Putin wechselt den Oberbefehlshaber im Ukraine-Krieg aus

Innere und äußere Kämpfe

Die russische Seite redet Erfolge im Krieg gegen die Ukraine herbei. Während russische Truppen bei Soledar vorrücken, wechselt das Spitzenpersonal der Streitkräfte.

Niederlage um Niederlage musste die russische Armee in den vergangenen Monaten in der Ukraine einstecken. Selbst die Teilmobilmachung im Herbst brachte bislang keine Durchbrüche. Zugleich betreibt die russische Führung die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur in der Ukraine. Kurz nach Ende der orthodoxen Neujahrsfeiertage gab es doch eine Erfolgsmeldung: Am 11. Januar verkündete Jewgenij Prigoschin, der Gründer und Finanzier der Söldnertruppe Wagner, seine Einheiten hätten im Alleingang die Kleinstadt Soledar eingenommen. Diese liegt an einem seit Monaten heiß umkämpften Frontabschnitt dicht bei Bachmut, einer Stadt mitten im Donbass weit im Osten der Ukraine, die Russland um jeden Preis erobern will, um der Kontrolle über das gesamte für die sogenannte Donezker Volksrepublik beanspruchte Gebiet näherzukommen.

Die Nachricht sorgte allerdings für einige Verwirrung. Das russische Vertei­digungsministerium ließ sie zunächst unerwähnt, bevor es seine eigenen Verdienste hervorhob, da die Einnahme nur durch den ständigen Raketen- und Artilleriebeschuss der regulären Truppen möglich gewesen sei. Am Abend des 12. Januar hieß es dann, die »Befreiung« sei vollendet worden, doch am Tag darauf folgte keine Bestätigung oder öffentliche Erwähnung einer vollständigen Kontrolle Soledars. Auch der Propagandaapparat wartete nicht mit an Ort und Stelle aufgenommenen Bildern auf, während populäre russische Kriegskorrespondenten auf ihren Telegram-Kanälen noch von Kämpfen im Westteil von Soledar berichteten. Prigoschin wiederum wetterte, die Verdienste von Wagner würden ständig herabgesetzt, weil Bürokraten und Beamte auf ihrem bequemen Sesseln verweilen wollten. Dass Wagner-Einheiten, verstärkt durch Häftlinge, die sich im Verlauf einer extensiven Werbekampagne für einen Fronteinsatz verpflichtet ­hatten, als eine Art Stoßtrupp fungieren, steht außer Zweifel.

Für den Wagner-Gründer Prigo­schin ist die Ernennung Geras­si­mows zum Ober­kom­mandierenden der russischen Streitkräfte in der Ukraine ein Affront.

Nach Einschätzung des unabhängigen Militärexperten Jurij Fjodorow hilft die Besetzung von Soledar den russischen Truppen nicht nennenswert bei der Einnahme von Bachmut und stellt somit keinen einschneidenden Erfolg dar. Zwar verbessere sich deren Ausgangsposition – sie könnten theoretisch die gesamte Stadt umzingeln –, aber die durch den Fluss Bachmutka geteilte Stadt lasse sich auch dann nur schwer einnehmen. Bereits im Herbst vermutete Fjodorow, dass eine Eroberung Bachmuts höchstens durch dessen komplette Zerstörung ­realistisch sei. Russlands Präsident Wladimir Putin, seine Generäle und Pri­goschin stünden allerdings unter einem derart hohen Erfolgsdruck, dass selbst ein minimales Vorrücken der Armee als ein willkommenes Argument für eine Fortführung des Kriegs diene.

Während die Truppen bei Soledar vorrückten, wechselte das Personal an der Spitze der vereinten Streitkräfte Russlands. Der erst Anfang Oktober als Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannte General Sergej Surowikin wurde zum Stellvertreter degradiert und in seiner bisherigen Funktion von Walerij Gerassimow abgelöst, der seit zehn Jahren das Amt des Generalstabschefs innehat. Gerassimow gilt als Autor der Militärstrategie zu Beginn des Kriegs und dient Hardlinern in Russland als beliebtes Ziel für harsche Kritik; in einem kürzlich veröffentlichten Video hielten Wagner-Söldner sich mit Beschimpfungen nicht zurück. Die Leitung der Bodentruppen wurde Generaloberst Aleksandr Lapin übertragen, den Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow im Oktober für territoriale Verluste persönlich verantwortlich gemacht hatte.

Zwar ist die Meinung bekannter Kriegstreiber für personelle Entscheidungen auf höchster Militärebene nicht ausschlaggebend. Dennoch bedarf es einer Erklärung, weshalb ausgerechnet jetzt, da Wagner-Truppen Erfolgsmeldungen liefern, Prigoschin, der im Machtapparat keine formale Posi­tion einnimmt, einen Affront wie Gerassimows Aufwertung hinnehmen muss. Julija Latynina, eine langjährige Autorin der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta, könnte mit ihrer Vermutung richtig liegen: »Mir scheint, wir beobachten einen überraschend aufschlussreichen Augenblick, in dem der innersystemische Kampf Vorrang vor dem Kriegsgeschehen an der Front erhält, und wir beobachten den Versuch Putins, Wagner auf seinen Platz zu verweisen.«

Als Kommandeur der Streitkräfte entscheidet Gerassimow auch über die Zuteilung von Kriegsgerät an unterschiedliche Truppenteile. So autonom sich Prigoschin gibt, bleibt er doch ­abhängig von staatlichen Waffen- und Munitionslieferungen, die ihm Ge­rassimow in seiner neuen Eigenschaft wohldosiert zukommen lassen kann. Möglicherweise verspricht sich die militärische Führung Monate nach der Teilmobilmachung, von der Truppenaufstockung profitieren zu können. Die Gruppe Wagner würde aus dieser Per­spektive in der Kriegsplanung an Bedeutung verlieren, auch wenn die Söldnertruppe bislang ihre Möglichkeiten als effiziente Hilfsbrigade unter Beweis stellte. Womöglich überwiegen Überlegungen über die weitere Zukunft, denn Pri-goschins Privatarmee stellt für die russische Führung im Falle eines irgendwann unvermeidlichen Machttransfers eine unkalkulierbare Gefahr dar. Am Dienstag kündigte Russland »große Änderungen« bei den Streitkräften für die kommenden drei Jahre an, die Zahl der Militärangehörigen soll dem Verteidigungsministerium zufolge auf 1,5 Millionen erhöht werden.

Da die ukrainische Armee zwar stetig, aber nur sehr langsam Territorium zurückerobert, dürfte die Gruppe Wagner noch die eine oder andere Gelegenheit nutzen, sich in den Vordergrund zu spielen. Doch derzeit steht Gerassimow unter Zugzwang. Für die Menschen in der Ukraine bedeutet dies intensivierte Raketenangriffe und Szenen, wie sie kürzlich in der zentralöstlichen Stadt Dnipro zu sehen waren. Dort schlug am Samstag eine Rakete in einem neunstöckigen Wohngebäude ein und verwandelte es in Schutt und Asche, über 30 Bewohner wurden getötet, Dutzende werden vermisst. Im Kreml hieß es dazu, das ukrainische Flugabwehrsystem habe den Flugkörper über dem Wohngebiet abgeschossen. Selbst wenn dem so wäre – die ­Rakete stammt aus Russland.