Felix Balandat von Rias Bayern über das Projekt »Schiefheilungen«

»Antisemitismus erfüllt eine psychische Funktion«

Small Talk Von Jens Winter

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Bayern hat einen Podcast über »aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus« ins Leben gerufen. Die Jungle World sprach mit Felix Balandat über das Projekt »Schiefheilungen«.

Braucht die Welt noch einen Podcast?

Es ist ja nicht irgendein Podcast, sondern einer zum Thema Antisemitismus. Dazu gibt es noch nicht so viele, und die mir bekannten Projekte waren nach ein paar Folgen abgeschlossen. Über Antisemitismus kann man natürlich unbegrenzt reden, doch ist es auch unser Anspruch, das so zu tun, dass Leute es auch interessant finden. Da wir als Rias hauptsächlich Vorfälle dokumentieren, Jahresberichte und Statistiken veröffentlichen, bietet so ein Podcast eine Chance, unsere Arbeit näher an die Menschen zu bringen, aber auch theoretisch mehr in die Tiefe zu gehen.

Und welche Aspekte des Themas wollt ihr ­behandeln?

Zum einen wollen wir uns mit thematisch angedocktem Antisemitismus beschäftigen, also mit Antisemitismus, der an aktuelle politische Geschehnisse anschließt oder diese als Input nimmt – die Stichworte lauten etwa: Krise, Corona, Israel und Krieg gegen die Ukraine. Wichtig ist uns, auch über aktuelle Geschehnisse zu reden, statt nur in die Vergangenheit zu schauen. Was passiert auf der Straße? Welche Herausforderungen bringt der Kampf gegen Antisemitismus mit sich? Was ist Antisemitismus eigentlich?

Was bedeutet der Begriff »Schiefheilungen«?

Schiefheilung ist ein Begriff aus der Psychoanalyse, genauer gesagt von Freud. Der Begriff versucht zu ­beschreiben, wie über den Antisemitismus versucht wird, individuelle Neurosen zu heilen, die wiederum einen gesellschaftlichen Hintergrund haben. Diese Heilung verläuft aber nicht im Sinne einer Gesundung, sondern »schief«. Im Grunde beschreibt der Begriff, dass der Antisemitismus ­einen Umgang mit ­gesellschaftlichen Verhältnissen darstellt und eine psychische Funktion für die Menschen ­erfüllt, die antisemitisch denken und fühlen. Es werden zum Beispiel unbewusste Ängste auf Jüdinnen und Juden projiziert. Diese Prozesse laufen nicht bewusst, sondern auf Umwegen. Zu der Thematik ­wollen wir noch eine eigene Folge machen, in der ein Psychoanalytiker sein Fachwissen beitragen kann.

Die Verbindung von Gesellschafts- und Psychoanalyse klingt stark nach Kritischer Theorie. Steht ihr mit eurem Antisemitismusbegriff in deren Tradition?

Ich glaube, man kann Antisemitismus nicht rein als ein psychisches, individuelles Problem erklären und auch nicht rein als gesellschaftliches, sondern muss beides zusammendenken. Also ja, es muss zum einen um eine Kritik der Gesellschaft gehen, und zum anderen um die Fragen, was das herrschende Bewusstsein ist und was die inneren Prozesse der Menschen sind, die so fühlen und so handeln. Da ist der Antisemitismusbegriff der Kritischen Theorie wichtig, aber nicht der einzige. Wir wollen uns der ganzen Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln nähern und sagen nicht, wir vertreten diese oder jene Schule.

Wollt ihr auch Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind, in euren Podcast mit einbeziehen?

Natürlich wollen wir auch Betroffenen Raum geben für ihre Erfahrungen: Jüdinnen und Juden, hauptsächlich aus Bayern, aber beispielsweise auch zivilgesellschaftliche oder politische Akteure, die Antisemitismus erleben müssen. Es wird aber kein Podcast sein, in dem wir nur Gäste interviewen. Der Fokus liegt auf unseren eigenen Erkenntnissen.