In der National Football League erleiden viele Spieler Gehirnerschütterungen

Nach wie vor gehirnerschüttert

Die bei ihrer Einführung gefeierten Maßnahmen, mit denen Football-Spieler besser vor Gehirnerschütterungen beziehungsweise deren Folgen geschützt werden sollten, greifen offenkundig nicht.

Es ist 15 Jahre her, dass der Mathematiker und Journalist Alan Schwarz mit seinem Aufmacherartikel für die New York Times das Problem von ­Gehirnerschütterungen und daraus resultierenden Langzeitschäden bei American-Football-Spielern öffentlich bekannt gemacht hat. Seither hat sich in der US-amerikanischen National Football League (NFL) viel getan: Die Regeln des Spiels wurden geändert, die Helme wurden verbessert und es gibt nun ein sogenanntes concussion protocol, das genau vorschreibt, was alles zu unternehmen ist, wenn ein Spieler Anzeichen ­einer Gehirnerschütterung zeigt. Die festgelegte Vorgehensweise fordert einen sofortigen Test durch einen Team-Arzt und einen unabhängigen Neurologen direkt an der Seiten­linie. Wird dabei eine Gehirnerschütterung festgestellt, darf der Spieler erst wieder nach einer Reihe weiterer durchlaufener Tests spielen.

Doch pünktlich zum Jubiläum des Beginns der Diskussionen über die Gehirnerschütterungen ist das Thema wieder ganz oben in den Schlagzeilen zum Thema Football. Ausschlaggebend war eine Gehirnerschütterung des Quarterbacks der Miami Dolphins, Tua Tagovailoa, im Spiel ­gegen die Cincinnati Bengals, das an einem Donnerstag stattfand. Das Besondere daran: Die Gehirnerschütterung schien besonders heftig, die Fernsehkameras hielten voll drauf, als Tagovailoa zu Boden ging und es danach gerade noch schaffte, die Hände vors Gesicht zu halten, bevor sich dem Anschein nach jeder einzelne Muskel in seinem Körper verkrampfte. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer wirkte das reflexartige Schützen des Gesichts, gefolgt von völligem Kontrollverlust über den eigenen Körper, verstörend.

An den ersten fünf Spieltagen der Saison 2022 der National Football League wurde bei 46 Spielern eine Gehirnerschütterung diagnostiziert.

Tagovailoa wurde auf eine Trage gehievt und mit einem Golfcart vom Platz gefahren, von da aus ging es ­direkt in ein Krankenhaus. Ein paar Stunden später war der Spieler ­wieder fit genug, um gemeinsam mit seinem Team nach Hause fliegen zu können. Eingesetzt wurde er seither nicht mehr, das fragliche Spiel war am 29. September.

Gehirnerschütterungen passieren in der NFL nach wie vor häufig. An den ersten fünf Spieltagen der Saison 2022 wurde bei 46 Spielern eine ­solche Verletzung diagnostiziert. An jedem dieser Spieltage fanden 16 Spiele statt, insgesamt waren es also 80 Spiele – im Schnitt kam es in etwas mehr als der Hälfte der Spiele zu ­einer Gehirnerschütterung.

Die von Tagovailoa war nicht eine der schlimmsten, die es jemals gab, immerhin durfte er schon ein paar Stunden später wieder in ein Flugzeug steigen und hat mittlerweile wieder leichtes Training aufgenommen. Aber es wurde schnell bekannt, dass Tagovailoa schon ein paar Tage vor der Partie gegen die Cincinnati Bengals im Spiel gegen die Buffalo Bills dahingehend untersucht werden musste, ob er eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte. In diesem Spiel endete die Untersuchung mit dem Urteil, dass alles in Ordnung sei und keine Verletzung vorliege, der Spieler durfte zurück aufs Feld. Und genau diese Entscheidung wurde nun in der Öffentlichkeit angezweifelt, denn die Forschung weiß schon länger, dass eine Gehirnerschütterung, die erfolgt, wenn die betroffene Person noch unter den Auswirkungen der vorherigen leidet, besonders gravierend ausfällt. Die Fragen, die deshalb gestellt wurden, galten der Diagnose von ein paar Tagen zuvor: Traf das damalige Untersuchungsergebnis überhaupt zu? Und wie waren die Experten zu dieser Diagnose gekommen?

