Die Ablehnung der linken chilenischen Verfassung in einem Referendum

Die große Enttäuschung

In Chile wurde der Entwurf einer neuen Verfassung mit großer Mehrheit abgelehnt. Er galt als besonders progressiv und feministisch.

Den Entwurf einer neuen Verfassung hat die chilenische Bevölkerung über­raschend deutlich abgelehnt. Dabei galt er international als besonders progressiv und feministisch und sollte die Gleichstellung der Geschlechter, das Recht auf Abtreibung und ökologische Ziele grundrechtlich festschreiben. Noch im Oktober 2020 hatten 78 Prozent der Chilenen für eine Veränderung der bestehenden Verfassung gestimmt, die ein Relikt aus der Zeit der Diktatur Augusto Pinochets ist (Jungle World 21/2021). Für den neuen Verfassungstext stimmten am 4. September jedoch lediglich 37 Prozent, eine große Mehrheit von 62 Prozent lehnte ihn ab. »Der Siegeszug, den die Neue Linke in Lateinamerika begonnen hatte, geriet in der Nacht von Sonntag in Chile ins Stocken, ausgerechnet in dem Land, das Ende vergangenen Jahres mit dem Wahlsieg Gabriel Borics dieser Entwicklung einen neuen Impuls verliehen hatte«, urteilte die spanische Tageszeitung El País.

Dass das linke Verfassungsprojekt derart deutlich abgelehnt wurde, hat selbst dessen Gegner überrascht. Nur in acht von 346 Gemeinden stimmte die Mehrheit der Bevölkerung für den Entwurf. Selbst in der Hauptstadtregion Santiago kam keine Mehrheit für die neue Verfassung zustande.

Über die Gründe der Ablehnung wird nun eifrig diskutiert. Viele Enttäuschte verweisen nicht völlig zu Unrecht auf eine rechte Desinformationskampagne gegen den Verfassungstext; dieser seien vor allem die uninformierten und ungebildeten Schichten auf den Leim gegangen. Andere wenden ein, dass man es sich mit dieser Schuldzuweisung an die politischen Gegner zu einfach mache. So kritisiert der bekannte, noch im Exil aufgewachsene Schriftsteller Rafael Gumucio den Verfassungsentwurf als realitätsfernes Projekt einer akademischen linken »Elite«, deren Identitätspolitik fundamentalistische Züge aufweise. In ihrem Denken aus einer minoritären Opferposition heraus sei sie gar nicht in der Lage, ein ­gesamtgesellschaftliches Projekt zu vertreten. »Die Linke konnte immer nur dann gewinnen, wenn sie Politik gemacht hat, und wird immer verlieren, wenn sie sich der performance verschreibt«, meint Gumucio, der selber trotz aller Differenzen für den Verfassungstext stimmte. Als über die politischen Lager hinweg bedeutende Motive für die Ablehnung macht Gumucio weniger neoliberale Überzeugungen als die Ablehnung der Idee Chiles als plurinationalem Staat und des Rechts auf Abtreibung aus.

Der Schriftsteller und Journalist Cristián Warnken sieht in der jungen Linken, die den Verfassungstext geprägt habe, ebenfalls eine vermeintliche Elite, deren radikale Ideen keinen Rückhalt in der Bevölkerung genössen. Warnken verband mit dem Verfassungs­konvent und seiner partizipativen Struktur, die auch parteiunabhängige Vertreter aus der Zivilgesellschaft miteinbezog, zunächst große politische Hoffnungen. Schließlich gründete er jedoch die Amarillos por Chile, die »Gelben für Chile« – ein Mitte-links-Bündnis, das sich der »Rechazo«-Kampagne anschloss, also die Ablehnung des Verfassungstextes anstrebte, und breiten Zulauf erhielt. »Die Linke hat sich in ihrer Interpretation der Proteste von 2019 verschätzt«, meint er ähnlich wie Gumucio. »Die Chilenen wollten Veränderung, aber kein politisches Experiment.« Die Wählerschaft in Chile sei moderat. Unter denjenigen, die gegen den Verfassungstext stimmten, waren demnach viele Liberale und gemäßigte Linke, die ihre inhaltlichen Bedenken zum Ausdruck brachten.

Auch der Sozialdemokrat und ehemalige Präsident Ricardo Lagos sieht die Gründe für die Niederlage im Verfassungstext selbst. Dieser sah vor, Chile als »plurinationalen Staat« zu definieren, womit die Existenz verschiedener indigener »Nationen« auf dem Staatsgebiet anerkannt und ihnen gewisse Autonomierechte zugesprochen werden sollten. »Mir scheint das etwas übertrieben«, sagte Lagos gegenüber El País. Plurinational sei Chile nur dem historischen Ursprung nach, »die Republik Chile konstituierte sich mit all ihren Völkern«.

Dass der Verfassungsentwurf die republikanische Idee des chilenischen Staats zugunsten von Partikularismus aufgäbe, befürchtete nicht nur Lagos. Einer Umfrage von Mitte Juli zufolge fürchteten 39 Prozent der Befragten um die Gleichheit von Indigenen und Chilenen vor dem Gesetz, 31 Prozent verbanden mit der Idee der Plurinationalität das Risiko einer gesellschaftlichen Spaltung.

Die Ausarbeitung eines neuen Verfassungstextes ist damit aber nicht ad acta gelegt. Der Erfolg der »Rechazo«-Kampagne dürfte allerdings eine Neuausrichtung des verfassunggebenden Prozesses nach sich ziehen, an dem künftig wohl deutlich mehr Vertreter des politischen Zentrums und der Rechten beteiligt sein werden. Zudem soll der Versammlung ein beratendes Expertengremium zur Seite gestellt werden. Gabriel Boric reagierte auf den Wahlausgang mit einer personellen Umstrukturierung seines Kabinetts. Fünf seiner teils langjährigen politischen Weggefährten, unter ihnen der Generalsekretär im Präsidialamt, Giorgio Jackson, und die Innenministerin ­Izkia Siches, mussten ihre Posten für erfahrenere Politikerinnen aus dem linken Zentrum räumen. Boric scheint damit dem Eindruck Rechnung zu ­tragen, dass sich die junge Linke etwas überschätzt haben könnte.