Es fehlt an angemessenem Wohnraum für Flüchtlinge

Kaltland kriegt die Krise

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Asylanträge in Deutschland wieder auf fast 218 000, hinzu kamen über eine Million Kriegs­flüchtlinge aus der Ukraine. Immer mehr Menschen müssen in überfüllten, oft nur provisorischen Sammelunterkünften leben.

»Kaum noch freie Kapazitäten«, mit dieser Warnung wandte sich Ende Januar Reinhard Sager (CDU) in einem Interview mit der FAZ an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Sager ist der Präsident des Deutschen Landkreistags, der Interessenvertretung der Landkreise. Der Verband wünsche ein Gespräch, um über Probleme bei der Unterbringung von Flüchtlingen zu sprechen, sagte er weiter. In einigen Gemeinden würden Flüchtlinge bereits in Zelten untergebracht.

Derartige Klagen hört man nicht nur aus dem ländlichen Raum. In Wismar werden Sporthallen als Notunterkünfte genutzt, in Leipzig und Dresden Containerunterkünfte errichtet, in Berlin Zelte auf dem ehemaligen Flughafen Tegel aufgebaut und Hangars des anderen stillgelegten innerstädtischen Flughafens, Tempelhof, zu Sammelunterkünften umgerüstet, um nur einige Beispiele aus den vergangenen Wochen zu nennen.

»Wir haben tatsächlich eine Krise, eine Krise der Unterbringungs­politik.« Tareq Alaows, Pro Asyl

Diese Unterkünfte bieten so gut wie keine Privatsphäre, sind laut und schlecht geheizt. Und sie drohen, für viele der dort Untergebrachten zu einem längerfristigen Aufenthaltsort zu werden, da die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen und ein Dach über dem Kopf benötigen, derzeit hoch ist. Im vergangenen Jahr stellten fast 218 000 Menschen in Deutschland erstmals einen Asylantrag. Das war die höchste Zahl von Asylanträgen seit 2016. Damals beantragten über 722 000 Menschen Asyl in Deutschland.

Die Antragsteller kamen im vergangenen Jahr mehrheitlich aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und dem Irak. Seit Februar 2022 kamen darüber hinaus etwas mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland, die nicht verpflichtet sind, Asylanträge zu stellen. Aufgrund der derzeitigen weltpolitischen Lage ist es unwahrscheinlich, dass 2023 wesentlich weniger Menschen versuchen werden, nach Deutschland zu kommen. Angesichts dieser Zahlen macht wieder das Wort von der Flüchtlingskrise die Runde. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen protestieren bereits wieder Anwohner gegen die Unterbringung von Geflüchteten in ihrer Nachbarschaft (siehe Seite 3). Die Bild-Zeitung beschwört eine »Flüchtlingskrise in Landkreisen«. In Bayern bewerten einer repräsentativen Studie zufolge, die im Auftrag des Bayerischen Rundfunks erstellt wurde, 20 Prozent der Befragten Zuwanderung derzeit als wichtigstes oder zweitwichtigsten Problem. Paul-Peter Humpert (SPD), der Geschäftsführer des Brandenburger Landkreistags, fordert: »Wir müssen viel konsequenter abschieben.«

Tareq Alaows, der flüchtlingspolitische Sprecher von Pro Asyl, hingegen sagte der Jungle World: »Wir haben tatsächlich eine Krise, eine Krise der Unterbringungspolitik.« Die Schwierigkeiten, die die Kommunen jetzt hätten, seien nicht nur das Resultat einer hohen Zahl ankommender Migrant:innen, sondern vor allem auch politischer Entscheidungen. »Die Unterbringungskapazitäten, die 2015 und 2016 aufgebaut worden sind, wurden auf einmal abgeschafft, weil die Politik davon ausging, dass sich Europa erfolgreich gegen weitere Fluchtbewegungen abschotten wird«, so Alaows. Dass dies nicht gelänge, hätten die letzte Jahre zwar gezeigt, dennoch habe sich die Unterbringungspolitik nicht geändert.

Als dann die ukrainischen Flüchtlinge ankamen, habe das Aufnahmesystem eigentlich vor dem Kollaps ­gestanden, erzählt Alaows. Es habe schlicht an Unterkünften gefehlt. Zwar konnten manche von ihnen bei in Deutschland lebenden Familienmitgliedern unterkommen, doch den meisten stand diese Option nicht zur Verfügung. Allerdings erklärten sich seit dem vergangenen Frühjahr viele Menschen bereit, Ukrai­ner:innen privat unterzubringen. »Ohne dieses zivilgesellschaftliche Engagement hätten wir die aus der Ukraine geflüchteten Menschen nicht unterbringen können«, resümiert Alaows.

Eine Studie des Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung aus dem Herbst vergangenen Jahres kommt zu dem Ergebnis, dass es vor allem gutverdienende Personen mit akademischen Abschluss und großen Wohnungen, Häusern oder Immobilieneigentum waren, die Ukrainer:innen aufnahmen. Die meisten bewerteten ihr Erfahrungen mit den aufgenommen Mig­rant:in­nen positiv, beklagten aber bürokratische Probleme und mangelnde Unterstützung durch staatliche Stellen.

