Nach dem Massensterben von Fischen ist das Ökosystem der Oder auf Jahre hinaus geschädigt

Das große Sterben

Im deutsch-polnischen Grenzfluss Oder ist es zu einem massenhaften Fischsterben gekommen. Ausmaße und Ursachen sind Gegen­stand andauernder Untersuchungen.

Gegen Ende Juli begannen sich die Fischkadaver an den Ufern der Oder zu häufen. Ihre Zahl stieg danach weiter rasant; in den ersten zehn Augusttagen waren es bereits zehn Tonnen toter ­Fische. Am 13. August wurden allein im brandenburgischen Landkreis Märkisch-Oderland 20 Tonnen geborgen. Inzwischen sind es auf deutscher und polnischer Seite insgesamt über 300 Tonnen.
Dem Massensterben sind jedoch nicht nur Fische zum Opfer gefallen. Auch andere im Wasser lebende wechselwarme Tiere wie Krebse und Muscheln sowie Insektenlarven verendeten in großer Zahl. Ob auch Tiere gefährdet sind, die die Fischkadaver essen, ist noch nicht abschließend geklärt. Es deutet jedoch vieles darauf hin, dass für die Vögel und Fischotter, die an der Oder leben, keine direkte Gefahr besteht. Zwar hatten Ornithologen Ende August zwei tote Kormorane und fünf tote Enten gefunden, ein Zusammenhang konnte jedoch nicht nachgewiesen werden.

Nun, da die toten Fische verwesen, droht allerdings eine Katastrophe nach der Katastrophe. Der World Wide Fund for Nature (WWF) wies vergangene Woche in einer Pressemitteilung darauf hin, dass zusätzlich zu den deutlich erhöhten Salz- und pH-Werten im Flusswasser durch die Zersetzung der Tierkörper die Ammoniakkonzentration steigt und der Sauerstoffgehalt sinkt. Es sei daher unerlässlich, dass so viele Fischkadaver wie möglich geborgen werden, so die Tierschutzorganisation.

Schätzungen des Instituts für Binnenfischerei zufolge sind 25 bis 50 Prozent der Fischpopulation in der Oder verendet. Demnach dürfte es zwei bis vier Jahre dauern, bis sich die Bestände wieder erholen. Für die zwölf Fische­reibetriebe, die im Jahresdurchschnitt rund 50 bis 60 Tonnen Fisch in der Oder fangen und damit den Großteil ihrer Einnahmen erzielen, ist das eine Hiobsbotschaft, zumal es in den kommenden Jahren überproportional viele Jungtiere geben wird. Die Folgen für den Tourismus in der Region dürften ebenfalls erheblich sein. Obgleich das genaue Ausmaß der Katastrophe noch nicht absehbar ist, muss man davon ausgehen, dass das Ökosystem der Oder auf Jahre hinaus geschädigt wurde.

Noch immer ungeklärt ist zudem, was das Massensterben verursacht hat. Wahrscheinlich sind mehrere Faktoren zusammengekommen. Der außergewöhnlich heiße und trockene Sommer hat zu hohen Wassertem­peraturen und niedrigen Pegelständen geführt, was das Massensterben zwar nicht erklären kann, es aber doch begünstigt haben dürfte.

Die polnische Wasserbehörde meldete vergangene Woche, sie habe 282 illegale Wasserzuflüsse in die Oder entdeckt.

Die erhöhten Salzfrachten der Oder fielen zuerst ins Auge. Diese allein können das Fischsterben aber auch nicht verursacht haben. Der brandenburgische Umweltminister Axel Vogel (Bündnis 90/Die Grünen) sagte dem RBB Mitte August, bereits in den vergangenen Jahren seien erhöhte Salzwerte gemessen worden. Es wird jedoch angenommen, dass die enorme Belastung durch gelöste Salze eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Katastrophe spielte.

Als wahrscheinlichster Auslöser gilt inzwischen die giftige Algenart Prymnesium parvum. Diese gedeiht normal­erweise in Brackwasser. Der Salzgehalt hatte dem Leibniz-Institut für ­Gewässerökologie und Binnenfischerei zufolge dafür gesorgt, dass die Algenart sich auch im eigentlich Süßwasser führenden Fließgewässer Oder explo­sions­artig vermehren konnte. Nach Angaben des Instituts wurde das Gift der Alge tatsächlich im Wasser der Oder nachgewiesen, Satellitenbilder belegen eine ausgeprägte Algenblüte.

Sollte das Massensterben tatsächlich durch die Algen ausgelöst worden sein, bliebe jedoch noch zu klären, wie es zu der Algenblüte kommen konnte. Der Schluss liegt nahe, dass etwas in das Wasser der Oder gelangt ist, das sie ausgelöst oder zumindest stark befördert und so überhaupt erst in dieser Form ermöglicht hat.

Es herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass möglicherweise legale, wahrscheinlich aber illegale Einleitungen von Industrieabwässern die Ursache waren. Aber aus welchem Rohr genau diese jedoch in die Oder geflossen sind und wo genau die Abwässer in dieses Rohr gelangt sind, dürfte nur schwer zu rekonstruieren sein – zumal es durchaus mehr als einen Verursacher geben könnte. Möglich ist auch, dass sich die giftige Brühe bereits anderswo gebildet hat und erst durch das Öffnen eines Rückhaltebeckens oder einer Staustufe in die Oder gelangt ist.

Die polnische Wasserbehörde meldete vergangene Woche, sie habe 282 ille­gale Wasserzuflüsse in Polen entdeckt. Das ist immerhin ein Anfang, mehr aber auch nicht. Mecklenburg-Vorpommerns Umweltminister Till Backhaus (SPD) geht von insgesamt bis zu 170 000 illegalen Einleitungen in die Oder aus. Hinzu kommen die legalen. Sie alle zu kontrollieren, dürfte kaum zu bewältigen sein, auch weil dafür die deutschen und die polnischen Behörden in einem Maß zusammenarbeiten müssten, für das bislang wenig Bereitschaft zu erkennen war. Dass deutsche, polnische und tschechische Stellen in Zukunft koordinierter vorgehen, ist nicht gerade wahrscheinlich. Nicht zuletzt die sehr schnellen Schuldzu­weisungen deutscher Politiker in Richtung Polen dürften hier dauerhaften Schaden angerichtet haben.

Doch zumindest auf der jeweiligen nationalen Ebene wird aller Voraussicht nach etwas geschehen. Marek Gróbarczyk, Staatssekretär im polnischen Infrastrukturministerium, von der rechtskonservativen Partei PiS kündigte noch für dieses Jahr ein Gesetzes­paket zum Schutz des Flusses an. In Deutschland sollen zumindest die Warn- und Meldeketten überprüft werden, um in Zukunft ein schnelleres Eingreifen zu ermöglichen. Zudem kündigten die parteilose polnische Umweltministerin Anna Moskwa und ihre deutsche Amtskollegin Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) am Montag an, dass eine bilaterale Expertinnengruppe nach den Ursachen des Fischsterbens suchen soll.

Das eigentliche Problem allerdings, nämlich die massenweise Produktion giftiger Abwässer durch Industrie, Bergbau und industrialisierte Landwirtschaft, dürfte bestehen bleiben. Daran etwas zu ändern, fehlt allen Beteiligten der politische Wille.