Besuch bei einem Auftritt von Sahra ­Wagenknecht in Berlin

Die letzte Stimme der Vernunft

Raucherecke Von Jens Winter

Sahra Wagenknecht ist in Berlin aufgetreten, um die Linkspartei vor der Wiederholungswahl des Berliner Abgeordnetenhauses zu unterstützen. Viele in der Berliner Linkspartei hätten darauf wohl lieber verzichtet.

Es war der Bezirksverband Tempelhof-Schöneberg der Linkspartei, der Sahra Wagenknecht einlud – und damit einmal mehr deutlich machte, wie gespalten die Partei ist. Am frühen Donnerstagabend vergangener Woche sprach die Politikerin auf dem Schöneberger Crellemarkt. Es war eine Wahlkampfveranstaltung für die am 12. Februar anstehende Wiederholungswahl des Berliner Abgeordnetenhauses. Der Verband in Tempelhof-Schöneberg gilt schon lange als der einzige Wagenknecht politisch nahestehende in Berlin – Mitgliederwanderungen zwischen den Parteibezirken sind deshalb keine Seltenheit.

Dementsprechend sorgten die Lokalpolitiker:innen Alexander King, Frederike Benda und Elisabeth Wissel mit der Einladung Wagenknechts für ein Skandälchen. Der Berliner Spitzenkandidat der Linkspartei, Klaus Lederer, hatte ihr wegen ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg im Juli 2022 noch eine »linksreaktionäre Friedensliebe« ­attestiert. Wagenknecht fordert immer vehementer ein Ende der Sanktionen gegen Russland und liebäugelt seit einiger Zeit mit der Gründung einer eigenen Partei.

Unter dem Motto »Sahra, lass das Schwurbeln sein!« wurde sogar eine Gegenkundgebung angemeldet. Zu dieser hatte allerdings niemand von der Berliner Linkspartei aufgerufen. Hörte man sich zuvor in der Partei um, hieß es, dass man den Schöneberger Alleingang einfach ignorieren solle. Kurz vor der Wahl ist offener Streit wohl nicht erwünscht.

Die Veranstaltung selbst war bei Temperaturen um den Gefrierpunkt so unbescheiden wie das Transparent, das die Bühne zierte. Dort war vor einer großen, weißen Friedenstaube der Slogan »Vernunft!« zu lesen. Insbesondere in der Kriegsfrage, sagte Frederike Benda, brauche es Leute, »die den Mut haben, sich gegen die Mehrheit aufzulehnen«, es brauche »Stimmen der Vernunft wie Sahra Wagenknecht«. Dass es Benda weniger um die Ukrainer:innen geht als um deutsche Nationalinteressen, zeigten Äußerungen wie die, die Politik der Bundesregierung in dieser Angelegenheit gefährde »unseren hart erarbeiteten Wohlstand«.

Von Wagenknecht hörte man unter anderem, wer vom Ukraine-Krieg profitiere: die US-amerikanischen Rüstungs- und Energiekonzerne. Sie wünsche sich eine »neue Friedensbewegung« und »Frieden überall«. Die etwas betagten 200 bis 300 Zuhörer brachen bei diesen Worten in Jubel aus. Die Details zu diesen frommen Wünschen – etwa wer zu welchen Bedingungen Friedensverhandlungen führen soll und wie Russland ohne militärische Gegenwehr zu solchen Verhandlungen veranlasst werden kann – blieben wie immer ausgespart.

Bezeichnend war zudem, dass die Redner:innen wiederholt auf die Wichtigkeit der Enteignung der Immobilienkonzerne in Berlin hinwiesen, aber offenbar niemand von dem der Linkspartei nahestehenden Bündnis »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« anwesend war. Als Zettelverteiler einem jungen Menschen einen Flyer des Bündnisses »Heizung, Brot und Frieden« in die Hand drückten, wiesen sie speziell darauf hin, dass dort »auch junge Leute dabei sind«. Das Bündnis hat sich – so wie »Genug ist genug« und »Umverteilen« – im vergangenen Jahr gegründet, um bei den erwarteten Sozialprotesten wegen der Inflation und der steigenden Heiz- und Stromkosten mitzuwirken. Doch dem Bündnis geht es nicht nur um Umverteilung, es will auch gegen den »Wirtschaftskrieg des Westens« gegen Russland protestieren, wie Alexander King von der Linkspartei im Namen des Bündnisses kürzlich im Interview mit der Jungen Welt sagte.

Eine nennenswerte Anzahl junger Leute suchte man auf dem Schöneberger Crellemarkt hingegen vergeblich. Lediglich ein paar jüngere Mitglieder der trotzkistischen Kleinstpartei SGP standen am Rande der Kundgebung – um »zu intervenieren«, wie sie sagten. Auch sonst gab die Veranstaltung das Bild des nostalgischen Antiimperialismus ab, das man von solchen Events gewohnt ist. Die DKP verteilte die Parteizeitung Unsere Zeit, auf dem Boden lagen Banner, auf denen »Kein Aggressionskrieg« und »Frieden mit Russland« gefordert wurde.

Die Gegenkundgebung war mit zehn Teilnehmer:innen eher spärlich besucht. Deren Anführer, ein Mann mit Krokodilsmütze, der sich selbst Schnappi nennt, begleitete die heimgehenden Wagenknecht-Fans mit einem geflüsterten, fast schon gehauchten »Schwurbel, schwurbel« nach Hause.