Veysel Ok, Rechtsanwalt in Istanbul, im Gespräch über den Wahlausgang in der Türkei

»Die Opposition hat keinen guten Job gemacht«

Interview Von Leonie Schmitt

Die Präsidentschaftswahl in der Türkei hat keinen eindeutigen Gewinner ergeben, eine Stichwahl zwischen dem langjährigen Präsidenten Erdoğan und seinem Herausforderer Kılıçdaroğlu ist nötig. Der Menschen­rechts­anwalt Veysel Ok beklagt Fehler bei den oppositionsnahen Medien.

Die Türkei fiebert der Stichwahl am 28. Mai entgegen. Was ist bis dahin zu erwarten?
Es wird noch mehr Hass geschürt werden, gegen Kurd:innen, Syrer:innen, LGBT, Frauen, gegen alle entrechteten Gruppen im Land. Und damit verbunden wird es Verhaftungen, Angriffe, Gewalt auf der Straße geben.

Wie blicken Sie auf das Wahlergebnis der ersten Runde?
Ich bin nicht schockiert, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) im ersten Wahlgang vor seinem wichtigsten Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) liegt. Ich hatte auch nicht viel Hoffnung, dass Kılıçdaroğlu gewinnen würde. Überrascht hat mich aber, dass oppo­si­tionelle Parteien wie die CHP und die YSP so schlecht abgeschnitten haben. Ins Parlament zieht jetzt eine Mehrheit aus rassistischen und islamistischen Parteien ein. Bei der ultrana­tionalis­tisch­en MHP hätte ich erwartet, dass sie fünf Prozent bekommt, nicht zehn. Auch dass eine Partei wie die islamistische Yeniden Refah Partisi fünf Sitze erobern konnte, wundert mich. Sie tut nichts anderes, als Hass gegen LGBT anzustacheln.

Ein Mitglied des linken Bündnisses YSP, mit dem ich am Wahlabend sprach, wiederholte mehrmals, die Opposition habe gewonnen, niemand solle die veröffentlichten Zahlen glauben.
Es geht hier nicht ums Glauben. Den gesamten Wahlabend über hatten oppositionsnahe Medien berichtetet, Kılıç­daroğlu habe 49 Prozent und Erdoğan nur 45 Prozent. Aber wo waren die Belege dafür? Nach einigen Stunden hat dann selbst die CHP eingesehen, dass sie verloren hat.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı behauptete anfangs, Erdoğan habe 70 Prozent der Stimmen erhalten und Kılıçdaroğlu nur 30. Das klingt nicht seriöser.
Anfangs schon, später sank Erdoğans Prozentzahl dort. Und im Laufe des Abends näherten sich die Zahlen von Anadolu und der unabhängigen Nachrichtenagentur Anka Haber Ajansı immer weiter an. Anka war bisher alles andere als auf der Seite Erdoğans, im Gegenteil, es heißt, ihr Besitzer sei Mitglied der CHP. (Anm. d. Red.: Seine Rolle innerhalb der Agentur ist unklar, nach der Wahl wurde die Intransparenz kritisiert.)

Veysel Ok gründete die Nichtregierungsorganisation Media and Law Studies Association (MLSA), die Schrift­steller:in­nen und Medienschaffende pro bono rechtlich unterstützt, die Einschüchterung, Verleumdungskampagnen oder Zensur ausgesetzt waren. Er hat inzwischen mehr als 100 Personen verteidigt, die von der türkischen Regierung verfolgt wurden, darunter den Schriftsteller Ahmet Altan und den Journalisten und Mitherausgeber der »Jungle World«, Deniz Yücel, nachdem dieser 2017 in der Türkei verhaftet worden war.