Denn zusätzlich zu allem war auch eine Äußerung von Mike McDaniel, dem Head Coach der Miami Dolphins, mindestens eigenartig. Vor dem Abflug sagte er einigen Reportern, dass es für ihn »ein emotionaler Moment« gewesen sei, seinen Quarterback derart hart zu Boden gehen zu sehen. Er empfand es aber auch erleichternd, »dass er nichts Schlimmeres als eine Gehirnerschütterung hatte«. Klar, dass Zweifel daran auf­kamen, wie ernst das Dolphins-Team Gehirnerschütterungen und das concussion protocol überhaupt nimmt. Entsprechend harsch fiel auch der Kommentar von Christopher Nowinski, einem der Mitgründer der Concussion Legacy Foundation, aus: »Ich glaube nicht, dass dieser Typ es ­kapiert.«

McDaniel ist aber nicht der einzige, der es nicht kapiert. Viele Gehirn­erschütterungen gehabt zu haben, wird in manchen Kreisen des Football-Milieus immer noch ähnlich angesehen, wie Narben aus einem glorreichen Kampf davongetragen zu haben – nur dass concussions das Hirn betreffen und daher sogar noch zusätzlich als Entschuldigung für besondere Tumbheit taugen. Als der für die Republikaner für den Senat kandidierende ehemalige Running Back Herschel Walker mit Vorwürfen konfrontiert wurde, weil seine auf dem christlichen Glauben basierende und gegen Abtreibungen gerichtete Kampagne im starken Widerspruch zu den Aussagen von Ex-Freundinnen steht, er habe sie zur Abtreibung gezwungen oder genötigt, verteidigte ihn Newt Gingrich mit den Worten: »Wissen Sie, er hat eine lange, harte Zeit hinter sich. Er erlitt viele Gehirnerschütterungen beim Football.« Trotzdem sei Walker seiner Meinung nach ein perfekter Bewerber für den Senat. »Ich denke, er ist der wichtigste Senatskandidat des Landes, weil er mehr tun wird, um den Senat zu verändern. Allein durch seine bloße Präsenz, durch sein Vertrauen, durch seine tiefe Hingabe an Christus«, so Gingrich weiter.

Weil eben nicht alle Gehirnerschütterungen so ernst nehmen, wie sie genommen werden sollten, wurde auch nicht gut genug hingeschaut, was bei den Reformen eigentlich wirklich passiert ist. Ein concussion protocol, das vorschreibt, einen neutralen Neurologen für die Sofortdiagnostik in Bereitschaft zu haben, wurde als wichtiger Meilenstein gefeiert. Was aber tatsächlich in besagtem Protokoll steht, wurde dann nicht mehr so genau in Augenschein genommen.

Vieles, was im concussion protocol steht, ist tatsächlich gut. Dass die Spieler vor der Rückkehr auf das Spielfeld eine Vielzahl an Tests durchlaufen müssen und nicht nur irgendein Arzt gefunden werden muss, der bereit, ist eine Gesundheitsbescheinigung auszufüllen, gehört zu den darin enthaltenen wichtigen Punkten. Die Vorschrift, einen Experten unmittelbar vor Ort in Bereitschaft zu haben, der seine Beurteilung sofort und nicht erst irgendwann abgibt, ist ebenfalls eine solide Vorsorgemaßnahme. Wenig überzeugend ist es jedoch, dass der unabhängige Neurologe gemeinsam mit einem Team-Arzt die Untersuchung vornimmt, beide sich anschließend beraten sollen und dann der beim Team beschäftigte Arzt und nicht etwa der unabhängige Experte das letzte Wort hat, ob eine Gehirn­erschütterung vorliegt oder nicht.

Im schlechtesten Fall bedeutet diese Regelung, dass der Team-Arzt den Neurologen diagnostizieren lassen kann, was er will, und dann dennoch ganz anders entscheidet. Der eigentliche Sinn, einen unabhängigen Neurologen mit der Dia­gnose zu beauftragen, um auszuschließen, dass der diagnostizierende Facharzt von Seiten der Trainer und Team-Eigner unter Druck gesetzt werden kann, wird so ad absurdum geführt.

Es steht zu hoffen, dass die Liga nun gezwungen ist, tatsächlich den jeweiligen Team-Arzt aus der Entscheidung herauszuhalten, ob bei ­einem Spieler eine Gehirnerschütterung vorliegt. Noch besser wäre es ­allerdings, wenn das auch Auswirkungen auf andere Sportarten hätte: Im Fußball kommen Gehirnerschütterungen beispielsweise auch nicht selten vor, dort wird aber noch weniger als im American Football unternommen, um Betroffene vor Langzeitfolgen zu schützen – im deutschen Profifußball sogar gar nichts, während es in England immerhin ­erlaubt ist, einen Spieler mit Kopfverletzung auszuwechseln, auch wenn das Wechselkontingent bereits erschöpft ist.