Bürokratische Hemmnisse verschärfen auch die Unterbringungssituation. So dürfen Asylbewerber:innen sich zunächst nicht frei in der Bundesrepu­blik bewegen. Sie werden Landkreisen oder einzelnen Kommunen zugewiesen, dort untergebracht und für bis zu drei Monate verpflichtet, sie nicht zu verlassen. Asylbewerber:innen müssen zudem, sofern im fraglichen Bundesland keine andere Regelung gilt, in einer zentralen Erstaufnahmeeinrichtung leben, bis über ihren Antrag entschieden wird, allerdings nicht länger als 18 Monate, bei Familien mit kleinen Kindern liegt die Frist bei sechs Monaten. Anschließend werden sie häufig in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Darüber hinaus gilt für die Dauer des Asylverfahrens sowie für Asylberechtigte für drei Jahre nach Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus die sogenannte Wohnsitzauflage, die besagt, dass die Betroffenen, solange sie auf Sozialleistungen angewiesen sind, ihren Wohnsitz nur in der Kommune haben dürfen, der sie zugewiesen wurden. Der Grund für die Restriktionen liegt in der Verschränkung sozialpolitischer und ausländerrechtlicher Regelungen, die seit langem den Umgang mit Mig­rant:in­nen und Flüchtlingen prägen.

Aus historischen Gründen sind für viele Sozialleistungen die Kommunen zuständig, nicht nur für ihre verwaltungstechnische Abwicklung, sondern auch für die Finanzierung. Städte und Gemeinden müssen insbesondere für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und die Kosten der Unterkunft von Hartz-IV- beziehungsweise Bürgergeldempfänger:innen aufkommen. Eine gleichmäßige Verteilung Asylsuchender über die Kommunen der Bundesrepublik soll sicher­stellen, dass die Haushalte der bei Zuwandernden besonders beliebten Kommunen, also vor allem der Großstädte mit einem hohen Anteil migrantischer Bevölkerung, nicht finanziell überlastet werden.

Diese Regeln sind aber auch Teil einer Abschreckungspolitik, mit der die Bundesrepublik seit den siebziger Jahren versucht, Einwanderung zu verhindern. Sammelunterkünfte und die Pflicht, sich in bestimmten Kommunen aufzuhalten, wurden eingeführt, nachdem wegen der Wirtschaftskrise von 1973 ein Anwerbestopp für Gastarbeiter:innen verhängt worden war. Die ungeachtet dessen anhaltende Immigration, vor allem von Menschen aus der Türkei, sollte unter anderem dadurch verringert werden, dass es den Einwanderern und Einwanderinnen unmöglich gemacht wurde, zu Verwandten oder Bekannten zu ziehen. Außerdem erhielten sie keine Arbeitserlaubnisse mehr und wurden in Sammelunterkünfte gezwungen.

Heutzutage »verhindern Wohnsitzauflagen, dass die betroffenen Menschen Wohnungsangebote in anderen Kommunen oder anderen Bundesländern annehmen können«, beobachtet Alaows. Ein Umzug komme meist nur dann in Betracht, wenn die Betroffenen in einer anderen Kommune Arbeit fänden oder dort enge Familienangehörige hätten. Selbst dann müsse der Umzug jedoch von den Ausländerbehörden genehmigt werden. Dort dauere die Bearbeitung derartiger Anträge ­allerdings oft so lange, dass Arbeitsangebote häufig wieder verfallen seien, wenn die Erlaubnis vorliegt. Zudem legten die Sachbearbeiter:innen in den Behörden ihr Ermessen zumeist sehr restriktiv aus. In diesem Verhalten der Behördenmitarbeiter:innen schlage sich auch eine Politik nieder, die darauf abziele, Einwanderung zu verhindern. Organisationen wir Pro Asyl oder der Berliner Flüchtlingsrat fordern deshalb Gesetzesänderungen, die das Ermessen der Ausländerbehörden einschränken und den freien Wohnungswechsel ermöglichen.

Zumindest die Pflicht, in Sammelunterkünften zu leben, hat Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linkspartei) am 26. Januar nach langem Drängen des Flüchtlingsrats aufgehoben. Diese sogenannten Ankunftszentren sind in Berlin seit Monaten überlastet. Durch eine Weisung an das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten stellte Kipping klar, dass Asylsuchende, die dem Land Berlin zugewiesen wurden und eine eigene Wohnung oder ein eigenes Zimmer gefunden haben, ohne gesonderten Antrag aus der Sammelunterkunft ausziehen können. Das bedeute, so Kipping in einer Pressemitteilung, »sowohl eine Entlastung der Aufnahmeeinrichtungen als auch eine konkrete Verbesserung für die Betroffenen«. Wenn diese eine eigene Unterkunft gefunden haben, »müssen sie nicht mehr in Mehrbettzimmern schlafen und können sich ihre Mahlzeiten selbst zubereiten«. Kipping sagte jedoch auch: »Der Wohnungsmarkt ist bekanntlich angespannt und Geflüchtete werden häufig bei der Wohnungsvergabe benachteiligt.« Tatsächlich ist der derzeitige Engpass bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden auch ein Ausdruck der durch die Durchkapitalisierung des urbanen Raums verschärften Wohnungsnot, die es besonders in den Großstädten immer schwieriger macht, Wohnungen zu finden, nicht nur für Flüchtlinge.