Ein Gespräch mit Aleksandr, Antifaschist im Exil, über die russische extreme Rechte im Krieg

»Jahrzehntelang hat der Staat Antifaschisten verfolgt«

Interview Von Lara Schultz

Den Überfall auf die Ukraine bezeichnet die russische Propaganda als »Entnazifizierung«. Aleksandr, der kurz nach Kriegsbeginn aus Russland fliehen musste, untersucht derzeit im Rahmen eines Forschungsprojekts die staatliche Instrumentalisierung antifaschistischer Rhetorik.

Für die russische Opposition scheint es derzeit nur zwei Möglichkeiten zu geben: hinter Gittern sitzen oder das Land verlassen. Du gehörst zu den Hunderttausenden Menschen, die seit dem 24. Februar dauerhaft das Land verlassen haben. Was war der Anlass für deine Flucht?

Vor dem Krieg hatte ich ein ganz normales Leben. Der Aktivismus meiner ­Jugend war dem Familienleben gewichen. Am 24. Februar ist unsere kleine gemütliche Welt – mit Kindergeschrei im Wohnzimmer, mit Tee und Omas Kuchen, mit Märchenvorlesen und Spaziergängen im Park – für immer zusammengebrochen. Bereits im März fand ich meinen Namen auf einer Liste von »Landesverrätern«, die Nazis ins Internet gestellt hatten. Das hat mein Leben dramatisch verändert. Mir wurde klar, dass ich mit meiner Aktivistenvergangenheit – Verhaftungen, Gerichtsprozesse, Polizeifolter, Drohungen des FSB (russischer Inlandsgeheimdienst, Anm. d. Red.), Fingerabdrücke bei der Generalstaatsanwaltschaft erfasst – in ständiger Angst vor einer Verhaftung leben würde. Ich habe meine Frau davon überzeugt, dass das normale Leben vorbei ist und wir abhauen müssen – und zwar sofort. So sind wir in Deutschland gelandet, ohne Sprachkenntnisse, ohne Freunde, ohne Netzwerk.

Du hast die Jahre nach der Jahr­tausendwende als Antifaschist in Russland erlebt. Den Behörden giltst du deshalb als Linksextremist. Andererseits gilt Antifaschismus 2022 in Russland als Staatsräson. Wie sieht dieser staatliche Antifaschismus aus?

Jahrzehntelang hat der Staat Antifaschisten verfolgt und inhaftiert, jetzt ruft er zu einem Kreuzzug gegen »die Faschisten« in der Ukraine auf. Die Bezeichnung »Faschist« rekurriert auf den Großen Vaterländischen Krieg, auf die kollektive Erinnerung an die so­wjetischen Opfer von Deutschlands Vernichtungskrieg. Faschisten sind die Feinde Russlands, die zerstört werden müssen. Das ist keine inhaltliche ­Beschreibung, sondern eine Klassifi­zierung des absolut Bösen.

»Russische Nazis mögen das Z, weil es als halbes Hakenkreuz interpretiert werden kann.«

Ein Beispiel: Im August eröffnete Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Rahmen des Militärtechnischen ­Forums Armee 2022 den ersten internationalen »antifaschistischen« Kongress, der die Ausstellung »Erbeutete Waffen, die von ukrainischen Nazis verwendet wurden« beinhaltete. Den Delegierten wurden zerstörte Nato-Ausrüstung, angebliche Drogen aus den ukrainischen Schützengräben, russophobe Propaganda in Schulen, Aufnäher mit Hakenkreuzen gezeigt. Russland betreibt hier eine zynische Instrumentalisierung von Antifaschismus.

Derzeit forschst du darüber, wie der russische Staat Antifaschismus für sich vereinnahmt. Wie ist diese In­strumentalisierung entstanden?

