Kai Wegner (CDU) wird wohl Chef der neuen Berliner Landesregierung

Im Prinzip Diepgen

Der nächste Regierende Bürgermeister von Berlin wird wahrscheinlich Kai Wegner heißen. Der CDU-Politiker verfolgt eine simple Methode: Wer für nichts steht, bietet keine Angriffsfläche.

Noch könnte die Basis der Berliner SPD revoltieren, könnte sich beim geplanten Mitgliedervotum gegen Franziska Giffeys Pläne stellen, die Partei als Juniorpartner in eine Koalition mit der CDU zu führen. Aber weil sich Sozialdemokraten mit Aufständen aller Art bekanntlich schwertun, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die SPD das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin an die CDU abgeben wird. Deren zunächst von vielen nicht recht ernst genommener Kandidat Kai Wegner wäre erst der vierte Christdemokrat seit 1949, der die Stadt regieren darf.

Der erste, Walther Schreiber, kam nur durch den plötzlichen Tod Ernst Reuters (SPD) ins Amt und hatte gerade mal 14 Monate, bis die SPD im Dezember 1954 das Rathaus zurückeroberte, um es sich dann für ganze 27 Jahre darin gemütlich zu machen. Der zweite Konservative, Richard von Weizsäcker, regierte immerhin zweieinhalb Jahre, bis er 1984 ins Amt des Bundespräsidenten gerufen wurde.

Eberhard Diepgen war der am längsten amtierende Regierende Bürgermeister
Wer heutzutage allerdings, nach weiteren 22 Jahren SPD-Führung, in der Sozialdemokratie so etwas wie artgerechte Bodenhaltung für die Berliner zu erkennen glaubt, der übersieht die grandiose Erfolgsgeschichte des dritten Christdemokraten im Amt: Eberhard Diepgen. Als Nachfolger von Weizsäckers hatte der sich bei der Wahl 1985 erstaunlich klar behauptet, musste zwar 1989 für knapp zwei Jahre Walter Momper (SPD) Platz machen, gewann aber 1990 die ersten Gesamtberliner Wahlen und durfte anschließend weitere zehn Jahre die Regierungsgeschäfte führen. Mit seinen insgesamt 15 Jahren und fünf Monaten ist somit kein Sozialdemokrat, sondern Diepgen der am längsten amtierende Regierende Bürgermeister der Stadtgeschichte.

Als einzige politische Botschaft ist auf Kai Wegners Homepage zu lesen, dass er »Interessen verbinden und pragmatische Lösungen für alle entwickeln« möchte.

Wie hat der Kerl das geschafft? – Diese Frage hat sich Kai Wegner in Vorbereitung seiner Kandidatur anscheinend so oft gestellt, dass er inzwischen wie Diepgens Wiedergänger wirkt. Sicher, der Nimbus des Wunschschwiegersohns für die berühmt-berüchtigten Wilmersdorfer Witwen, der diesem stets anhaftete, geht Wegner eher ab. Aber da diese Zielgruppe inzwischen größtenteils ihren Nazi-Männern ins Grab gefolgt ist, spielt das keine Rolle. Die wichtigere Lehre des großen Vorgängers ist es, sich stets möglichst salomonisch und kantenlos, ja geradezu amorph zu präsentieren. Diepgen brachte das zu einer solchen Perfektion, dass er einer der wenigen historisch relevanten Politiker ist, dessen Wikipedia-Artikel keinen Abschnitt über »Politische Positionen« oder »Kontroversen« enthält.

Der Berliner Bankenskandal wurde Diepgens Fraktionsvorsitzendem Landowsky angelastet
Die Null-Toleranz-Politik gegen Hausbesetzer und andere Linke hatte Diepgen stets von Innensenatoren wie Heinrich Lummer, Dieter Heckelmann oder Jörg Schönbohm vertreten lassen, die weit rechts außen standen. So wurden sie zum Feindbild, nicht ihr Chef. Gleiches gilt für den sogenannten Berliner Bankenskandal. 2001 war eine landeseigene Bank pleite gegangen, was das Land Berlin Milliarden kostete. Diepgen verlor zwar seine Amt, der Skandal wurde in der Öffentlichkeit aber hauptsächlich seinem Fraktionsvorsitzenden Klaus-Rüdiger Landowsky angelastet.

Auch der gelernte Versicherungsvertreter Wegner präsentierte sich bislang konsequent reibungsarm. Seine ersten Jahre im Berliner Abgeordnetenhaus (1999–2005) verliefen ebenso konfliktfrei wie die anschließende Zeit als Bundestagsabgeordneter (2005–2021). Sein damaliges Abstimmungsverhalten bietet ebenso wenig Aufreger wie seine Bundestagsreden. Unauffälligkeit als Markenzeichen.

Diepgens erster Innensenator Heinrich Lummer gilt als früher Wegbereiter von Kai Wegners Karriere. Lummer war Ehrenvorsitzender eines vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Vereins und fiel wiederholt mit antisemitischen Äußerungen auf.

Natürlich findet man den einen oder anderen Makel, wenn man gründlich danach sucht, und weil Wegner in der CDU ist, gibt es auch Verbindungen, die ziemlich weit nach rechts führen. So gilt Diepgens erster Innensenator Heinrich Lummer als früher Wegbereiter von Wegners Karriere. Lummer war Ehrenvorsitzender eines vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Vereins und fiel wiederholt mit antisemitischen Äußerungen auf. Israel verweigerte ihm sogar die Einreise. Als Lummer 2019 starb, nannte Wegner ihn einen »großen und streitbaren Politiker«, dem er »viel zu verdanken« habe.

Auto- und Radfahrer, Mieter und Vermieter, Innenstadt und Außenbezirke, Yin und Yang
Auch bezeichnete Wegner Organisationen, die Flüchtlinge aus Seenot ­retten, 2019 als »Schlepperhelfer« und war zeitweilig Mitglied in einer Facebook-Gruppe, die im Zuge der Covid-19-Pandemie rechtsextreme Positionen verbreitete, auch wenn er sich dort nie aktiv beteiligte. Aber all das hat er ebenso hinter sich gelassen wie die Krawatte, die er im Bundestag immer trug, und den altmodischen Haarkranz um die Ohren. Mittlerweile trägt er das Resthaar stoppelkurz, zeigt sich gern hemdsärmelig und als liebevoller Papa einer Patchwork-Familie. Ein echter Großstädter, auch wenn er nicht im Wedding aufgewachsen ist wie Diepgen, sondern weit draußen in Spandau. Dafür punktet er mit seiner familiären Herkunft: Die Mutter war Einzelhandelskauffrau, der Vater Bauarbeiter. So was lieben die Berliner, und deshalb steht es auch ganz oben auf der Startseite seiner Homepage.

Darunter folgen Bilder, die ihn als lustigen Knirps, als Soldaten, mit Angela Merkel und – natürlich – Eberhard Diepgen zeigen. Streng nach dessen Erfolgsrezept gibt es als einzige politische Botschaft zu lesen, dass er »Interessen verbinden und pragmatische Lösungen für alle entwickeln« möchte – für Auto- und Radfahrer, Mieter und Vermieter, Innenstadt und Außenbezirke, Yin und Yang. Auch bei der Wahl des Koalitionspartners schickt er sich an, Diepgens Vorbild zu folgen. Der koalierte von 1990 bis 2001 mit der SPD. Mag sein, die Grünen wären zeitgemäßer gewesen, aber das kann ja durchaus noch kommen. Bleibt er dem Prinzip Diepgen treu, könnte er dafür noch viel Zeit haben.