Die Agenturen berichten je nach Parteilinie, die Hinweise auf Manipulationen mehren sich und der Hohe Wahlrat steht unter dem Einfluss Erdoğans. Dennoch haben inzwischen alle Seiten das Ergebnis akzeptiert. Heißt das denn, dass es stimmt?
Vielleicht stimmen die Manipulationsvorwürfe der Opposition aus der Wahlnacht, aber sie hat sie bislang nicht belegt. Natürlich ist Wahlbetrug möglich, vor allem in kleineren Ortschaften. Dafür wurden plausible Vermutungen vorgetragen, aber keine der Parteien hat von umfassender Wahlfälschung gesprochen. Erdoğan hat mehr Stimmen als Kılıçdaroğlu erhalten – so traurig das ist.

Bei dieser Wahl war es besonders schwierig, an verlässliche Informationen zu kommen.
Weder die Presseabteilungen der Opposition noch die Medien, die ihr nahestehen, haben gute Arbeit geleistet. Letztere übernehmen die Zahlen einfach von den Parteien. Beim Fernsehsender Halk TV saßen sie am Wahl­abend zu viert mit ihren Smartphones im Studio und haben Beiträge von Twitter vorgelesen. Das ist doch kein Journalismus.

Viele der CHP-Anhängerinnen haben wohl mit einem Erdrutschsieg Kılıçdaroğlus gerechnet. Wieso wurden sie so überrascht?
Weil sie nichts anderes hören wollten. Emin Çapa, ein Journalist von Halk TV, hatte am frühen Abend die Prognose ausgesprochen, dass es zu einer Stichwahl kommen könnte. Sie glauben gar nicht, wie das oppositionelle Lager über ihn hergefallen ist. »Wie kannst du das nur sagen!« warf man ihm an den Kopf. Oppositionelle Journalisten haben Angst vor ihrem eigenen Publikum! Es macht mich nur noch wütend. Die Berichterstattung in der Wahlnacht war auch deshalb so katastrophal, weil diese Medien sich nicht getraut haben zu sagen, dass Kılıçdar­oğlu verloren hat. Anka schickt nicht einmal eigene Reporter los und übernimmt sogar Inhalte der staatlichen Agentur Anadolu.

Wie hätte es besser laufen können?
Seit einem Jahr rede ich mir den Mund fusselig, dass die Opposition in der Türkei eine richtige Nachrichtenagentur gründen soll. Aber das hat sie nicht getan. Und das ist nicht Erdoğans Schuld, sondern die der Opposition. Das waren doch nicht unsere ersten Wahlen. Es ist bekannt, wie die Anadolu Ajansı vorgeht und dass fast alle Medien regierungsfreundlich berichten. In der Türkei gibt es nun wirklich genug arbeitslose Journalist:innen, die könnten doch eine Nachrichtenagentur eröffnen – wenigstens für einen Monat (lacht). Die CHP hat genug Geld. Sie stellt in mehreren Großstädten die Bürgermeister:innen. Als zweitgrößte Partei im Land erhält sie sogar staatliche Förderung.

»Wer Demokratie in der Türkei will, muss über die kurdische Frage sprechen.«

Und auch ein Fernsehsender ist nötig. Erdoğan war auf 25 Sendern gleichzeitig live zu sehen. Wenn Kılıçdaroğlu sprach, zeigten das immer nur ein paar kleine Sender. Natürlich gibt es Medien, die gute Arbeit leisten so wie Artı TV. Aber die sind alle viel zu klein. Derzeit haben die Menschen gar keine Chance, sich richtig zu informieren.

Als Anwalt unterstützen Sie seit Jahren Medienschaffende, die in der Türkei verfolgt werden. Sind Sie von Ihrer eigenen Klientel enttäuscht?
Auf jeden Fall. Wer hat diese Wahl denn wirklich verloren? Der Journalismus! Verloren haben auch die Nutzer:innen der sozialen Medien. Dort hieß es seit einem Jahr, Erdoğan werde gehen. Aber die Türkei ist mehr als Twitter. In Anatolien nutzt das kein Mensch (lacht). Ich bin von allen Mainstream-Medien enttäuscht. In den letzten Wochen gab es mehr als 100 Verhaftungen in den kurdischen Gebieten und wer hat darüber berichtet? Fast niemand, auch international nicht.

