Nach einem Bombenanschlag in Istanbul startete die Türkei Luftangriffe auf kurdische Gebiete

Enten in türkischen Terrorszenarien

Nach einer tödlichen Explosion Anfang November in Istanbul bombardiert die Türkei die kurdischen Autonomieregionen in Syrien und Irak. Das Attentat dient als Begründung, die Umstände werfen allerdings Fragen auf.

Die Türkei begann in der Nacht auf den 20. November Luftangriffe auf kurdische Gebiete im Nordirak und Nordosten Syriens. Zuvor hatte die türkische Regierung die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) und die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die als »bewaffneter Arm« des syrischen PKK-Ablegers Partei der Demokratischen Union (PYD) gelten, beschuldigt, für den terroristischen Bombenanschlag vom 13. November auf Istanbuls bekannter Shoppingmeile İstiklal Caddesi verantwortlich zu sein. PKK und YPG dementieren allerdings vehement Verbindungen zu der Tat, bei der sechs Menschen starben und 81 verletzt wurden.

Aus der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Kobanê im Norden Syriens, dem Hauptort eines der drei Kantone von Rojava, der de facto autonomen Föderation Nord- und Ostsyrien, kursieren Videos von den Luftangriffen auf Twitter. Kobanê wurde 2014 von der jihadistischen Miliz »Islamischer Staat« (IS) besetzt und dann mit Unterstützung der USA 2015 von den kurdisch geführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) zurückerobert. Deren Medienstelle meldete, dass bei den jüngsten Angriffen der türkischen Luftwaffe elf Zivilisten ums Leben gekommen seien,
»Klauenschwert« nennt die Regierung der Türkei die Operation, bei der 89 unterschiedliche Ziele bombardiert wurden. »In Übereinstimmung mit unseren Selbstverteidigungsrechten aus Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen wurde die Luftoperation Klauenschwert in den Regionen im Norden des Iraks und in Syrien durchgeführt, die als Stützpunkte für Angriffe auf unser Land dienen«, teilte das türkische Verteidigungsministerium mit. Auf Twitter hieß es, »die Zeit der Abrechnung ist gekommen«.

Auf Twitter teilte das türkische Verteidigungsministerium mit, die Zeit der Abrechnung sei gekommen.

Bereits einen Tag nach der Bombenexplosion in der Istanbuler Innenstadt hatte der türkische Innenminister ­Süleyman Soylu (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) mitgeteilt, der Befehl dazu sei aus Kobanê gekommen. Soylu zufolge habe eine junge Frau namens Ahlam A. im Verhör das Attentat gestanden. Sie sei syrische Kurdin, von der kurdischen PKK trainiert und ­bereits vor Monaten illegal aus Syrien in die Türkei eingeschleust worden. Die Polizei nahm knapp 50 angebliche Hintermänner der PKK in Gewahrsam.

In Istanbul prägen seit dem Anschlag türkische Fahnen das Stadtbild. Auf der İstiklal Caddesi wurden alle Bänke und Blumentöpfe abgebaut, um weiteren Anschlägen vorzubeugen; die Bombe war unter einer Bank deponiert ­gewesen. Eine türkische Lehrerin und ihre 15jährige Tochter ge­hören zu den Todesopfern. Der Ex-Mann der Lehrerin und Vater des Mädchens ist der Schauspieler Nurettin Uçar, der in der seit Ende 2014 im staatlichen Propagandafernsehsender TRT ausgestrahlten Fernsehserie »Diriliş Ertuğrul« (Die Auferstehung Ertuğruls) mitspielt. Sie erzählt die Geschichte des oghusischen Clanführers Ertuğrul Ghazi, dessen Sohn Osman das Osmanische Reich gründete. In der Serie geht es um den ruhmreichen Kampf des tapferen Clans und seines untadeligen Anführers gegen unzählige heimtückische Feinde – eine Analogie zur Selbstinszenierung, die die türkische Regierung gern kulturpolitisch verbreitet. Nachdem Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) im Juni 2015 die Schauspieler persönlich am Set besuchte, wurde er mit der Serie in Verbindung gebracht, die in der Türkei Rekordeinschaltquoten erreicht.

Regierungsnahe türkische Medien schlachteten die Trauer des Schauspielers Uçar aus. Er wird von der Tageszeitung Hürriyet am Rande der Be­erdigung seiner Tochter und ihrer Mutter mit dem Kommentar zitiert, die Verräter, die für den Anschlag verantwortlich seien, müssten bestraft werden. Der staatliche Fernsehsender TRT kondolierte Uçar auf Twitter mit genau diesem Versprechen. Zwei Tage nach dem Anschlag forderte der Vorsitzende der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), Devlet Bahçeli, die prokurdische linke Demokratiepartei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) als »abscheuliche, bösartige Partnerin der verbrecherischen PKK in Ankara« zu verbieten, weil sie sich nicht deutlich genug von dem Anschlag distanziert habe.

