Der Thüringer, der 1993 mit einem Messer Monica Seles angriff, hatte auch nationalistische Motive

»Steffi ist so wunderbar deutsch«

Vor 30 Jahren stach in Hamburg ein Fan von Steffi Graf bei einem Tennisturnier auf deren größte Konkurrentin Monica Seles ein. Ein Blick zurück in die frühen neunziger Jahre.

30. April 1993, Viertelfinale des Hamburger Turniers der Women’s Tennis Association. Es ist Spielpause im zweiten Satz. In der Arena Am Rothenbaum bewegt sich ein kleiner, leicht untersetzter deutscher Mann in Richtung der Weltranglistenersten Monica Seles. Ihr Sieg im Match gegen Magdalena Maleewa aus Bul­garien scheint nur eine Frage der Zeit. Monica Seles sitzt während einer Pause im Spiel auf einer Bank.

Der Mann heißt Günter Parche. Er trägt einen kleinen Beutel, in dem ein 22 Zentimeter langes Fleischmesser steckt, mit dem er der ungeschützten Monica Seles in den Rücken sticht. Die 19jährige springt schreiend auf, geht ein paar Schritte und bricht auf dem Tennisplatz zusammen. Polizisten und Zuschauer überwältigen den Angreifer.

Günter Parche kam mit Bewährung davon
Der Einstich ist mit rund zwei Zentimetern glücklicherweise nicht sehr tief. Ein halbes Jahr später vor Gericht wird diese verhältnismäßig leichte Verletzung dazu führen, dass Parche mit einer Bewährungsstrafe davonkommt. Er konnte glaubhaft vermitteln, dass er Seles nur so verletzen wollte, dass ihre Tenniskarriere unterbrochen und »seine geliebte Steffi« wieder die Nummer eins im Frauentennis wird.

So kam es letztlich auch. Nach der Attacke konnte Seles nicht mehr an ihre alten Leistungen anknüpfen. Parches Angaben decken sich mit den Ermittlungen der Polizei. Er hätte Monica Seles problemlos viel schwerer, sogar tödlich verletzen können, habe es aber nicht getan, sagte ein Polizeisprecher in einer Fernsehdokumentation des Norddeutschen Rundfunks (NDR) über die Tat. In derselben Doku sagte der frühere Tennisreporter der ARD, Hans-Jürgen Pohmann, so etwas sei nie zuvor passiert – zumindest nicht im Tennissport.

Grunting (Grunzen) ist seitdem immer wieder Thema im Tennis, genauer gesagt im Frauentennis. Die geschlechtliche Dimension ist unübersehbar, da es bei männlichen Spielern als aggressiv gilt, bei Frauen hingegen mit Sex assoziiert wird.

Die Tat wirft auch ein Licht auf die frühen Jahre des gerade wiedervereinigten Deutschland. Die Hamburger Tennisanlage Am Rothenbaum liegt dort, wo Tennisfreunde auch soziographisch vermutet werden dürfen: im Stadtteil Rotherbaum, wo Steuerpflichtige nach Angaben des Hamburger Statistikamts das Doppelte des durchschnittliche Hamburger Einkommens verdienen. Über die Straße, im direkt angrenzenden Harvestehude, ist es etwa dreimal so viel wie der Hamburger Gesamtdurchschnitt.
Ab den späten achtziger Jahren wird Tennis durch die Erfolge von Boris Becker, Michael Stich und Steffi Graf in Deutschland immens populär – und durch das Fernsehen zum Zuschauersport.

Das Viertelfinale zwischen Seles und Maleewa schauten 10 000 Menschen an Ort und Stelle an. Das ist mehr als der damalige Zuschauerschnitt fast aller Zweitligisten beim Fußball der Männer in der Saison 1992/1993.

Obwohl Steffi Graf 1999 ihre Karriere beendete und seitdem recht wenig in der Öffentlichkeit zu sehen ist – anders als beispielsweise Boris Becker – dürfte sie nach wie vor die bekannteste Sportlerin in Deutschland sein.

Die unbesiegbare Volksheldin
Grafs Status als unbesiegbare Volksheldin erreichte die DDR und damit auch Görsbach im Landkreis Nordhausen in Thüringen. Hier wohnte Attentäter Parche seit 30 Jahren bei seiner Tante, seine Mutter hatte ihn weggegeben. Er war ein Eigenbrötler und arbeitete als Dreher in einem Motorenwerk. In einer Fernsehaufnahme aus den Neunzigern erzählte ein ehemaliger Vorgesetzter einem Journalisten, dass Parche nie durch Widerrede aufgefallen sei: »der hat sich führen und leiten lassen, war niemals böswillig, hat keine Widerrede gehabt, im Gegenteil, was man ihm gesagt hat, das hat er gemacht.«

Vor Gericht schwärmte Parche über Steffi Graf: »Sie hat Augen wie Diamanten und Haare wie Seide. Der Himmel hat sie uns geschickt.« Ein Gerichtspsychiater beschrieb in einer NDR-Dokumentation das Lebensumfeld Parches als »Ein-Mann-Sekte«; er projiziere alles, »was er an Wünschen hat«, auf »diesen Fernsehstar«. Parche schrieb Graf auch Briefe und schickte der Millionärin Geld. Unterschrieben waren die Briefe mit »Ein Fan aus Thüringen«.

»Ein Fan aus Thüringen« ist auch der Name eines 2022 aufgeführten Theaterstücks, das der junge Theaterregisseur Demjan Duran in Berlin inszeniert hat. Als »abseitiges Heldentum« beschrieb Gerichtspsychiater Hans-Ludwig Kröber im Prozess 1995 die Tat, weil Parche wusste, dass er dafür strafrechtlich verfolgt werden würde. Er habe sich für seine Steffi geopfert, so der Psychiater. Tatsächlich verhalf Parche Graf damit wieder auf den Tennisthron. Und er stoppte die sportliche Rivalität zwischen Seles mit Graf, die drei Jahre vorher begonnen hatte und seine Steffi schlecht aussehen ließ.

