszwang mittels Handelsüberschüssen auf andere Volkswirtschaften ab­zuwälzen. Dabei waren die hohen deutschen Handelsüberschüsse eine Folge der Einführung des Euro und der sogenannten Agenda 2010. Die deutsche Leistungsbilanz, bei der neben dem Warenhandel auch die Dienstleistungen berücksichtigt werden, war in den neunziger Jahren noch ausgeglichen, sie wies nur relativ überschaubare Überschüsse aus. Erst die Einführung des Euro brachte die riesigen deutschen Handelsüberschüsse mit sich, insbesondere gegenüber den anderen Ländern der Euro-Zone. Denn die Einheitswährung verhinderte, dass Euro-Länder mit Währungsabwertungen auf die rasch zunehmenden deutschen Handelsüberschüsse reagieren konnten, während die Hartz-Gesetze dafür sorgten, dass die Ware Arbeitskraft in Deutschland abgewertet wurde.

Diese Strategie des bald so genannten Exportweltmeisters war nur durch die entsprechende Anhäufung von letztlich Staatsschulden vor allem in der südlichen Euro-Zone möglich. Die dabei entstandenen Spekulations- und Schuldenblasen platzten 2008. Nach Ausbruch der Euro-Krise konnte Deutschland – mittels des von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) verkörperten Austeritätsdiktats – deren soziale Folgen auf die Krisenländer in der südlichen Peripherie des Währungsraums abwälzen. Zugleich fand aufgrund der strukturellen Unterbewertung des Euro in Relation zur Leistungsfähigkeit der deutschen Indus­trie eine geographische Neuausrichtung der deutschen Handelsströme statt.

Während die Krise in Südeuropa die dortige Nachfrage nach deutschen Gütern schwächte, wuchsen die deutschen Handelsüberschüsse beim Export ins außereuropäische Ausland rasch. Die Euro-Zone, die anfänglich eine ausgeglichene Handelsbilanz aufwies, erwirtschaftete nach der Euro-Krise, nachdem der Währungsraum mittels Austeritätspolitik und innerer Abwertung zum »deutschen Europa« zugerichtet worden war, wachsende Handelsüberschüsse. Doch auch damit ist es jetzt vorbei: Das saisonbereinigte Handelsdefizit der Euro-Zone stieg dem Statistikamt Eurostat zufolge im vergangenen April von 13,9 Euro im Vormonat auf 31,7 Milliarden Euro. Es sei das mit Abstand höchste Defizit im Außenhandel seit Bestehen des Währungsraums.

Das ist der systemische Grund der Krise der deutschen Exportindustrie: Über die zwei Jahrzehnte, in denen die globale Verschuldung von weniger als 200 auf über 350 Prozent der Weltwirtschaftsleistung anstieg, konnte Deutschland per Exportüberschuss die prozessierende Krise noch auf andere abwälzen, doch nun droht sie auch das ökonomische Zentrum der Euro-Zone zu erfassen. Auch die stabile Haushaltslage der vergangenen Jahre, samt niedriger, mitunter negativer Zinsen für ausgegebene Anleihen, beruhte auf dem jahrelangen Schuldenexport, was es der deutschen Regierung ermöglichte, Hunderte Milliarden Euro zu mobilisieren, um die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie und des russischen Angriffskriegs abzufedern.

All das steht jetzt auf dem Spiel, auch wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) weiterhin verspricht, an der sogenannten Schuldenbremse festzuhalten. Immerhin dürfte damit in der deutschen Öffentlichkeit die wirtschaftschauvinistische Rhetorik gegenüber den Schuldnerländern der ­Euro-Zone verstummen, mit der der größte Schuldenexporteur Europas sich über die Schuldenberge empört, die er selbst die anderen Ländern aufzuhäufen zwingt.

Dies dürfte aber die einzige positive innenpolitische Folge des befürchteten »Exportabschwungs« sein, sollte sich diese Krisentendenz verstetigen. Die deutschen Funktionseliten werden ­vermutlich auf die Exportkrise auf dieselbe brutale Art reagieren, wie sie mit den Hartz-Gesetzen den Außenhandelsboom eingeleitet hatten: Durch die weitere Abwertung der Ware Arbeitskraft im Inneren könnte die Handelsbilanz wieder ins Positive gedrückt werden, um das in die Krise geratene Akkumulationsmodell Deutschlands zu verteidigen. Zudem dürfte das Ende des Exportbooms der extremen Rechten und der Euroskepsis in der Bundesrepublik wieder Auftrieb verschaffen, falls sich die Eurozone sich von einem Wettbewerbsvorteil zu einem bloßen Kostenfaktor wandelt und die Sorge um ein exportförderndes Image der Bundesrepublik im Ausland in den Hintergrund tritt.