Die Russische Föderation wurde 1991 als Negation der Sowjetunion gegründet. Das neue Regime lehnte die so­wjetische Ideologie und deren politisches und wirtschaftliches Modell ab. Eine neue Klasse von Kapitalisten eignete sich Eigentum an: Industrie, Infrastruktur, Finanzvermögen. Der neue bürgerliche Staat nahm radikale neo­liberale Marktreformen vor. Infolge der verheerenden Privatisierungen stand das Land bald vor einer humanitären Katastrophe. Zur Jahrtausendwende tauchte ein junger und in der Öffentlichkeit fast unbekannter Wladimir Putin auf, der im Zweiten Tschetschenien-Krieg als populärer Feldherr ­aufgebaut wurde und als Präsident die Rolle eines Retters spielen sollte.

Russland war zu Beginn der nuller Jahre in jeder Hinsicht auf dem Vormarsch – hohe Ölpreise ermöglichten einen wirtschaftlichen Aufschwung und dieser füllte das ideologische Vakuum, das nach der Aufgabe des so­wjetischen Projekts entstanden war. Zu dieser Zeit hatte auch die extreme Rechte in Russland ihre Sternstunde, kurz bevor der Staat die Repression ­gegen die oppositionelle Rechte erhöhte. Wladislaw Surkow, der unter Putin verschiedenste politische Ämter, zunächst in der Präsidialverwaltung, innehatte, wurde zum Chefideologen, er erfand für Putin zuerst die »gelenkte Demokratie«, dann den »gelenkten Natio­nalismus«, also eine Steuerung nationalistischer Politik von oben. 2005 gründete Surkow die Jugendbewegung Naschi (die Unsrigen), aus Furcht vor den sogenannten Farbenrevolutionen, wie es sie in Georgien, in Kirgistan und 2004 in der Ukraine als Orangene Revolution gegeben hatte. Naschi sollte als systemtreue Massenorganisation etwaige Demonstrierende von den ­großen Plätzen verdrängen können.

Ebenfalls Mitte der nuller Jahre entdeckte der Staat die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg für seine Zwecke. Der 9. Mai, der Tag des Sieges über den Nationalsozialismus, wurde zum wichtigsten Staatsfeiertag. Der Kreml entfernte die pazifistischen und humanistischen Elemente aus dieser Kriegserinnerung und begann, den 9. Mai als Feier der imperialen ­Militärmacht und des Sieges über den Faschismus zu nutzen, um seine Außenpolitik zu legitimieren, einschließlich später des Kriegs in der Ukraine.

Wie funktionierte das in Bezug auf die Ukraine?

Gleich zu Beginn der »militärischen Spezialoperation« in der Ukraine erklärte Putin die »Entnazifizierung« zum obersten Ziel. Russische Soldaten wurden in den Medien als Antifaschisten, ihre Gegner als »ukrainische Nazis« bezeichnet. In den eroberten ukrainischen Städten werden Lenin-Denkmäler restauriert und das sowjetische Siegesbanner wurde gehisst. Am 8. Mai dieses Jahres erklärte Putin: »Wie im Jahr 1945 wird der Sieg unser sein.« Beides, den Sieg über die Nazis und die »heilige antifaschistische Mission«, von der Putin spricht, hat Russland von der Sowjetunion übernommen und den heutigen politischen Zwecken angepasst.

Wenn der Große Vaterländische Krieg und der Kampf gegen den Faschismus eine Tragödie waren, dann wurde der Krieg in der Ukraine zu einer Farce. Wir alle finden uns in einer postmodernen Posse, in der »Antifaschisten« die Invasoren und die »Nazis von Asow« Verteidiger des Vaterlands sind. Wahre Antifaschistinnen werden in Russland jedoch als »Extremisten« verfolgt. Dem Begriffsapparat der Situa­tionisten nach ist der russische Staatsantifaschismus ein typisches Beispiel für die »Rekuperation«: Der bürgerliche Staat eignet sich zynisch das äußere ­Erscheinungsbild und die Rhetorik seines ideologischen Vorgängers, des Sowjetstaats, an.