Die ehemalige HDP-Parteiführung sitzt seit 2016 wegen des Vorwurfs, Terrororganisationen zu unterstützen, in Haft, darunter auch ihr ehemaliger Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş. Am 16. November bezeichnete er den Bombenanschlag als Terror, der unter keinen Umständen hinnehmbar sei, gab aber auch zu verstehen, dass er den Anschlag für ein Schurkenstück aus den Kreisen regierungsnaher Ultranationalisten halte. Demirtaş sprach über ein Polizeifoto, auf dem Ahlam A. zu sehen ist. Die angeblich geständige ­Attentäterin steht mit hochgezogenen Schultern und Hämatomen im Gesicht zwischen zwei türkischen Flaggen, trägt einen lilafarbenen Kapuzenpullover mit der Aufschrift »New York«, schwarze Sandalen und Handschellen, ihre ­Fingernägel sind weiß lackiert. »Wer ist diese Person, die angeblich eine geheimdienstliche Ausbildung hat, sich aber so auffällig benimmt, als ob sie festgenommen werden wollte? Wer hat ihr dieses ›New York‹-T-Shirt angezogen und sie dann der Öffentlichkeit wie eine verschreckte Ente präsentiert?« fragte Demirtaş auf der unabhängigen Online-Nachrichtenplattform T24, auf der regelmäßig Kommentare von ihm aus dem Gefängnis erscheinen.

Alle Aufnahmen, die die türkische Polizei der Öffentlichkeit nach dem Anschlag offerierte, haben groteske Züge. Es gibt Videos von Ahlam A. mit weißlackierten Nägeln, als sie angeblich direkt vor dem Anschlag auf der Bank, in der mit Sicherheitskameras bestückten İstiklal Caddesi sitzt und dann eine Tasche dort stehen lässt. Die Verhaftung der Verdächtigen wurde in einer Istanbuler Wohnung gefilmt und das Video sofort online geteilt. Die Polizei wirft darin Ahlam A. auf den Boden, weiße lange Fingernägel, sie wirkt überrumpelt und wehrlos. »Meine juristische und politische Erfahrung hat mich gelehrt: Konzen­trieren Sie sich auf die verborgene Wahrheit, nicht auf das, was Ihnen gezeigt wird«, schrieb Demirtaş auf T24.

2015 hatte er mit der HDP erstmals bei der Parlamentswahl mit 13 Prozent die Zehnprozenthürde überwunden, die Regierungspartei AKP hatte ihre absolute Mehrheit verloren. Präsident Erdoğan, damals in Verhandlungen mit der PKK, kündigte den Friedensprozess auf, die PKK reagierte mit mehreren Attentaten. Auf einer Friedensdemonstration der HDP in der türkischen Hauptstadt Ankara im Oktober 2015 töteten zwei jihadistische Selbstmordattentäter 102 Menschen und verletzten mehr als 500. Drei ­Wochen später holte sich die AKP bei einer vorgezogenen Neuwahl die ab­solute Mehrheit zurück.

Erdoğan drohte damals führenden HDP-Politikern mit strafrechtlicher Verfolgung und forderte die Aufhebung der Immunität all ihrer Abgeordneten. Die Staatsanwaltschaft leitete prompt Ermittlungsverfahren gegen die Parteispitze der HDP ein und warf ihnen vor, Propaganda für die kurdische YPG und damit für eine »Terrororganisation« gemacht zu haben. »Das Timing zeigt, dass die Vorwürfe politisch motiviert sind und dass die Türkei ganz klar keine unabhängige Justiz hat«, sagte Gareth Jenkins vom politikwissenschaftlichen Silk Road Studies Program seinerzeit der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul.

Nach dem jüngsten Anschlag analysierte die türkische Journalistin Buket Topaktaş Dutzende der Bombenanschläge, die 2015 und 2016 die Türkei erschütterten. Die Anschläge des »Islamischen Staats« konzentrierten sich demnach auf unbeteiligte oder regierungskritische Zivilisten, aber auch auf Veranstaltungen, die in Solidarität mit den Kurden stattfanden, die nach dem Siegeszug des IS 2014 in Syrien und Nordirak die autonome Region Rojava gegründet hatten. Die PKK bekannte sich vor allem zu Anschlägen auf strategische Ziele der türkischen Polizei und des Militärs.

Topaktaş wirft die Frage auf, ob der jüngste Anschlag mit der anstehenden Parlamentswahl und der wachsenden Unzufriedenheit vieler Türken mit der AKP zu tun haben könnte. Selahattin Demirtaş betont diesen Zusammenhang auf T24: »Wir können dieses brutale Massaker nicht unabhängig von den historischen Wahlen im Jahr 2023, den regionalen und globalen Machtkämpfen und dem Aufeinanderprallen der innenpolitischen Machtzentren der Türkei betrachten.«

Für die AKP und MHP seht fest: Die Kurden in Syrien sind schuldig und die HDP ist ihr Handlanger. Seit März fordert Erdoğan die Einrichtung einer »Schutzzone« in Nordsyrien. Er kündigte auch schon vor Monaten eine mögliche Großoffensive dort an, ein aus Kobanê gesteuerter Anschlag wäre dafür ein geeigneter Vorwand. Ende September wurden zwei leitende Angehörige der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava durch eine türkische Drohne getötet. Sie haben jahrelang daran gearbeitet, jugendliche IS-Kämpfer zu resozialisieren und yezidische Waisenkinder zu betreuen. Die Kampagne »gezielter Tötungen« läuft auch im Nordirak, allerdings trafen türkische Luftangriffe im Juli auch acht irakische Touristen. Erdoğans Nato-Partner schweigen dazu bislang.