Haben Sie angesichts der Verfolgung der kritischen Presse auch Verständnis für Fehler? Steht man nicht immer mit einem Bein im Gefängnis, wenn man über umstrittene Themen wie die Korruption in der AKP oder über die Kurden berichtet?
Nein, da habe ich kein Verständnis. Wer Demokratie in der Türkei will, muss über die kurdische Frage sprechen. Man kommt dann nicht auto­matisch ins Gefängnis. Aber umgekehrt sind die Kurd:innen immer als erstes dran, und was sie mit denen machen, machen sie später mit den anderen. Das haben wir nach dem Putschversuch von 2016 gesehen, als plötzlich auch Mainstream-Journalisten, Akademikerinnen oder Künstler zur Zielscheibe staatlicher Verfolgung wurden. Ich verlange von niemandem, unnötige Risiken einzugehen, aber ich verlange ­Solidarität.

Wer wird die zweite Runde ge­winnen?
Ich bin nicht sicher, aber Erdoğan ist stark und hat die Mehrheit im Parlament. Er wird den Menschen sagen, dass es zu einer Krise kommen wird, wenn sie jemand anderen als ihn wählen, mit ihm werde es Stabilität geben. Das ist gute PR. Aber in der Türkei ist alles möglich, alles kann sich ändern. Ich bin immer optimistisch.

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?
Es ist ein Fehler, immer nur gegen ­etwas zu kämpfen. Das einzige Thema, das die Opposition eint, ist ihr Anti-Erdoğanismus. Die Wahl hat gezeigt, dass das nicht reicht. Selbst wenn Erdoğan die zweite Runde gewinnt, wird es nicht mehr so leicht für ihn sein, die Türkei zu regieren – wegen der Wirtschaftskrise, der kurdischen Frage. Die Menschen in der Türkei wollen Lösungen, sie wollen Frieden. Das müssen die Parteien anbieten. Aber auch bei der Opposition gibt es Rassismus. Die Türkei kann sich verändern, nur brauchen wir dafür gute Poli­ti­ker:in­nen und gute Medien.

Außerdem bin ich in den neunziger Jahren in Diyarbakır im kurdischen Südosten aufgewachsen. Meine Kindheit war geprägt von der kurdisch-is­lamistischen Hizbullah (im Jahr 2000 zerschlagene gewalttätige sunnitische Organisation, die sich dennoch am Iran orientierte; Anm. d. Red.) und einer Polizei, die auf der Straße Leute angegriffen und getötet hat. Wir haben die neunziger Jahre in Kurdistan überstanden, also werden wir auch die jetzige Zeit überstehen.


INFO - Knapper Wahlausgang:
Beim ersten Wahlgang der türkischen Präsidentschaftswahl am 14. Mai verfehlte Präsident Recep Tayyip Erdoğan von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) die absolute Mehrheit und erhielt 49,5 Prozent der Stimmen, sein Herausforderer und Vorsitzender der bürgerlich-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, lag mit 44,9 Prozent knapp dahinter. Auf dem dritten Platz landete Sinan Oğan von der ultranationalistischen Ata-Allianz mit rund 5,2 Prozent. Gleichzeitig wurden bei der Parlamentswahl die rund 600 Mitglieder der Großen Nationalversammlung bestimmt. Die AKP erhielt 35,6 Prozent, die CHP 25,3 Prozent, die prokurdische, linke Yeşil Sol Parti (YSP) 8,8 Prozent.
Hochrechnungen unabhängiger Umfrageinstitute gibt es in der Türkei nicht. Jede Partei schickt ihre Leute in die Wahllokale und führt eigene Zählungen durch. Rund 192 000 Wahlurnen wurden aufgestellt, Hunderttausende Beobachter von Regierung und Opposition waren im Einsatz. Die Parteien übermitteln ihre Zahlen an die Agentur, die ihnen politisch nahesteht, die diese direkt veröffentlicht.
mh