Bis zum 20. Juli 1990 beim Frauentennisturnier in Berlin schien Graf mit 66 Siegen in Folge quasi unbesiegbar. In diesem Traumfinale trat die Weltranglistenerste Steffi Graf gegen die Weltranglistendritte Monica Seles an. Diese, damals erst 16 Jahre alt, gewann.

Zwei Wochen später gelang Seles die Wiederholung dieses Triumphs bei den Paris Open, einem der vier Grand-Slam-Turniere, ebenfalls im Finale. Sie ist bis heute die jüngste Gewinnerin des bedeutenden Turniers. In den nächsten drei Jahren baute Monica Seles ihre Dominanz aus. Das lag vor allem an ihrer Spielweise. Sie schlug beidhändig Vor- und Rückhand, was ihr Spiel kraftvoll und unberechenbar machte. Dazu kam ein lautes Stöhnen beim Schlagen des Balls, das ihr Markenzeichen wurde, die konservative Tennis­welt verunsicherte und die Boulevardblätter erfreute.

Seles gehörte einer ungarischen Minderheit an
Grunting (Grunzen) ist seitdem immer wieder Thema im Tennis, genauer gesagt im Frauentennis. Die geschlechtliche Dimension ist unübersehbar, da es bei männlichen Spielern als aggressiv gilt, bei Frauen hingegen mit Sex assoziiert wird. Was Boris Becker dazu brachte, im Jahr 2015 ein »Stöhnverbot« zu fordern: »Das hat ja auch etwas Sexuelles, und man fragt sich: Das muss doch die Stimmbänder reizen und kann nicht gesund sein.« Michael Stich hatte bereits 2009 kommentiert, grunting sei »widerlich, hässlich und unsexy«. Einige Sportsoziologen sehen im Stöhnen und Ächzen ein Anzeichen, wie sich Tennis vom Sport der Oberschicht, der mit einer gewissen Vornehmheit, Zurückhaltung und ohne Erfolgsdruck ausgeübt wurde, zum leistungsorientierten Sport der aufstrebenden Mittelklasse entwickelt hat.

Bemerkenswert ist an Monica Seles außerdem, dass sie in ihrer aktiven Zeit in den Medien als Jugoslawin wahrgenommen wurde, obwohl Ju­goslawien in dieser Zeit immer weiter zerfiel. Duran sagte der Jungle World hierzu: »Seles hatte in ihren Aussagen und Interviews nie politisch Stellung bezogen. Sie gehörte einer ungarischen Minderheit an und war in Jugoslawien geboren und als Jugoslawin wurde sie gesehen. Andere Sportlerinnen haben sich damals eindeutig als Kroatin oder Serbin betitelt, um ein klares Statement zu setzen.«

Vor Gericht schwärmt Parche über Steffi Graf: »Sie hat Augen wie Diamanten und Haare wie Seide. Der Himmel hat sie uns geschickt.«

Duran verwies auf einen weiteren Aspekt des Attentats. Die Tat sei nicht nur individuelle Verrücktheit, vielmehr müsse auch ein nationalistisches Motiv mitgedacht werden. Er belegte dies mit einem Auszug aus dem Geständnis des Täters. »Dann verlor Steffi Graf 1990 die German Open in Berlin gegen Monica Seles. Damals brach eine ganze Welt für mich zusammen«, hatte Parche ausgesagt. Er habe den Gedanken nicht ertragen können, dass irgendjemand Steffi Graf schlagen könnte. »Obwohl sie immer noch die Nummer eins auf der Weltrangliste war, erschütterte mich dieses Ereignis so sehr, dass ich daran dachte, mir das Leben zu nehmen.«

Na­tionalistisches Anspruchs- und Herrschaftsdenken
Das Schlimmste für ihn sei die Tatsache gewesen, dass sie ihr Spiel in Berlin verloren habe. »Sie hatte anderswo schon mehrmals Turniere verloren. Aber diesmal war es in Deutschland, und, was noch schlimmer war, in Gegenwart unseres Bundespräsidenten. Das alles war zu viel für mich.« Duran führte weiter aus, dass auch in Parches Brief immer mal wieder Sätze fielen wie: »Steffi ist so wunderbar deutsch.« Das sei jedoch nie eingehend the­matisiert worden, »weder medial noch vor Gericht«, so der Theaterregisseur.

Tatsächlich sollten immer gesellschaftliche Stimmungen bei der Frage nach den Motiven mitreflektiert werden, wenn Täter mit »schwerer Persönlichkeitsstörung«, wie ein Gutachter Parche diagnostizierte, gewalttätige Handlungen planvoll umsetzen gegen Menschen, die ihnen persönlich nichts getan haben. Na­tionalistisches Anspruchs- und Herrschaftsdenken, das sich ein knappes halbes Jahr vorher beim Pogrom in Rostock-Lichtenhagen und in dieser Zeit an vielen anderen Orten entlud, kann durchaus dazu beigetragen haben, die Tennisweltrangliste mit dem Messer zu verändern. »Hätten Sie Frau Seles auch verletzt, wenn sie eine Deutsche gewesen wäre?« fragte die Richterin Parche damals, der dazu lieber schwieg.

Im August ist Parche im Alter von 68 Jahren verstorben. Die letzten 14 Jahre lebte er in einem Pflegeheim im thüringischen Nordhausen.