Die Reaktionen der extremen Rechten in Russland auf den Krieg fallen sehr unterschiedlich aus. Viele ­Nazis verwenden das Z-Symbol, obwohl es angeblich für eine antifaschistische Intervention steht. Wie kommt das?

Bereits 2014 hat sich die russische Rechte an der Ukraine-Frage gespalten. Die Imperialisten und russischen Na­tionalisten unter ihnen stellten sich auf die Seite der selbsternannten Repu­­bliken im Donbass. Unter den radikalen Nazis begannen manche, auf der Seite der Ukraine zu kämpfen, andere auf der russischen. Letztere deuten die rote Fahnen und die Lenin-Denkmäler um: Man müsse sie nur »vom fauligen Geruch des Bolschewismus« reinigen, dann würden sie zu Sinnbildern für den russischen Sieg. Für die ultrarechte Reichslegion dagegen, den bewaffneten Arm der rechtsextremen Russischen Reichsbewegung, kommt eine Verwendung der roten Fahne nicht in Betracht, sie bleiben bei ihrem schwarz-gelb-weißen Banner (diese Farben trug die Flagge des Russischen ­Kaiserreichs 1858–1883, Anm. d. Red.). Was den Buchstaben Z betrifft, so ist die Verwendung einfacher, denn dieses Symbol hatte nie einen ideologischen Inhalt. Russische Nazis mögen das Z, weil es als halbes Hakenkreuz interpretiert werden kann.

Welche Bedeutung hat der Krieg generell für russische Rechtsextreme? Aus welchen Motiven nehmen sie am Krieg teil?

Die extreme Rechte ist gewaltaffin, Gewalt ist der wichtigste Inhalt und das wichtigste Mittel ihrer Ideologie. Der Krieg gibt ihnen die Möglichkeit, das zu praktizieren. Russische Nationalisten unterstützen Putin, weil es in ihren Augen im Krieg gegen die Ukraine um das Recht des russischen Volks geht, seine eigene Politik, seine eigenen Inter­essen zu verfolgen. Andere Nationalisten wollen dagegen Putins Krieg von Slawen gegen Slawen beenden. Für manche Imperialisten verwirklicht der Krieg den Traum eines dreieinigen ­slawischen Volks aus Russen, Ukrainern und Belarussen, für andere Imperialisten stellt er die endgültige Zer­störung der Hoffnung auf diese slawische Union dar. Für manche Rassisten sind alle Ukrainer Schweine, die getötet werden müssen. Für die russischen ­Nazis auf der Seite der Ukraine wiederum ist es eine Gelegenheit, das verhasste Putin-Regime zu Fall zu bringen und endlich eine Diktatur der weißen Rasse zu errichten.

Und wo steht die Linke in alldem?

Krieg spaltet immer auch politische Bewegungen, die lange monolithisch erschienen. In der Regel läuft es auf eine sehr einfache Zuspitzung hinaus: Wer für die einen ist, ist gegen die anderen. Und diese Vereinfachung spielt natürlich den Nationalisten in die Hände. Die Stimmen der Linken sind angesichts des Gemetzels kaum hörbar, weil sie nicht die Forderung nach weiterer Eskalation aufgreifen, sondern an so schwer fassbare Konzepte wie die internationale Solidarität der Arbeiterklasse appellieren. Die einzige Aufgabe der Linken unter Kriegsbe­dingungen sehe ich darin, diese dünne politische Linie zu verfolgen, die nicht Ausdruck von Neutralität oder einer dritten Position sein darf, sondern der tatsächliche Weg aus dem Konflikt wäre.
 

Aleksandr ist ein antifaschistischer Aktivist aus Russland. Am 24. Februar, dem Tag der Invasion der Ukraine, nahm er an Protesten gegen den Krieg teil. Kurz darauf floh er nach Deutschland, wo er derzeit im Rahmen eines akademischen Forschungsprojekts untersucht, wie der russische Staat antifaschistische Rhetorik für seine Kriegspropaganda instrumentalisiert. Er verwendet ein Pseudonym, um sich und seine Familie zu schützen.